Montag, 13. Juli 2020

Turbogeile Filmbranche: Wim Wenders' „Paris, Texas“ (1985)

Er ist schon lange unterwegs. Ein Film, der an einem 11. Januar von einem Verleih in ein Kino gebracht werden soll, darf, wird? Dies ist „Paris, Texas“. Der Film.
Den „Filmverlag der Autoren“ verbindet damit – ungeachtet jeden Festhaltens daran – nur noch Semantik und Historie. Denn der zum „Tchibo-Filmverleih“ (AZ, Frankfurt) verkommene Auswerter von Filmware à la „Das turbogeile Gummiboot“ hat in einem bis Redaktionsschluß noch nicht entschiedenen Rechtsstreit um die Verleihrechte an Wenders' Meisterwerk kein Mittel gescheut, den Regisseur zu behindern und zu beschimpfen – was von der Blockierung älterer Wenders-Filme bis zum Abstreiten jeglicher Auswertbarkeit von „Paris, Texas“ reichte.
Letztlich setzten sich die Anhänger der Filmverlagspolitik aus nur noch drei Lagern zusammen: die Turbogeilen der Filmbranche, die Deutschen, denen im Ausland erfolgreiche, viel herumreisende und auch noch selbstbewußte Landsmänner suspekt sind, und schließlich die Blauäugigen, die dem Filmverlags-Mehrheitsgesellschafter Rudolf Augstein nichts Böses zutrauen – schließlich ist sein „Spiegel“ des deutschen Intellektuellen „Wachturm“.
Auch wenn diese Koalition den prozessualen Erfolg noch davontragen mag, soll sie uns nicht weiter beschäftigen. Stimmen wir uns lieber ein – auf Highways und Chevys, auf Peepshows und Waschsalons, auf Bars und Freiheitsstatuen, auf Motels und Billboards, auf Paris, Texas.
„Er machte alle Lichter in dem Zimmer aus und legte sich auf den Boden zwischen die Betten. Seine Füße schwitzten. Er schaltete den Realistic Kassettenrecorder an und in der Dunkelheit antwortete Stevie Wonder: »Songs in the Key of Life«. Er betrachtete ein Apache Sandbild, das von nirgendwoher auf der Wand auftauchte. Farben aus dem Boden: bleicher, orangener Sand, schokoladenfarbene Erde, fahles Blau wie eine Träne. Er konnte den Schimmer des Perlmuttglanzes auf dem Pistolengriff sehen. Fäden von rosa Licht. Sich drehend. Er konnte sein eigenes Herz sehen. Er konnte das dämonische Festhalten eines Mannes an seiner einzigen Frau fühlen.“ (Sam Shepard, Motel Chronicles).
Man braucht nur die Drehberichte zu lesen und den Erzählungen zu lauschen, um die Stimmigkeit Wim Wenders' im Zusammenwirken mit seinem Team bestätigt zu bekommen. „Paris, Texas“ offenbart Bild für Bild, wie sehr Sam Shepard (Script), Robby Müller (Kamera), Chris Sievernich (Produktion), Ry Cooder (Musik), Nastassja Kinski, Harry Dean Stanton und Hunter Carson (Darsteller), um nur einige zu nennen, mit Wenders zum geballten Energiefeld verschmelzen. „Together we make it happen.“
Das Ereignis, hervorragend in einem Prachtbuch des Greno-Verlags dokumentiert, ist keineswegs nur Wenders' zu oft herbeiinterpretierter Amerika-Traum, sondern ein Epos über die Liebe, die Gefühle und das Chaos drumrum. Diese Geschichte kennt kein Happy-End. Aber vielleicht der Kinoeinsatz dieses Films?
Die Darsteller hätten einen Publikumserfolg redlich verdient. Denn das Trio Stanton/Kinski/Carson, Vater-Mutter-Sohn, auf das sich der Film letztendlich konzentriert, stellt in seiner darstellerischen Intensität, in seinem Ringen um Gefühle einen filmischen Sonderfall dar. In ihrer Fremdheit und Verlorenheit von Kamera, Schnitt und Sound unterstützt, entwickeln sie ein sensibles Zusammenspiel, das ohne die streng chronologisch vor sich gegangenen Dreharbeiten nie hätte erwachsen können.

Diese Filmkritik erschien im „Plärrer“, Ausgabe 1/1985.

Keine Kommentare: