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Dienstag, 28. Oktober 2025

Kluge statt kritische Köpfe – oder: das Ende des Michael-Althen-Preises bei der Frankfurter Allgemeinen

Wie lange währt eine Ehrung? Wie viel Zeit verdient ein Angedenken? Wie lange dauert es, bis man in Vergessenheit gerät? Und wie bedeutsam bleibt man als herausragender Kritiker für die Nachwelt? Kann Kritik über den Erscheinungstag hinaus von Belang sein? Und für wen? Bleibt die veröffentlichte Kritik im kollektiven Gedächtnis, das besprochene Werk, die die Kritik formulierende Person? Oder bilden sie ein Amalgam? 
 
„In vielen deutschen Feuilletons wird der Platz für Film- oder Theaterkritik sukzessive zusammengestrichen. Zu wenig Leser, zu wenig Klicks, zu kompliziert in der Wahrnehmung.Um so wichtiger ist es, dass wir uns einmal mehr daran erinnern, was Kritik eigentlich zu leisten vermag. Für uns als Künstler. Aber prototypisch auch für unsere Gesellschaft an sich. 

Kritik im Sinne eines Michael Althen, der zweifelsohne einer der Genauesten und zugleich einer der liebevoll Subjektivsten seiner Zunft war – und dabei immer ein unermüdlich Suchender. Natürlich ist dabei Kritik nicht gleich Kritik. Denn unter all denen, die kritisieren, gibt es die, die herausstechen. Weil sie nicht nur urteilen, sondern sich einlassen. Weil sie nicht nur kalt beschreiben, sondern dabei sich selbst, ihre Haltung, ihr Denken, ihr Fühlen, zur Verfügung stellen. Weil sie neugierig sind. Weil sie nicht nur werten, sondern suchen. 

Kritik, die sich auf diese Weise einlässt, kann treffen. Sie kann verletzen, sie kann Grenzen überschreiten, und sie kann verstören. Aber sie kann auch stärken, und sie kann überraschen. Und sie kann etwas bewegen. Ich höre sie, und ich nehme sie ernst. Denn sie kann Räume öffnen, die wiederum den künstlerischen Prozess verändern. Räume, in denen eine Diskussion geführt werden kann, eine Debatte. Solche Kritik kann beglücken. Und so kommt es vor, dass ich etwas lese und dabei denke: Möge es doch immer so sein.Und dann hebe ich den Blick und stelle fest: Ist es natürlich nicht immer. Immer seltener in der journalistischen Beschreibung von Kultur, eher immer seltener im Diskurs des Feuilletons. Aber auch immer weniger – so muss man hinzufügen – in der gesellschaftlichen Diskussion.“

Diese Suada, mit der Nico Hofmann vor zwei Jahren beim Michael-Althen-Preis für Kritik die Siegerin Samira El Ouassil feierte, kommt einem nun im Nachhinein wie ein Abgesang vor. Denn der Michael-Althen-Preis, der längst seine eigene Tradition geschaffen hatte, ist plötzlich Geschichte. Zu wenig Resonanz, zu wenig Klicks? Jedenfalls löst ihn der neu geschaffene Feuilleton-Preis der Frankfurter Allgemeinen ab, der gestern Abend zum ersten Mal verliehen wurde.

Und es könnte ausgerechnet der Filmproduzent Nico Hofmann gewesen sein, der daran Schuld trägt. Nico Hofmann, der nicht nur vorletztes Jahr eine Laudatio gehalten hat, sondern den Preis stets „großzügig unterstützt“ hat, wie ein Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen“, Jürgen Kaube (Foto), gestern betonte. Angeblich wollte Hofmann dem immerhin seit 2012 nahezu jährlich verliehenen Althen-Preis überdenken, ihm einen größeren Rahmen verleihen. Die Leute vom Film würden bei Preisen immer gleich an die Oscar-Verleihung denken, von einer Fernsehübertragung träumen, hieß es gestern am Rande der Veranstaltung. Und es war wie die Geschichte vom Zauberlehrling: Am Ende löste möglicherweise gerade Hofmanns guter Wille eine unaufhaltsame Dynamik aus und killte die traditionsreiche Auszeichnung. Denn den Michael-Althen-Preis für Kritik gibt es nicht mehr. 

Es sei Zeit für etwas anderes, modernes gewesen, betonte Kaube in seiner Begrüßungsrede. Heraus kam ein Feuilleton-Preis der Frankfurter Allgemeinen, der laut Einladung „weiterhin in Erinnerung an Michael Althen vergeben“ wird. Auch Nico Hofmann und das Deutsche Theater Berlin sind als Partner weiterhin mit an Bord. Ist also etwa nur Raider in Twix umbenannt worden, und alles bleibt beim Alten?

Keineswegs. Auch die Zutaten haben sich geändert. Die „Frankfurter Allgemeine“ beschönigt es als „Zuschnittsänderung“. Doch statt wie bisher die journalistische Praxis, sprich: die beste im Zeitraum eines Jahres bereits veröffentlichte Kritik auszuzeichnen, schreibt man nunmehr eine Art Aufsatzwettbewerb aus. So wie man es sonst eher von kommunalen Einrichtungen, Sparkassen oder Lokalblättern kennt.

„Dieses Verfahren hat einen Vorteil: Es können sich auch Personen beteiligen, die nicht von Berufs wegen Kritiker, Journalisten oder Professoren sind. Leute, die nicht den ganzen Tag Essays schreiben, sondern anderen Tätigkeiten nachgehen“, betonte Kaube, als ob ausgerechnet die „Frankfurter Allgemeine“ jetzt die Graswurzelbewegung für sich entdeckt hätte.

„Wie viel Zeit braucht die Kunst?“ lautete heuer die jährlich wechselnde Preisfrage und mehr als 200 kluge Köpfe lieferten aus ihrem stillen Kämmerlein auf Verdacht einen Text dazu, bis zu 17.000 Zeichen lang, in der Hoffnung, die 10.000 Euro Preisgeld abzugreifen. „Es wurden Essays eingesendet, Reportagen, Erzählungen und Gedichte.“ Sieben schafften es auf die Shortlist: der Schweizer Schriftsteller Ralph Dutli, die Bamberger Lyrikerin Nora Gomringer, der Fernsehkritiker und Dokumentarfilmer Torsten Körner, der Germanist Bernhard Malkmus, der Berliner Dramatiker Moritz Rinke, die Künstlerin Natalia Roman und der Frankfurter Marketingberater Klaus Rössler. Letzterer gewann denn auch mit seinem Text „Digitale Ruinen - Wie verlassene Pixel die Zeit bezeugen“.

Und statt dass wie bisher die sonst von der Kritik immer Beurteilten, Künstler*innen wie Claudia Michelsen, Anne Berest, Dominik Graf, Hanns Zischler, Tom Tykwer oder Fabian Hinrichs die Preisjury bilden, eben einmal im Jahr den Spieß umdrehen und ihrerseits die Arbeit von Journalist*innen beurteilen, küren nun beim Feuilleton-Preis ausschließlich die „FAZ“-Feuilletonist*innen Sandra Kegel, Niklas Maak, Simon Strauß und Jürgen Kaube den Siegerbeitrag.

Die früheren Jurymitglieder fehlten bei der Premiere des neuen Preises gestern Abend im Deutschen Theater Berlin ebenso wie Claudius Seidl, den Kaube bei seiner Rede als langjährigen Organisator des Michael-Althen Preises für Kritik hervorhob. Selbst eingeladene Gäste wie der Filmproduzent und Filmfunktionär Alfred Holighaus oder der Regisseur Jan Schmidt-Garré, die zugesagt hatten, waren nicht erschienen. Und auch der frisch aus dem Urlaub zurückgekehrte Nico Hofmann glänzte durch Abwesenheit und schickte nur eine Vertretung.

Die „Frankfurter Allgemeine“ blieb bei der Feier sehr unter sich. Dabei war es für die Redaktion dreizehn Jahre lang signifikant gewesen, sich selbst beim Michael-Althen-Preis großzügig zurückzunehmen. Nicht etwa nur bei der Jury, sondern auch, indem man Jahr für Jahr Arbeiten auszeichnete, die nahezu immer von anderen Medien veröffentlicht worden waren: Etwa Sarah Khan und „Cargo“. Willi Winkler und die „Süddeutsche Zeitung“. Hans Hütt und sein Blog „anlasslos“. Rupprecht Podszun und „Nachtkritik“. Kia Vahland und wiederum die „Süddeutsche Zeitung“. Adam Soboczynski und „Die Zeit“. Samira El Ouassil und „Übermedien“.
  
War es das also mit der fortlebenden Erinnerung an den 2011 verstorbenen Michael Althen? Freunde und Familie könnten den Wettbewerb in veränderter Konstellation unter dem Namen Michael-Althen-Preis für Kritik fortführen. Bei der „Frankfurter Allgemeinen“ hätte man laut der Pressestelle nichts dagegen: „Wir freuen uns, wenn der ehemalige F.A.Z.-Filmkritiker über den ihm gewidmeten Feuilleton-Preis der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hinaus in Erinnerung behalten wird.“

Donnerstag, 23. November 2023

Agora (9): Nico Hofmann über Kritiker*innen

Am 21. November 2023 ist Samira El Ouassil für ihren Essay „Wie ich lernte, Barbie (nicht) zu lieben“ mit dem Michael-Althen-Preis für Kritik ausgezeichnet worden. Anläßlich der Preisverleihung im Deutschen Theater Berlin hielt der Filmproduzent und Regisseur Nico Hofmann eine „Suada“ über Filmkritiker*innen, um El Ouassil zu zitieren. Den Text hat Hofmann gemeinsam mit Thomas Laue entwickelt. (Mein Twitter-Thread von der Preisverleihung.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
lieber Claudius Seidl, liebe Familie Althen, 
liebe Jury, 
und natürlich liebe Preisträgerin: liebe Samira El Ouassil! 

Heute hier sprechen zu dürfen, bedeutet mir viel, und ich möchte Dir, lieber Claudius, sehr für diese Einladung danken. Zum einen, weil ich mich Michael Althen, dessen Namen der Preis trägt, sehr verbunden fühle. Ich weiß, wie schwer es ist, die Vergabe eines solchen Preises über so einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Man kann Engagement und Leidenschaft gar nicht stark genug würdigen. 

Zum anderen ist das, wofür dieser Preis und sein Namensgeber stehen, heute vielleicht so wichtig wie selten zuvor. 

Die Art von Kritik, für die wir Michael Althen bewundert und verehrt haben, und die bis über seinen viel zu frühen Tod hinauswirkt, war immer kostbar, und sie ist es heute mehr denn je:

Nicht selten beschränkt sich die öffentliche Beschreibung von Kunst – welcher Form auch immer – derzeit auf ein schnelles Urteil, eine plakative Meinung oder im schlimmsten Fall eine schlechtgelaunte, pointierte Vernichtung. Die Fähigkeit und auch die Geduld und der Mut zu einer neugierigen und dabei spürbar persönlichen Auseinandersetzung mit dem Gesehenen, zu einer nicht nur analytischen, sondern auch emotional klugen Befragung sind beängstigend rar geworden.

Und auch auf die Gefahr hin, mich hier dem Verdacht eines Kulturpessimismus auszusetzen, möchte ich hinzufügen: Möglicherweise ist diese Art kritischer Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur zurzeit auch nicht unbedingt überall so besonders gefragt.

In vielen deutschen Feuilletons wird der Platz für Film- oder Theaterkritik sukzessive zusammengestrichen. Zu wenig Leser, zu wenig Klicks, zu kompliziert in der Wahrnehmung.
Aber auch bei vielen Kunstschaffenden hat die Kritik derzeit einen schlechten Ruf. Man muss nicht unbedingt den vielzitierten Satz einer Hamburger Theaterintendantin heraufbeschwören, die Kritik sei „die Scheiße am Ärmel der Kunst“, um festzustellen, dass es mit dem Verhältnis zwischen Kreativen und ihren Rezensenten nicht zum Besten steht.

Um so wichtiger ist es, dass wir uns einmal mehr daran erinnern, was Kritik eigentlich zu leisten vermag. Für uns als Künstler. Aber prototypisch auch für unsere Gesellschaft an sich. Kritik im Sinne eines Michael Althen, der zweifelsohne einer der Genauesten und zugleich einer der liebevoll Subjektivsten seiner Zunft war – und dabei immer ein unermüdlich Suchender.

Ich bin Filmemacher und Produzent, meine Profession ist es seit nun fast vierzig Jahren, Geschichten in Worten und in Bildern zu erzählen, und dafür Figuren zu erschaffen, Schicksale abzubilden, Welten zu erfinden. Von der Idee für einen Film bis zu dem Moment, wo er in die Kinos kommt oder im Fernsehen zu sehen ist, vergehen viele viele Jahre.

Film ist seinem Wesen nach ein deutlich weniger schnelllebiges Geschäft, als man gemeinhin denkt. Es braucht viel Zeit und noch viel mehr Arbeit bis aus einer Idee ein Drehbuch entsteht. Es ist ein aufregender aber eben oft auch ein unendlich mühsamer Weg voller Hürden, Zweifel und Unwägbarkeiten – in jeder einzelnen Etappe ist man als Filmemacher dem Scheitern meist deutlich näher als dem ersehnten Erfolg.

Auch wenn an diesem Prozess auf einer langen Wegstrecke hunderte von Menschen beteiligt sind, bleiben der kreative Prozess und das, was wir am Ende so geheimnisvoll das „Filmemachen“ nennen, im Kern ein sehr intimer Prozess.
Ich selbst gehe dabei trotz jahrzehntelanger Erfahrung immer wieder durch alle Höhen und Tiefen sämtlicher emotionaler Zustände.

Euphorie und Leidenschaft liegen dabei oft ganz nah bei Verzweiflung und Depression, Schaffensmanie und Sendungsbewusstsein unmittelbar neben Angst und Ratlosigkeit, und nicht selten schlägt auch der unumstößliche Entschluss zur bedingungslosen Kapitulation in kürzester Zeit um in Paranoia und Größenwahn.

Wahrscheinlich braucht es in einem kreativen Prozess ein bisschen von all dem, damit am Ende der Film entsteht, den man machen will. Denn natürlich – wie könnte es anders sein – ist ein Film NIE fertig. NIE so, dass er aus der Sicht derer, die ihn machen, nicht noch ein bisschen besser sein könnte.
Mir selbst wird diese Vergeblichkeit des Strebens nach Perfektion jedes Mal wieder neu bewusst, wenn einer meiner Filme Premiere hat, wenn ein Saal voller bis dahin gänzlich Unbeteiligter meinen Film sieht. Oder schlimmer noch, wenn – für mich unsichtbar – Millionen Zuschauer zuhause den Fernseher einschalten.

Ich erlebe dann den ganzen langen Schaffensprozess noch einmal. Denn auch ich sehe nun meinen eigenen Film mit den Augen des Publikums – neu.

Und plötzlich fallen mir all die Stellen auf, die ich anders hätte schneiden müssen, die Wendungen, die wir so viel besser hätten erzählen können, oder im schlimmsten Fall die Bedeutungsebenen, die ich nicht gesehen habe, aber die doch so wichtig gewesen wären.

Es ist ein oft schmerzhafter aber auch ein befreiender Moment. Denn bei all der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit und des Zweifels, sehe ich noch etwas: Ich sehe, wieviel von all den Menschen, die diesen Film gemeinsam geschaffen haben, in ihm steckt. Wie viele Gedanken, wieviel Haltung, wieviel Leidenschaft – ein Stück von der Seele all derer, die daran beteiligt waren.

Und ich sehe, warum wir diesen Film gemacht haben: Weil wir etwas erzählen wollten, etwas mitteilen, uns an der Welt reiben, die wir da draußen vorfinden.

Und ich weiß in dem Moment, dass das Herstellen dieses Filmes jetzt zwar abgeschlossen ist, aber dass mein Prozess deshalb noch lange nicht vorbei ist. Denn nun beginnt das, wofür wir unsere Filme in die Welt setzen: Jetzt kommt die Reaktion, auf das, was wir zu erzählen haben.

Die Auseinandersetzung beginnt, die Debatte, und im besten Fall entsteht so etwas wie ein Dialog. Zwischen dem, was wir mit unserem Film über die Welt erzählen und dem, was diese Welt auf unseren Film zu erwidern hat. So wünsche ich mir, dass sich diese Gesellschaft mit dem auseinandersetzen möge, was wir ihr hier anbieten.

Und dafür braucht es die Kritik. Indem Sie beschreiben, was Sie gesehen haben, es einordnen, es beurteilen, es kritisieren. Indem Sie antworten. Film braucht diese Reaktionen, damit er lebt. Und ich persönlich brauche sie auch. Ich wünsche sie mir.

Und wenn ich ehrlich sein soll: Möglichst viel davon. Denn die Arbeit an und mit meinem Film geht ja weiter. In der Auseinandersetzung mit dem, was ich erzählen wollte und dem, was davon bei den Zuschauern ankommt, was es auslöst. Ich will wissen, ob ich verstanden worden bin, ob mein Film beglückt oder verstört, ob er Denkräume öffnet oder wütend macht. Oder, am schlimmsten: ob er den Menschen gleichgültig ist.

Dabei ist es oft die Vielstimmigkeit, aus der ich den größten Nutzen ziehen. Die Pluralität der Reaktionen und Meinungen führt wiederum bei mir zu der größten Reaktion. Zu einem Hinterfragen meiner eigenen Haltung, zu neuen Ideen, neuen Gedanken.

Natürlich ist dabei Kritik nicht gleich Kritik. Wobei wir wieder am Anfang wären. Denn unter all denen, die kritisieren, gibt es die, die herausstechen. Weil sie nicht nur urteilen, sondern sich einlassen. Weil sie nicht nur kalt beschreiben, sondern dabei sich selbst, ihre Haltung, ihr Denken, ihr Fühlen, zur Verfügung stellen. Weil sie neugierig sind. Weil sie nicht nur werten, sondern suchen.

Weil sie den Film abgleichen mit der Welt, in der sie leben, ihn auf diese Welt beziehen und dadurch auf sich selbst. Weil sie ihm Fragen stellen, und dabei in dem, was ich geschaffen habe, manchmal etwas entdecken, was ich selbst noch gar nicht gesehen haben. Und so Antworten geben auf neue Fragen, die ich mir vielleicht jetzt erst stelle.

Kritik, die sich auf diese Weise einlässt, kann treffen. Sie kann verletzen, sie kann Grenzen überschreiten, und sie kann verstören. Aber sie kann auch stärken, und sie kann überraschen. Und sie kann etwas bewegen. Ich höre sie, und ich nehme sie ernst. Denn sie kann Räume öffnen, die wiederum den künstlerischen Prozess verändern. Räume, in denen eine Diskussion geführt werden kann, eine Debatte. Solche Kritik kann beglücken. Und so kommt es vor, dass ich etwas lese und dabei denke: Möge es doch immer so sein.

Und dann hebe ich den Blick und stelle fest: Ist es natürlich nicht immer. Immer seltener in der journalistischen Beschreibung von Kultur, eher immer seltener im Diskurs des Feuilletons. Aber auch immer weniger – so muss man hinzufügen – in der gesellschaftlichen Diskussion. Denn so wie die offene, sich einlassende Auseinandersetzung mit Kultur kostbar geworden ist, so ist auch die die öffentliche Debatte mühsam geworden.

Es scheint, als hätten wir bisweilen auch in der Auseinandersetzung über unsere Gesellschaft und im Reden miteinander verlernt, uns mit unserem Gegenüber auseinanderzusetzen. Verlernt, uns auf einen anderen Standpunkt als den eigenen einzulassen. Zu befragen, was wir gesehen haben, in der Hoffnung, etwas zu entdecken oder zu verstehen, was wir noch nicht kannten oder wussten.

Es ist leicht geworden, eine Haltung zu haben und sie energisch zu vertreten. Am besten und am einfachsten in der eigenen Blase. Aber es scheint schwer für uns geworden zu sein, die eigene Haltung mit der von anderen abzugleichen, wenn sie sich von unserer eigenen unterscheidet. Und noch schwerer, uns selbst dabei in Zweifel zu ziehen, uns in einer Diskussion mit anderen mit all dem, was wir sind und denken, selbst zur Verfügung zu stellen.

Statt miteinander, reden wir übereinander, urteilen über die anderen und über die Welt, statt sie zu beschreiben oder zu befragen. Und manch einer weigert sich gar, die Welt, wie wir sie vorfinden, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Aber wie sollen wir fruchtbar unterschiedlicher Meinung sein, wenn wir uns nicht einmal darauf einigen können, worüber wir eigentlich gerade diskutieren?

Die Nominierten des Michael Althen Preises und nicht zuletzt die diesjährige Preisträgerin zeichnen sich dadurch aus, dass sie genau hinschauen, dass sie neugierig sind und dass sie nicht aufhören zu fragen und zu suchen. Sie sind oft radikal subjektiv und extrem meinungsstark – aber sie verlieren dabei trotzdem nie den Bezug zur Welt. Dabei spricht oft Zweifel an der Verfasstheit dieser Welt aus ihnen, aber nie Verachtung, sondern Empathie, manchmal sogar so etwas wie Liebe.

Ich bin mir sicher, das hätte Michael gefallen. Es ist gut, dass es diese Nominierten und ihre Texte gibt. Und es ist gut, dass es diesen Preis gibt. Denn auf nichts davon können wir gerade verzichten.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.

Update zum Feedback

Samstag, 31. März 2007

Fetisch Bikinistreifen

Überall nackte Leiber, Sex, wohin man schaut, und dennoch hat sich das Nackte seinen Reiz bewahrt. Über den Nipple-Slip habe ich mich bereits ausgelassen, heute lenkt nun Michael Althen in seiner FAZ-Kolumne meine Aufmerksamkeit auf die Bikinistreifen. Ob im Porno oder am Eisbach, ich fand die blanken Stellen schon immer sexy, und in der Zeit allgegenwärtiger Sonnenstudios und FKK-Strände zeugt es sogar von Retro-Chic. Um mit Althen zu schließen: „Die Wahrheit ist aber, dass dem Bikinistreifen nicht nur die Vergangenheit, sondern vor allem die Zukunft gehört. Und sei es nur, weil es so ein tolles Wort ist, das von einem Sommer kündet, der einen Unterschied macht zwischen dem, was um die Ecke im Solarium zu haben ist, und jener Intimität, die kein Bikini der Welt verbergen kann.“