Posts mit dem Label Déja-vu werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Déja-vu werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 19. August 2024

Campana del Rey

In seinem Havana Club in der Altstadt hat Christoph Klingele schon Generationen von Münchner Nachtschwärmern das Cocktailtrinken beigebracht. Nun hat er vor einigen Wochen im Keller desselben Gebäudes eine Schatzkammer eröffnet, die eine eigene Bar für sich darstellt, die Campana del Rey: zu deutsch Königsglocke, eine Anspielung auf Barchef Boris König (Foto) und Klingeles eigenen Namen. Wer hier zwei Treppen herabsteigt, findet sich in einem Ambiente wieder, das an alte Münchner Stadtmauern erinnert. Im Mittelpunkt: Regale mit hunderten von Rum-Flaschen. Künftig werden die wertvollsten mit Gittern gesichert werden. Denn hier wird die hohe Schule des Premium-Rums gepflegt. 
Jahrgangsabfüllungen oder einzelne Flaschen mit den Tropfen längst geschlossener Destillen, von denen einzelne Fässer noch gerettet werden konnten. Da kostet ein Glas Rum (4 cl) auch schon mal 72 Euro. Aber wenn die Flasche leer ist, kann sie nicht nachbestellt werden. Und man zählt zu den letzten Menschen, die diese Rarität haben kosten dürfen. 

Herrnstraße 30, Do 19–1 Uhr, Fr/Sa 19–3 Uhr.

Eine Version dieses Textes erschien in der „tz“ vom 17./18. August 2024.

Bar Montez

Mindestens so umstritten wie die Namenspatin Lola Montez ist auch die Bar Montez im vornehmen Rosewood-Hotel. Aber gehört das nicht auch zum Nachtleben: Dass über einen gestritten und diskutiert wird? Schließlich ist jede Hotelbar ein Wagnis: den Spagat zwischen Hausgästen und Einheimischen hinzubekommen. Im Juni wurde eine bekannte Münchner Schauspielagentin mit ihren Freunden im halbleeren Lokal abgewiesen. Und auch die Reservierungsbedingungen mit Mindestumsatz und vorbestellten Getränken erinnern an die Usancen begehrter Wiesnzelte. Aber wieso es nicht darauf ankommen lassen und einfach spontan versuchen? Wer drin ist, ist in! Der Live-Jazz jeden Abend ist es allein schon wert. Am Tresen werden statt Bier Cocktails gezapft, um die ungeduldigeren Gäste schnell zu versorgen. Aber natürlich wird auch klassisch gemixt. Und Hausspezialitäten (15–19 Euro) wie den Royal Affair, Malicious oder Mambo No. 6 gibt es selbstverständlich auch in alkoholfreien Cocktail-Versionen. 

Kardinal-Faulhaber-Straße 1, So–Mi 18.30–1 Uhr. Do–Sa 18.30–2 Uhr. 

Eine Version dieses Textes erschien in der „tz“ vom 17./18. August 2024.

(Foto:Davide Lovatti/Rosewood Hotels)

Cœur Tagesbar

Die Portici, die Arkadengänge von Bologna sind ein Weltkulturerbe und Symbol italienischer Gastfreundschaft: Privater und öffentlicher Raum zugleich, ein Salon im Freien, aber geschützt vor gleißender Sonne oder prasselndem Regen. Nun gibt es im Münchner Univiertel ein ähnliches Refugium. Der Säulengang ist zwar eher einfach, rustikal und kurz, aber die Atmosphäre dafür um so einladender. Schräg gegenüber vom Museum Brandhorst, zwischen Restaurants, Boutiquen und einem Tattoo-Studio zelebriert Federica Pulisci (Foto) in der Cœur Tagesbar den italienischen Aperitivo. Es gibt ein Dutzend unterschiedlicher Spritz-Varianten (7,50–10,50 Euro), Cocktails und günstig kalkulierte Weinflaschen. 
Dazu werden kostenlos kleine Schmankerl (Oliven, Kapern, gewürzte Nüsse, Grissini mit Mortadella oder Hummus) gereicht. Für den größeren Appetit gibt es Barfood und Pasta mit selbstgemachte Pesto oder Ragù. 

Theresienstraße 38, Mi–So 16–24 Uhr.

Eine Version dieses Textes erschien in der „tz“ vom 17./18. August 2024.

el Tato Gastrobar

Die Räume der ehemaligen Ménage Bar im Gärtnerplatzviertel laden inzwischen zu einer mitreißenden Tour durch Lateinamerika ein: Aus den Lautsprechern der el Tato Gastrobar erklingen Cumbia, Ranchera oder was Süd- und Mittelamerika sonst neben Salsa und Samba an Folklore zu bieten haben. Aus der Küche kommen ständig wechselnde Gerichte (fünf bis 21,50 Euro) wie Ceviche, Tacos, Empanadas, Yucca-Pommes, Kochbananen oder Guacamole. Und die Cocktailkarte mit ihren bunten Bildern sieht wie ein Reisekatalog aus. Der Schwerpunkt liegt natürlich bei Mezcal-, Tequila- und Rum-Cocktails (zwölf bis 16 Euro), aber Ginna Sánchez und Chris Schmidt (Foto) brennen auch ihren eigenen, schokoladig schmeckenden Mais-Wodka. 
Am frühen Abend wird hier vor allem gegessen, doch dann werden die hohen Tische zur Seite geschoben, gefeiert und gern getanzt. 


Buttermelcherstraße 9, Di–Sa 18–1 Uhr

Eine Version dieses Textes erschien in der „tz“ vom 17./18. August 2024. 

Roody Tanzcafé Giesing

Aus alt mach neu: Am Candidplatz wird es Teile des gewaltigen Ärztehauses treffen, wo Projektentwickler von einem provozierenden Neubau träumen. Doch bis es soweit ist, zogen ein paar kreative Köpfe ein, um unter dem Kosenamen Candy einen Coworking-Space, Pop-up-Galerien, Jugendprojekte und Events für die Untergiesinger Nachbarschaft zu organisieren. Das Tor zu dieser Zwischennutzung bildet das Roody Tanzcafé. Carsten Fay (Foto) vom Kiosk Isarwahn und Max Heisler (Geierwally, Boazeria) haben liebevoll selbst Hand angelegt und die riesigen Räumlichkeiten in ein Sammelsurium bunter Wände, Sitzgelegenheiten und Lampen verwandelt. 
Samstags legt ein DJ auf, immer wieder spielen Bands live und aus dem Zapfhahn fließen fünf verschiedene Biere ab 3,80 Euro die Halbe. Der Renner ist aber – gerade bei den jungen Gästen – das Rüscherl: ob Asbach-Cola oder Fernet-Cola. 

Candidplatz 9, Mi/Do 18–1 Uhr, Fr/Sa 18–2 Uhr.

Eine Version dieses Textes erschien in der „tz“ vom 17./18. August 2024.

Charlatan Bar

Mit der Schließung der Ménage Bar und des Schwarzen Dackels hat das Münchner Nachtleben schwere Verluste erlitten. Doch die Macher beider legendärer Locations taten sich zusammen, um gemeinsam die Charlatan Bar am Max-Weber-Platz zu eröffnen. An die Mixologen der Ménage Bar erinnert der Rotationsverdampfer (Foto unten) im Wert eines Kleinwagens, mit dem die Barcrew Maiwipferl, Moringablätter oder Hubba-Bubba-Kaugummis zu Cocktailessenzen destilliert. 
Vom Schwarzen Dackel kommt der lässige Auftritt und die Tradition, DJs auflegen zu lassen. Auch der „Gesunde Mule“ (zwölf Euro) stand schon im Dackel auf der Getränkekarte, muss jetzt aber umgetauft werden. Die Bezirksinspektion störte sich am Namen, weshalb der Drink künftig „Ungesunder Mule“ heißen wird. 
Doch selbst dann werden die Laborgeräte und Kacheln in der Charlatan Bar und die Äskulapschlange im Logo nicht vergessen lassen, dass man hier gegenüber vom Klinikum rechts der Isar feiert. 

Einsteinstraße 50, Di–Do 18–1 Uhr, Fr/Sa 18–2 Uhr. 

Eine Version dieses Textes erschien in der „tz“ vom 17./18. August 2024.

Sonntag, 28. Juli 2024

Meine Programm-Magazin-Jahre: „In München“ 1984–1987 (1)

In seinen ersten Jahren veröffentlichte das Programm-Magazin „In München“ keine richtigen Filmkritiken. Es gab nur eine Übersicht zu den Kinostarts der Woche, mehr werblicher Natur. Aber in den Jahren, in denen ich dafür verantwortlich war und bereits regelmäßig die Pressevorführungen und Festivals besuchte, versuchte ich diesen wenigen Zeilen immer einen persönlichen Touch zu verleihen. Mein Schwerpunkt lag dabei bei französischen Filmen, aber erstaunlicherweise konnte ich mich damals auch schon für Tom Cruise begeistern. 

Und während ich bis dahin bei Münchens Programmkino-Machern teils einen recht guten Ruf genoss, brach nach diesen wenigen Zeilen Louis Anschütz, der später das Studio im Isabella übernahm, mit mir. Nicht ohne mir bei einem Stehrumchen direkt vorzuwerfen, dass ich diesen Film gut gefunden und auch noch angepriesen hätte. Dabei war meine Kurzkritik im „In München“ vom 7. August 1986 nicht ohne Vorbehalt:

»Der schärfste Zungenkuss

Top-Girl Kelly McGillis

Nachdem sie sich als Künstlermuse („Ruben, Ruben“) und Amish-Frau („Der einzige Zeuge“) in die Herzen aller Kinogänger gespielt hat, gab Kelly McGillis Anlaß zu größter Verwirrung. Wie konnte sie nur als Soldatenbraut im Navy-Piloten-Thriller Top Gun auftreten, jammerten die Fans ohne den Film gesehen zu haben. Die Antwort gibt nur der Film. Lustvoll mixt Regisseur Tony Scott („Begierde“) Muskeln, Maschinen und Musik zu einem Sommerspektakel ohnegleichen. Gekonnt umgeht er die Hollywood'sche Prüderie mit einer Kußszene zwischen Tom Cruise und Kelly McGillis, die niemanden trocken läßt. Grandios unterlegt er die atemberaubenden Luftaufnahmen mit Harold Faltermeyers Soundtrack. Kurzum ein sattes Breitwandspektakel, dessen direktes Bekenntnis zum professionellen Kriegshandwerk diskutabel, aber keine Todsünde ist.« 

Donnerstag, 11. Juli 2024

Die Münchner Altstadt – ganz neu gedacht

Als das Mobilitätsreferat Montagabend im Alten Rathaus erste Konzepte für die Umgestaltung der Altstadt vorstellte, war die Tendenz ganz klar: Sich an fußgänger- und radlerfreundlichen Städten im Ausland orientieren und einen Wurf präsentieren, der in Deutschland einzigartig ist. Nicht umsonst hatte man mit Gehl ein Stadtplanungsbüro aus Kopenhagen beauftragt, das sich Vorbilder aus Paris, Helsinki, Stockholm, Utrecht, Barcelona, Wien und natürlich Kopenhagen zum Maßstab nahm. 
Die anwesenden Münchner, mehr als die erwarteten 180, darunter viele Händler aus der City, vernahmen es mit Grummeln. Was unter dem Titel „Altstadt für alle“ präsentiert wurde, schließt die Autofahrenden eher aus. Und so sehr sich die durch den Abend leitende Sonja Rube vom Projektentwickler USP bemühte, die Bürgerbeteiligung bei der Neugestaltung innerhalb des Altstadtrings zu betonen, wirkte das vermeintliche Miteinander eher als wohlfeiles Lippenbekenntnis. 

Die Stadt nimmt ihre Bürger wie ein Erziehungsberechtigter an die Hand und zeigt ihnen, wo’s lang geht. Das führt zu mehr Lebensqualität durch mehr Grün- und Wasserflächen. Das Konfliktpotential zwischen Fußgängern, Radlern und Autofahrern wird sinnvoll entschärft. Aber es wird eben auch diktiert. 
Die schärfste Neuerung, die Zukunft der Parkplätze innerhalb des Altstadtrings, versteckte man als Unterpunkt in der Präsentation. Ein Drittel der Parkplätze im Straßenraum soll abgeschafft werden, um Platz für Grünflächen, breitere Fußwege und Fahrradstellplätze zu gewinnen. Die verbleibenden Parkplätze sollen Anwohnern vorbehalten bleiben. Besucher, Gäste der Gastronomie oder Kunden der zahlreichen Geschäfte werden die vorhandenen Parkhäuser nutzen müssen. 
Um körperlich Beeinträchtigten, Älteren und Schwerbeladenen die Fortbewegung zu erleichtern, wird es ab dem 24. Juli Mikrobusse und E-Rikschas (auch für Rollstuhlfahrer) in einem kostenlosen Testbetrieb geben. Die Mikrobusse verkehren drei Monate lang in Ringlinien zwischen 8 und 22 Uhr im 10-Minuten-Takt an festgelegten Haltestellen innerhalb des Altstadtrings. Die Rikschas können zwei Monate lang zwischen 7 und 24 Uhr herbeigewunken, an festen Standorten bestiegen oder übers Internet bestellt werden. 

In der Altstadt soll es künftig nur noch drei Straßenarten geben: Die erweiterte Fußgängerzone. Ein paar wenige Stadtstraßen, auf denen Tempo 30 gilt. Sowie eine Altstadt-Zone mit Tempo 20, die nur Taxis, Busse, Anwohner und Lieferanten befahren dürfen. 
Der Altstadtring selbst soll mit Bäumen und breiteren Fußwegen zum Boulevard umgestaltet werden. Während die Taxistandplätze an weniger attraktive Orte umziehen sollen, werden Bus- und Tramhaltestelle wie im Rosental und der Maximilianstraße aufgewertet werden. Etwa durch mehr Platz zum Ein- und Aussteigen und einen Regenschutz. 
München wird schöner werden. Aber es wird mit nachdrücklichem Zwang geschehen. Weshalb der Zweite Bürgermeister Dominik Krause von den Grünen in seinem Grußwort Montagabend daran erinnerte, dass auch die Einführung der Fußgängerzone vor über fünfzig Jahren arg umstritten war. Sie heute aber kaum einer mehr missen möchte.

Eine Version dieses Artikels ist im „Münchner Merkur“ und der „tz“ vom 10. Juli 2024 erschienen.
(Illustrationen: Gehl/Mobilitätsreferat)

Samstag, 4. Mai 2024

München verliert seinen Nachtbürgermeister

Es war von Anfang an eine schwere Geburt. Und letztendlich hat das Rathaus länger gebraucht, die Fachstelle Moderation der Nacht (MoNa) im Sozialreferat einzurichten, als deren erster Leiter im Amt bleiben konnte: Kay Mayer, seit Juni 2021 MoNa-Chef, lange Zeit auch deren einziger Mitarbeiter und im Volksmund als Nachtbürgermeister betitelt, hört auf. Mitte April informierte er die Akteur*innen des Nachtlebens, mit denen er ein Netzwerk aufgebaut hatte, dass er aufhört, vorgestern verkündete er es öffentlich auf Instagram (Foto). Der Abschied falle ihm „wirklich sehr schwer“. 
Stadtrat Florian Roth (Grüne) betont, dass es auch schwer werde, Mayer zu ersetzen. Die Landeshauptstadt hat es damit wohl nicht eilig. Eine Stellenausschreibung für die Nachfolge scheint noch nicht zu existieren. Als ob es heute noch so wäre wie bei der langwierigen Gründung der Abteilung: Die „Belange des verträglichen Feierns“ („Rathaus-Umschau“) waren „Themen, die nicht von allen ernst genommen werden“, erinnert sich Roth. Der Stadtrat lobt, dass Mayer die seltene Gabe besaß. sich sowohl mit den Menschen aus dem Münchner Nachtleben zu verstehen als auch zu wissen, wie Verwaltung funktioniert. 
Aber Mayer hat sich noch nicht ganz verabschiedet. Er will eine Woche lang mit einem Tragerl Bier an der Isar sitzen, um all seinen Münchner Kontakten Gelegenheit zu geben, vorbeizuschauen und persönlich Lebewohl zu sagen.

Update: Inzwischen scheint Mayer beim Feierwerk die Leitung der Südpolstation in Neuperlach übernommen zu haben.

Eine Version dieses Textes erschien in der „tz“ vom 4./5. Mai 2024. 

Samstag, 20. April 2024

Hollywood am Promenadeplatz

Es ist eine Hollywood-Produktion, wie man sie bei uns schon lange nicht mehr gesehen hat. Seit 15. Januar dreht Nicole Kidman die zweite Staffel ihrer Erfolgsserie „Nine Perfect Strangers“, die in Deutschland von Amazon Prime gestreamt wird. Mit 18,5 Millionen Euro haben die Filmförderungen Bayerns, Deutschlands und Österreichs das Projekt hierher gelockt. Das Ausmaß an Heimlichtuerei steht dem finanziellen Aufwand kaum nach. 
Dennoch ließ es sich trotz aller Verschwiegenheitsklauseln nicht verbergen, dass die Hauptdarstellerin sich für die Dreharbeiten samt Familie in Salzburg privat einquartiert hat. Schließlich geht die 56-Jährige dort auch mit ihrer Tochter Sunday Rose (15) öffentlich shoppen und postete auf Instagram sogar selbst eine Story von einer Radltour durch die Salzburger Altstadt. 

Ähnliche Bilder aus München wird es von Kidman aber zumindest vorläufig nicht geben. Auch wenn die Dreharbeiten, die sich noch bis Ende Juni hinziehen werden, nach den Penzing Studios bei Landsberg und vielen österreichischen Drehorten jetzt unübersehbar München erreicht haben. Doch einige für diese Woche geplante Szenen, darunter auch ausgerechnet welche, für die Nicole Kidman in München vor der Kamera angekündigt war, wurden verschoben. Angeblich wegen einer erkrankten Person. 

Nichtsdestotrotz heißt es spätestens am Freitag am Promenadeplatz Action für „Nine Perfect Strangers“. Im und rund um den Palais Montgelas im Bayerischen Hof wird gedreht. Seit Dienstag sind erste Parkplätze für die Produktionsfahrzeuge geblockt, ab Freitag wird die gesamte nördliche Hälfte des Promenadeplatzes, der Pacelli- und der Prannerstraße ausschließlich dem Filmteam zur Verfügung stehen. Seit Mittwoch sammeln sich die Trucks der FIlmausstatter, Beleuchter, Bühnenbauer, Stuntleute und sonstigen Gewerke dieser Großproduktion. Requisiteure trugen von der Champagnerflasche bis zum Stuhl allerlei in das Luxushotel, um es in eine Kulisse aus den Nuller Jahren zu verwandeln. Sicherheitsleute bewachten die Trucks Tag und Nacht. 

Die Anrainer nehmen das bis Samstagfrüh 2 Uhr geltende Halteverbot mit Gelassenheit. „Parken ist hier eh immer ein Problem“, meint ein Ladeninhaber – und die jährliche Sicherheitskonferenz im Bayerischen Hof nerve weit mehr mit ihren Auswirkungen auf die Nachbarschaft. Der Taxistandplatz vor dem Nobelhotel muss für die Dauer der Dreharbeiten ganz verschwinden, doch die Taxler verlieren dennoch kein böses Wort: „Das lief top, sie haben uns sofort einen Ersatzplatz um die Ecke in der Kardinal-Faulhaber-Straße angeboten.“ 
Auch der Durchgangsverkehr wird von den Dreharbeiten betroffen. Die Fahrbahn auf der Nordseite des Promenadeplatzes wird für den Verkehr gesperrt. Der Gehweg vor dem Bayerischen Hof und dem dazugehörigen Palais Montgelas bleibt für die Dauer der Dreharbeiten tabu. Der Trambahnverkehr läuft weiter, es wurde aber eine Langsamfahrt angeordnet, damit der Fußgängerverkehr gesichert auf die Südseite des Promenadeplatzes geführt werden kann. Und die Fahrgäste in der Tram den Blick auf die Dreharbeiten länger auskosten dürfen?

Am Samstag ist der Spuk erst einmal vorbei. Bis Nicole Kidman die Gerüchteküche wieder zum Brodeln bringt, wenn sie dann spätestens im Mai endlich selbst in München vor der Kamera steht. 
Versionen dieses Textes erschienen in der „tz“ und im „Münchner Merkur“ vom 19. April 2024

Update vom 21. April 2024: Die gewöhnlich sehr gut informierte Marie Waldburg hatte schon am Freitag auf Facebock erwähnt, dass Nicole Kidman doch beim Dreh am Freitag vor dem und im Palais Montgelas dabei wäre: „Wenn Nicole Kidman dreht, ist alles abgesperrt und der Bayerischer Hof in ein Prager Hotel verwandelt.“ Ihr zufolge wohnt der Hollywood-Star jetzt für den Rest der Dreharbeiten in einem Haus am Ammersee.
Die „Süddeutsche Zeitung“ wähnt dagegen in ihrer Online-Ausgabe vom Nachmittag des 19. April Kidman für die weiteren Dreharbeiten in einem Münchner „Fünf-Sterne-Haus“ untergebracht – „darüber sind sich Insider einig.“
„Bild online“ tendiert heute auch zur Ammersee-Theorie und besitzt sogar ein Foto, das Nicole Kidman am Freitag am Filmset vor dem Bayerischen Hof zeigt. Quelle sei der Instagram-Account von Andreas Haumesser, wo der Schnappschuss aber nicht mehr zu finden ist.  



Sonntag, 14. April 2024

Konkordanz meiner Zeilen

Als verantwortlicher Journalist im Spätdienst sage ich immer gern, ich würde nicht fürs Schreiben bezahlt werden. Vielmehr beobachte ich die Nachrichtenlage und entscheide, welche Zeitungsbeiträge aktualisiert werden müssen, was neu ins Blatt kommt und was dafür rausfliegt. 

Wenn mal kein Agenturtext oder Beitrag von Kolleg*innen vor Ort kommt, schreibe ich auch schnell selbst den Artikel. Das führt zuweilen dazu, dass ich mit einem Auge und Ohr die Zeitung aktualisieren, während ich gleichzeitig mit dem anderen Auge und Ohr den Live-Stream einer Veranstaltung verfolge, um darüber schreiben zu können. Multitasking.

Weit häufiger muss ich aber die Texte Dritter produzieren, sprich: kürzen und redigieren, also passend machen, Fotos auswählen, die Bildunterschriften formulieren und vor allem eine Überschrift finden, die sogenannte Zeile. Die meisten sind sachlich, trocken, informativ. Aber manche … 

  • Alles Walzer in Wien
  • Alter Simpl – Pretty in Pink
  • Augustiner erfindet sich neu
  • Bahn frei fürs 49-Euro-Ticket
  • Die wilde Stimme des Rock 'n' Roll
  • Eine letzte Verneigung
  • Ein Fest fürs Fernsehen
  • Feiern wie beim alten Fritz
  • Guttenbergs gehen getrennte Wege
  • Hoheit hüpft
  • Hollywood am Promenadeplatz
  • Kanzler im Klimaclub
  • Karge Leidenszeiten in der Walachei
  • Kinder in den Knast?
  • Leicht bekifft ans Steuer
  • Liebhaber, Vater, Greis
  • Mähjestät packt an
  • Messner auf dem Ehe-Gipfel
  • München strahlt wieder
  • Puigdemont führt Polizei vor
  • Raubtier am Laufsteg
  • Straße des Schreckens
  • Winter wieder da!
(Foto: Victor Fuchs)

Montag, 25. März 2024

Alter Simpl: Pretty in Pink

Erst das Trikot der deutschen Nationalmannschaft und jetzt auch noch der Alte Simpl: Das Leben ist in rosa einfach schöner. Nachdem der letzte Wirt des Traditionslokals in der Türkenstraße zum Jahreswechsel Insolvenz anmelden musste, übernahmen zwei Frauen, Sina von Tongelen (36) und Eva Stübner-Neutard (37), die vor allem bei Studierenden beliebte Wirtschaft im Univiertel. Ein gutes Omen, schließlich war die Kultkneipe unter einer Wirtin, Toni Netzle, am erfolgreichsten. Noch wird renoviert, aber am 13. April geht's in neuem Glanz los. Zur Eröffnung musizieren Oansno.

Diese Meldung erschien zuerst in der „tz“ vom 23./24. März 2024.
(Foto: Alter Simpl/Instagram)

Samstag, 6. Januar 2024

Mein Verein für alle Zeit

Auswärtsspiel. Drangvolle Enge in der Gästekurve. Den Blick aufs Spielfeld blockieren immer wieder die zahllosen hin und her geschwungenen Sechzger-Fahnen. Begeisterte, empörte oder auch nur betrunkene Fans rempeln dich an. Pyro vernebelt die Sinne. Im Fernsehen würde man mehr von der Partie sehen. Aber spüren, wirklich spüren kann man Fußball nur im Stadion. 

Manne besaß deshalb noch nie ein Abo für Sky oder Magenta, die die Spiele im Fernsehen übertragen. Er ist selbst vor Ort. Nicht nur bei den Heimspielen im Grünwalder Stadion und den wichtigen Partien auswärts, sondern immer, wenn der TSV irgendwo antritt. Manne ist Allesfahrer. Schon sein Vater war Sechzger-Fan, damals als der Verein noch eine Größe war und international spielte. 1965 in Wembley. Europacup-Finale gegen West Ham United. Fünf Tage war der Vater mit Bus und Fähre nach London unterwegs. Für ein Spiel. 

Damals hat die „Abendzeitung“ die Reise organisiert. Heutzutage sind solche Reisen für jeden allein machbar: DB-App, Google Maps – alles leicht zu managen, aber Manne kann sich noch an internationale Partien Ende der 90er-, Anfang der Nuller-Jahre erinnern, in Zeiten ohne Internet, bei denen er im UI-Cup oder in der Europa League zu gegnerischen ausländischen Clubs wie Kaučuk Opava oder FK Drnovice gefahren ist, ohne genau zu wissen, wo in Tschechien er hin muss, und sich von Prag aus durchfragte. 

Inzwischen klingt Mannes Auswärtsbilanz heimeliger. Eben nach Dritter Liga, Vorbereitungsspielen, wichtigen Begegnungen der Jugendmannschaften oder dem nur bayernweiten Toto-Pokal: Sparkassen-Arena Neuburg, Sportzentrum Vaterstetten, Stadion im Brötzinger Tal. Seine Fähre brachte ihn nicht über den Ärmelkanal, sondern über die Förde zum Spiel gegen Holstein Kiel. Aber ein Match im oberbayerischen Pfarrdorf Pipinsried strahlt in den Erinnerungen eines Allesfahrers nicht weniger Glanz aus als jedwelche internationale Begegnung. In dreißig Jahren hat Manne nur fünf Pflichtspiele verpasst.

Und manchmal verschmelzen die glorreichen Zeiten der Vergangenheit mit der drittklassigen Gegenwart über die Generationen hinweg. Für Manne war es schon etwas besonderes 2021 beim Auswärtsspiel in der Roten Erde bei Dortmund zu sein: „In dem Stadion hat 1966 mein Papa die Löwen zum 2:0 Sieg geschrien und damit den Weg zur einzigen Meisterschaft geebnet. Ich und einer seiner Enkel waren dann als die nächsten beiden Generationen in demselben Stadion und haben die Löwen wieder zu einem 2:0 Sieg geschrien (der zweifelsohne nicht die gleiche sportliche Bedeutung hatte).“ Für Manne war das wahnsinnig emotional und auch sehr wichtig, mit dem Kind, das seinen Opa nie kennengelernt hat, am selben Ort zu sein. 

Roman kennt die gute alte Zeit noch aus eigener Erfahrung. Als er den Fußball für sich entdeckte, stand der TSV 1860 München spielerisch noch nicht im Schatten des FC Bayern. Allesfahrer hießen Schlachtenbummler. Ein Fußballspiel dauerte auch damals gewöhnlich 90 Minuten. Aber in Romans Erinnerung leben die Partien über den Schlusspfiff fort. Sein erstes Auswärtsspiel? 4. Oktober 1970 in Ingolstadt. 0:1 verloren. Zu jedem Datum, Gegner oder Spielort scheint er die passenden Daten, wichtigsten Spielszenen aus dem Stegreif parat zu haben. Inzwischen hat er 1438 Auswärtsspiele besucht. In Deutschland, Europa und sogar in Südkorea. Peace-Cup 2003. Acht Mannschaften, darunter Beşiktaş, Olympique Lyon, Eindhoven – und eben der TSV 1860, der kurzfristig für den ausgefallenen Bayer 04 Leverkusen eingesprungen ist. Sieben Sechzger-Fans sind hingeflogen. 

Eine Million Kilometer hat Roman als Allesfahrer insgesamt bereits zurückgelegt. Das sind viele Niederlagen. Und ihm genügt es nicht, nur dabei zu sein. Das Spiel bloß als Feier in der Fankurve genießen, egal wie es endet. „Für mich ist der Sport, der Fußball, das Ergebnis das Wichtigste. Lieber gewinnen und keine Party als umgekehrt.“ 

Die Zuversicht zu gewinnen, bleibt. Aber wenn man die Entwicklung des Vereins über die letzten Jahrzehnte verfolgt, kann es nicht nur das sein. Wer Siege braucht, ist in München eher Bayern-Fan. Wer sich traut, mit Niederlagen zu leben, ein Blauer. Und niemand sammelt neben all den Begegnungen, Erinnerungen, Höhepunkten auch so viele schmerzliche Momente wie die Allesfahrer*innen. Sie sind bei einem Drittligaverein wie dem TSV 1860 Leidensgenoss*innen. Vereint im Schmerz wie im Siegesjubel. Nur dass letzteres weit seltener ist. 

Und diese Gemeinschaft wird auch schon seit Bundesligazeiten in der Vereinshymne beschworen. Der Sechzger-Marsch mit seinem „57, 58, 59, 60“ wird bei jedem Heimspiel gespielt. Und auswärts stimmen ihn die Fans an: „Mein Verein für alle Zeit wird 1860 sein! Ein Verein, der hat es gar nicht leicht, wenn er will, dass er sein Ziel erreicht. Aber wir, wir sind fein heraus: Die Kameradschaft, ja die Kameradschaft, die macht bei Sechzig alles aus.“ 

Bei Heimspielen ist ganz Giesing ein einziges Vereinslokal. Bei Auswärtsspielen werden es die Regionalzüge. Für Bundespolizei, Bereitschaftspolizei und DB-Sicherheit Großkampftage, an denen sie auch schon einmal normale Fahrgäste grundlos davor warnen, Zugteile zu betreten, die in der Hand der Sechzger-Fans sind, die ordentlich vorgeglüht haben. Die gute Laune äußert sich laut, bleibt aber zumeist friedlich. Bis dann auf dem Weg vom Bahnhof zum Stadion Bus oder Tram einem Belastungstest unterzogen wird, wenn auf und ab gehüpft oder mit den Händen gegen die Scheiben geklopft wird. Aber nicht jeder Ultra ist ein Allesfahrer und nicht jeder Allesfahrer ein Ultra. Es gibt Schnittmengen, Trennlinien und in der Regel können auch alle miteinander. Nur die Neonazis, die einem vor einigen Jahren mit ihren verbotenen Tattoo noch überproportional bei den Auswärtsspielen der Sechzger in der Gästekurve auffallen konnten, weil sie dort unter einigen hundert oder tausend prozentual stärker vertreten waren als im ausverkauften Grünwalder Stadion, sind von den anständigen Fans erfolgreich verdrängt worden. 

Die Fanblase ist ein durchaus effizientes, sich selbst regulierendes Gebilde, das auch Busse zu den Auswärtsspielen organisiert, inklusive Essen und Trinken. Auf dem Parkplatz der Stadien bilden die Busse eine laut beschallte Fanmeile. Jeder Bus sein eigener Dancefloor, es gibt die neuesten T-Shirts, Schals und Fanmagazine zu kaufen, eine Sinfonie in blau, argwöhnisch beäugt von den Spezialkräften der Polizei.

Blau. So hat Manne sein Haus in Neuaubing gestrichen. Silvia trägt blauen Nagellack und Roman trägt auch an spielfreien Tagen Sechzger-Klamotten, wenn er durch Berg am Laim läuft. Das sind keine Wochenendrebellen. Allesfahrer*innen geben ihr Leben und erhalten dafür mehr als eine Kameradschaft, sie bilden eine Familie. 

An jedem Spieltag steht Silvia aus Röhrmoos als Erste im Stadion, um ihre eigene Zaunfahne aufzuhängen und Platz für die Banner befreundeter Fans freizuhalten. Sie ist erst spät zur Allesfahrerin geworden. Ihr Vater, ein Schuster in Dachau, war zwar auch schon Löwenanhänger, aber nie bei einem Spiel gewesen. Sie selbst war vor fünf Jahren das erste Mal überhaupt bei einem Sechzger-Spiel und dann „hängengeblieben“. Als Dorfgewächs mag sie München nicht sonderlich, aber Giesing schon. „Wenn ich ins Grünwalder gehe, ist das ein schönes Gefühl. Das ist mein Stadion, einfach einzigartig.“ Und etwas davon begleitet sie auch zu jedem Auswärtsspiel, „wenn man immer dieselben Leute trifft. Das ist total nett. Jeder redet mit jedem.“ 

Hunderte, wenn nicht sogar Tausende begleiten den TSV 1860 bei jedem Auswärtsspiel. 1250 nach Saarbrücken, 1400 nach Köln, 2500 nach Pipinsried, über 3000 nach Ingolstadt, an die 10.000 nach Ulm. Manche folgen nur gelegentlich ihrem Verein, viele regelmäßig und einige immer. 102 Namen zählt die offizielle Allesfahrer-Liste des TSV 1860 München. Alles treue Fans, denen jeweils zwei Eintrittskarten für Auswärtsspiele vorab reserviert oder entsprechende Links zu den gastgebenden Vereine vermittelt werden. Silvias Kollege bei der Raiffeisenbank steht auf der Liste und so ist sie auch immer dabei im Stadion. 

Fast immer. Denn ein Spiel, in Münster am 15. Oktober, haben Silvia, Oskar und viele andere Allesfahrer*innen ausfallen lassen müssen. Denn in der Woche fand die Jahreshauptversammlung des 1. Löwen-Fanclubs Mallorca statt, eine Art Meta-Community der Sechzger-Anhänger. Sonst findet dieser Betriebsausflug des Löwenrudels immer in einer spielfreien Woche statt, aber heuer hat die FIFA die Pläne durchkreuzt, der dritten Liga doch nicht spielfrei gegeben und die Allesfahrer*innen mussten sich plötzlich entscheiden: Kameradschaft oder Pflichtspiel beim SC Preußen Münster? Die Kameradschaft siegte. 

Dabei verpaßt Oskar ungern eine Partie. Es ist für ihn nicht nur eine „Herzensangelegenheit“, jedes Mal im Stadion zu sein, er guckt sich das Match danach noch einmal daheim im Lohhof an, um jeden Spielzug, jeden Moment genau zu analysieren. Selbst die Historie der Unparteiischen checkt er online und hat parat, wenn ein Schiedsrichter nicht nur gegen Sechzig exzessiv zu den gelben oder roten Karten griff, sondern zuvor bereits bei einem Spiel in Niedersachsen neun Karten zückte. 

„Ich lese alles, mich interessiert alles.“ Und damit endet es nicht für Oskar. Denn: „Viele schauen nur, aber ich bin einer, der mitreden will.“ Er produziert den Podcast „Löwenfrühstück“, bezeichnet sich selbst mit über 4500 Sechzger-Bildern als Selfie-König und kandidierte schon – erfolglos – als Präsident und für den Verwaltungsrat. Wenn der Verein kurzfristig einen neuen Profispieler engagiert, klingelt das Telefon bei Oskar und er besorgt ihm binnen ein, zwei Tagen eine Wohnung im hart umkämpften Münchner Immobilienmarkt. Er ist der begnadete Netzwerker. Und dabei doch nur ein Spätberufener. Als gebürtiger Wiener war für ihn die Frage: Rapid oder Austria? Und weil sein Vater Austria-Fan war, entschied sich der Sohn für Rapid.

Später wanderte er nach Bayern aus und auf der Suche nach einer örtlichen Mannschaft folgte er seinem Landsmann Peter Pacult. Als der Wiener die Löwen trainierte, entdeckte auch Oskar den Verein für sich und wurde Mitglied. Beim TSV 1860 und zwölf Sechzger-Fanclubs. Bei einigen davon auf Lebenszeit. 

Der Fußball beherrscht ihn. „Wenn Anpfiff ist, bin ich im Tunnel. Dann kann mich sogar meine Frau nicht ansprechen.“ Die er übrigens bei einem Auswärtsspiel, in der „blauen Wand“, der Gästefankurve im Nürnberger Stadion kennengelernt hat. Und auch nach dem Spiel ist er nicht zugänglich, steht vielleicht irgendwo unter den anderen Fans, muss aber erst innerlich das auf dem Platz Erlebte verarbeiten. Und doch steht für ihn an jedem Spieltag im Vordergrund, „viele aus der Löwenfamilie zu treffen“. Das sei momentan „einfach das beste, was mich am Fußball so wirklich interessiert und motiviert“. Besser als den Kick zu sehen, den Sechzig aktuell, wenn nicht seit Jahren, spielt. 

Auch Peter empfindet die spielerische Qualität der Sechziger so sehr als Stillstand, dass es für ihn mindestens genauso wichtig ist, an Spieltagen die anderen Fans zu treffen und mit ihnen zu quatschen. Da er dazu aus dem Landkreis Passau anreisen muss, sind für ihn selbst die Partien im Grünwalder Stadion zumindest entfernungstechnisch nicht unbedingt Heimspiele. Noch lieber fährt er aber zu den richtigen Auswärtsspielen. „Ich war schon in jedem Stadion von Plattling bis Leeds.“ Auswärts sei „die Stimmung immer fantastisch“. Daran ändert selbst der Empfang durch die Anhänger der anderen Mannschaft nichts. „Ich habe nie gesehen, dass jemand Stress mit den gegnerischen Fans hatte.“ 

Dabei ist Peter schnell als Blauer auszumachen. Er trägt seit 1985 Fankutten, mit einem kleinen Löwen auf der Schulter und vielen Aufnähern. Die Aufnäher sind älter als die Weste, „weil man immer rauswächst“ und die Aufnäher übernommen werden, so lange Platz ist. „Irgendwann ist Schluß.“ Inzwischen trägt er schon die dritte Kutte.

Der Hang zu Sechzig ist bei ihm familiär angelegt. Die Oma, eine gebürtige Münchnerin, kannte die Löwen-Stars der 1960er-Jahre, Radi Radenković und Rudi Brunnenmeier, DFB-Pokalsieger 1964 und Deutscher Meister 1966, persönlich. Mit dem Opa war er 1977 das erste Mal im Stadion. 

Ein Vereinskult ist auch immer ein Personenkult. Weniger, was die Funktionäre betrifft. Gerade beim traditionell zerstrittenen TSV 1860. „Ich hasse diesen Personenkult bei uns. Hasan raus? Sitzberger raus? Reisinger raus? Für mich zählt nur Sechzig!“, kritisiert Oskar die ständigen Anfeindungen gegenüber dem Investor Hasan Ismail, dem Vizepräsidenten Hans Sitzberger und dem Vereinspräsidenten Robert Reisinger.

Mit den Spielern ist es dagegen ganz anders. Manche prägen sogar den Stammbaum ihrer Fans. Als Mannes Ehefrau Marija („Ich hasse Fußball“) schwanger wurde, schwor er, falls es ein Bub wird, ihn nach dem Spieler zu benennen, der im nächsten Match ein Tor für Sechzig schoss. Und dank der Treffer von Bierofka und Winkler heißen die Kinder nun Daniel und Bernhard. Es gab damals auch Spieler mit ungewöhnlicheren Vornamen, da hat Manne „Blut und Wasser geschwitzt“, wenn Torgefahr herrschte.

Selbstverständlich hat Manne seine Frau zu Bernhards Geburt ins Pasinger Krankenhaus begleitet und war die ganze Nacht anwesend. Aber unmittelbar danach, Marija war von der Niederkunft noch benommen, fragte er: „Wie schaut’s aus, kann ich da hin? Wenn ich jetzt fahre, dann würde ich es noch nach Ulm schaffen.“ Von Marija kam aus dem Wochenbett kein Widerspruch und so ging es ab ins Donaustadion, zur Auswärtspartie Dienstagabend gegen Ulm. Die Löwen verloren 3:0, wie er sich 23 Jahre später noch gut erinnert. Es war eine Schlammwüste. Aber Manne war dabei und daher glücklich. Bernhards Geburtstag wird er so nie vergessen. Schließlich hat da Sechzig gespielt. Er geht ganz offensiv mit seiner Liebe zu den Löwen um: „Ich rauche nicht, ich saufe nicht, mein einziges Laster ist Sechzig.“ Und sowohl seine Ehefrau als auch sein Arbeitgeber hätten von vornherein gewusst, dass er „mit Sechzig einen Schuss habe“. 

Bei Silvia in der Bank weiß auch jeder, dass sie eine Blaue ist. Man nimmt bei der Urlaubsplanung Rücksicht darauf, ob sie für eine Partie oder den Besuch des Trainingslagers frei haben will. Wenn sie ausnahmsweise mal etwas Rotes in der Arbeit trägt, äußern sich die Kolleg*innen verwundert. 

Roman war zum 70. Geburtstag einer guten Bekannten eingeladen. Dann wurde für denselben Sonntag ein Auswärtsspiel in Münster terminiert. Also sagte er ihr ab. Vielleicht klappt es ja zum 80. 

So viel Vereinsliebe ist nicht jedem geheuer. Manche vertuschen sie deshalb als wäre es eine Sucht, ein Wahn, wie etwa … nennen wir ihn mal Franz. Auch Allesfahrer. Auch jemand, der sein Leben nach dem Spielplan der Sechzger ausrichtet. Ohne Kompromisse. Einer dieser Fans, die selbst Beerdigungen verschieben und Einladungen zu Hochzeiten absagen, weil sie sonst nicht zum Auswärtsspiel reisen könnten. Und deswegen Ausreden erfinden, „weil das kein Mensch versteht“. Sie leben auch für Sechzig, nur im Stillen, Geheimen. Für alle Zeit.

Eine Version dieser Reportage ist Anfang Dezember 2023 in „Mucbook“ #21 erschienen. Schwerpunktthema der Ausgabe war Mut, Zuversicht.

Samstag, 11. November 2023

Stuck-Villa muss umziehen

Ende Juli organisierte die Villa Stuck noch eine Parade der italienischen Künstlerin Marinella Senatore vom Museum in der Prinzregentenstraße Richtung Innenstadt. Nächstes Jahr folgt nun quasi das Museum selbst, denn am 11. Februar werden alle Museumsräume geschlossen und ausgeräumt, während der Ausstellungsbetrieb provisorisch an einem Interimsquartier in der Goethestraße 54 fortgesetzt wird. 
Das Stammhaus am Friedensengel ist schön, aber marode. Das ehemalige Atelier und Wohnhaus Franz von Stucks wurde zwar erst vom 1999 bis 2004 generalsaniert, aber die technischen Anlagen hinter der neoklassizistischen Fassade seien eben nach zwanzig Jahren bereits wieder an das „Ende ihrer Gebrauchsfähigkeit“ angelangt, wie das Kulturreferat am Donnerstag mitteilte. Außerdem wären an der Fassade notwendige Sanierungen zum Substanzerhalt und der Verkehrssicherheit nötig. Zusätzlich sollen die extrem verschachtelten Ausstellungsräume, die für jeden Besucher zur Herausforderung werden können, endlich etwas mehr Barrierefreiheit bieten. 
„Mit der Erneuerung der Klima- und Sicherheitstechnik wird das Baudenkmal Villa Stuck und seine Kunst geschützt“, erklärte Baureferentin Jeanne-Marie Ehbauer. „Und wenn wir schon bauen, verbessern wir auch gleich die Zugangssituation. Durch die Neuordnung des Wirtschaftshofs entsteht ein barrierefreier Zugang. Auch im Inneren werden wir etwas für die Barrierefreiheit in diesem denkmalgeschützten Gebäude tun.“ 
Die Museumssammlung geht währenddessen auf Reisen. Am vorübergehenden Standort im Klinikviertel will das Team der Villa Stuck stattdessen mit einem „experimentellen Programm aus Ausstellungen, Veranstaltungen und Kunstvermittlung“ in der Münchner Öffentlichkeit weiterhin zumindest etwas Präsenz zeigen. 
Die Wiedereröffnung der Stuck-Villa sei für den Sommer 2025 geplant, die Sanierungskosten werden mit rund 14 Millionen Euro beziffert. Beides Zahlen, die bei solchen Vorhaben mit Vorsicht zu genießen sind. „Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr“, wird in der aktuellen Ausstellung „Kafka 1924“ (Foto) der Schriftsteller auf einem Plakat zitiert. Zumindest diese Furcht ist unbegründet.
Eine Version dieses Textes erschien zuerst in der „tz“ vom 10. November 2023.

Samstag, 26. August 2023

Von der APO zum Opa: Nachruf auf Claus Schreer

Wenn die Münchner Friedensbewegung ein Gesicht hatte, dann seins. Und das über ein halbes Jahrhundert lang. Claus Schreer war schon in den 1960er-Jahren dabei, als bei den Ostermärschen noch tausende Friedensbewegte durch die Stadt zogen. 
Und Münchens hochkarätiges Treffen von Militärvertretern und Verteidigungspolitikern mag im Lauf der Zeit seinen Namen von Wehrkundetagung über Konferenz für Sicherheitspolitik zu Munich Security Conference geändert haben, aber eins blieb über Jahrzehnte gleich: Der Pazifist Claus Schreer organisierte den Protest dagegen und verpasste der Veranstaltung gleich noch einen weiteren Namen: Nato-Kriegstagung. 
Denn leise, abwägend oder gar diplomatisch war der gelernte Grafiker nie. Er konnte nerven, wollte es auch, aber nie aus Geltungsdrang, sondern immer nur, um jene in Schutz zu nehmen, die weniger wehrhaft waren: Die Opfer von Krieg, Faschismus oder Rassismus. Und so stand er bei jedem Wetter auf den Bühnen seiner Protestkundgebungen oder in der ersten Reihe seiner Demos. Meist ein Mikro zur Hand, einen Stapel Flugblätter in den Fingern und eine um Freiheit und Gerechtigkeit ringende Wut in der Stimme, deren Grundton in seiner Zeit als Klosterschüler im Dachauer Hinterland angelegt wurde. 
Im Hintergrund blieb die unermüdliche Arbeit, all die überparteilichen linken Bündnisse zu schmieden. Dabei verstand er selbst sich als Revolutionär und war Kommunist, erst bei der DKP, dann die Linke unterstützend. Stets bereit, für seine Überzeugung festgenommen zu werden oder einen Strafbefehl zu kassieren. 
In der Nacht zum Donnerstag ist Claus Schreer gestorben. Er wurde 85 Jahre alt.

Versionen dieses Textes erschienen in der „tz“ und im „Münchner Merkur“ vom 26./27. August 2023.

Update: Die Trauerfeier findet am 4. Oktober um 12.30 Uhr bei AETAS in der Baldurstraße 39 statt.

Montag, 31. Juli 2023

Rosa von Praunheim wechselt nach der Verbannung aus der Kirche in die Galerien

Es war ein Paukenschlag wie zu Rosa von Praunheims besten Zeiten. Nachdem der Berliner Multikünstler in letzter Zeit mit einer Stofftierausstellung („Ich bin ein Gedicht“) und dem Spielfilm „Rex Gildo – Der letzte Tanz“ auf Kuschelkurs schien, erregte er nun in Nürnberg die Gemüter wie es sich sonst kaum einer traut. 
Ausgerechnet in der Egidienkirche sollte Rosa von Praunheim (80) als „Highlight“ der Prideweeks des CSD Nürnberg vom 21. Juli bis 12. August 2023 Gemälde unter dem Titel „Jesus liebt“ ausstellen. Bilder zu Christentum, Homosexualität und Religionskritik. Das Programmheft versprach, dass der „provokante Chronist“ sich in den Bildern „gewohnt pointiert, kritisch und unverblümt mit repressiver Religion und befreiter Sexualität, Liebe und Tod“ beschäftige. Es waren provokante Bilder, teils mit expliziten sexuellen Handlungen. 
Nach anhaltender massiver Kritik konservativer Christen wurde die am 21. Juli eröffnete Ausstellung bereits drei Tage später zunächst vorübergehend geschlossen. Am Abend des 27. Juli gab sich der Kirchenvorstand geschlagen und entschied einstimmig, die Ausstellung dauerhaft zu schließen. Pfarrer Martin Brons erklärte, dass es die Aufgabe der Kirche sei, „in der Kraft des Evangeliums zu einen, zu heilen und zu versöhnen. Wir bedauern sehr, dass die Ausstellung das Gegenteil bewirkt hat.“ Angesichts des „erheblichen Ausmaßes an Hass, Hetze, Unterstellungen und unbelegten Vorwürfen“ meinte der Kirchenvorstand erkannt zu haben, dass „die Themen derzeit nicht angemessen kommuniziert und diskutiert werden können“
Mit „sehr großem Bedauern“ hat der die Ausstellung mitorganisierende Förderverein Christopher-Street-Day Nürnberg e.V. die vollständige Schließung der Ausstellung zur Kenntnis genommen: „Wir halten diesen Entschluss für ein fatales Zeichen aus dem Raum der Kirche. Denn wir haben nun hautnah erlebt, wie rechtsextreme und evangelikale Kräfte versuchen, Homosexualität weiter zu verteufeln, zu beschämen und aus dem Raum der Öffentlichkeit zu drängen. Wir mussten erfahren: Kirche ist in diesem konkreten Fall kein ‚safe space‘ für queere Menschen und ihre Kultur gewesen. Aktuell arbeiten wir mit dem Egidien Kulturpfarrer Thomas Zeitler daran, einen neuen Ausstellungsort zu finden, damit sie spätestens zum Finale der Prideweeks allen auswärtigen und Nürnberger Teilnehmenden zur Besichtigung und eigenen Bewertung zur Verfügung steht.“ Die Egidiuskirche teilte diese Statement auf ihrer Facebook-Seite mit dem Kommentar: „Auch diesen Reaktionen müssen wie uns jetzt stellen.“ 
Rosa von Praunheim, der 1971 seinen Durchbruch hatte mit dem Spielfilm „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, erregte nicht mehr so sehr die Gemüter, seit er 1991 in einer Fernsehsendung Alfred Biolek und Hape Kerkeling – gegen deren Willen – als homosexuell geoutet hat. Die in Nürnberg abgebrochene Ausstellung will er nun künftig in Galerien statt in einer Kirche zeigen. Anfang Oktober in der Kunstbehandlung in München und Anfang Dezember dann in der Hamburger Kunstkantine.

Eine Version dieses Artikel erschien in der Wochenendausgabe der „tz“ vom 29./30. Juli 2023.

Dienstag, 11. Juli 2023

Der letzte Mann – Akko, Kloreiniger in der Münchner Milchbar

„Allah est au contrôle“, salopp übersetzt: Gott hat’s im Griff. Akkos Credo in seinem WhatsApp-Profil. Ist es ein Glaubensbekenntnis? Sein Lebensmotto? Oder vielleicht die Geheimformel, wie man eine Nacht, viele Nächte, jede Nacht im Münchner Partyleben übersteht, ausfüllt, das Beste draus macht. Nicht als Gast. Nicht als Türsteher, Barcrew oder DJ, um deren Gunst alle buhlen. Sondern dort, wo’s ernst wird, auf den Toiletten. Viermal die Woche arbeitet Akko als Klomann in der Milchbar. Ab 22 Uhr. Bis in den Vormittag hinein. 
„Der letzte Mann“, so betitelte Regiegenie Friedrich Wilhelm Murnau („Nosferatu“) 1924 sein Meisterwerk (vollständig auf YouTube zu sehen), in dem Stummfilmstar Emil Jannings einen Hotelportier spielte, der aus Altersgründen zum Toilettenmann degradiert wird. Damals eine Demütigung, die so groß war, dass der Ort des Geschehens, die Hoteltoiletten, als „Stätte seiner Schmach“ überhaupt erst in der Mitte des Films gezeigt wurden. Und selbst dann wagte sich die Kamera nur bis zum Waschraum. Der Rest blieb tabu. 
Akko ist der letzte Mann, aber auch der erste Mann. Von Schmach keine Spur. Wenn die Milchbar aufsperrt und noch nicht mal die Barcrew vollzählig ist, faltet er schon die ersten seiner bis zu 500 Handtücher, die er jede Nacht bereit legt. Es sind noch nicht viele Gäste da, aber die meisten von ihnen statten Akko als erstes einen Besuch ab. Ein schnelles Hallo, die Begleitung kurz vorstellen, die Hände waschen, sich aus Akkos Schatzkammer ein Parfüm reichen lassen, um sich einzunebeln. Noch kann man bei ihm den besten Eindruck hinterlassen. Noch sind die Gäste nüchtern. Im Laufe der nächsten Stunden wird sich das ändern. 
Natürlich bepissen sich im Nachtleben manche volltrunkene Gäste auch am Tresen oder kotzen vor der Tür. Dort ist es ihnen aber peinlich, und sie lassen sich selbst als Stammgäste dann vielleicht ein paar Wochen nicht mehr blicken. Auf den Clubtoiletten geht alles. (Nur Sex und Drogen sind in der Milchbar tabu, weshalb an jeder Klotür mit drohendem Hausverbot davor gewarnt wird, die Kabinen zu zweit zu betreten.) Auf dem Klo entleert sich jede Körperöffnung wie selbstverständlich. Blut, Schweiß und Tränen sind Alltag. Niemand macht viel Aufhebens drum. Man kann so viel Körperlichkeit eklig finden oder aber auch intim. So nah wie das Toilettenpersonal waren einem sonst höchstens die Eltern, als man noch Kleinkind war, oder werden die Pfleger*innen sein, sobald man inkontinent ist. Akko ist ganz nah dran.
„Am schlimmsten sind die Frauen“, weiß er und bestätigt damit, was auch sonst viele Gastroprofis erzählen. So schrecklich die daneben zielenden Stehpinkler unter den Kerlen auch sein mögen. Hardcore geht’s in der Frauentoilette zu, und sei es auch nur, weil viele Frauen Alkohol schlechter vertragen und sich dann abrupt wieder davon trennen. Dann übergeben sie sich beileibe nicht nur ins Waschbecken oder in die Kloschüssel, sondern auch auf den Boden, an die Wände oder quer durch die Klokabine. Das wegzuputzen, immer wieder, ist nicht jedermanns Sache. 
Es gibt im Nachtleben mürrische Kloleute und schüchterne. Manche drohen mit dem Wischfeudel, wenn man nicht nah genug am Pissoir steht, oder lassen einen erst aus dem Klo, wenn man sich die Hände gewaschen hat. Es gibt unter ihnen Selbständige, Minijobber, Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte. Manche arbeiten die eine Nacht in einer Clubtoilette und sonst im Münchner BMW-Werk. Andere tags als Kinderbetreuer, Altenpfleger und nachts unter Ravern. Sie sind katholisch, muslimisch oder Atheisten. Manche recken einem ostentativ die Trinkgeldschüssel entgegen, andere sind so schüchtern, dass man ihnen hinterherhasten muss, um ihnen etwas Geld in die Hand zu drücken. 
In einem Punkt gleichen sie sich aber fast alle: Kaum eine*r von ihnen will mit Foto und Namen gezeigt werden. Während ihre Arbeitgeber*innen, die Clubbesitzer*innen, keine Angst vor möglichen Enthüllungen über die vermeintlichen Schattenseiten des Nachtlebens haben, sondern sich vielmehr wünschen, dass die „Toiletten-Fee“, „die wenig beachteten Personen der Nacht“ endlich die Aufmerksamkeit erhielten, die sie verdienten. 
Akko dagegen steht zu seiner Arbeit. Man darf ihn sich als glücklichen Klomann vorstellen, nicht schicksalsergeben, sondern einer, der Nacht um Nacht sein Schicksal packt, annimmt und und mit einem ansteckenden Lachen das Beste daraus macht. 1962 im westafrikanischen Benin geboren (die sechzig Jahre sieht man ihm nicht an), handelte er zuletzt mit Handys, bevor er schließlich nach Deutschland migrierte. Auf welchem Weg? Das ist das einzige, worüber er nicht reden mag. Erst Magdeburg, dann die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber in Halberstadt und schließlich, eher zufällig, München. Seine damalige Frau, eine Togolesin, arbeitete als Klofrau in der alten Milchbar, auf der anderen Seite der Sonnenstraße. Akko half manchmal aus, und als sie den Job aufgab, übernahm er 2010 die Position. Und gründete sein Reich. 
In einem Club gibt es fast so viele Reiche wie in „Game of Thrones“. Das Reich der Barleute hinter dem Tresen. Das Reich der DJs in ihrer Kanzel. Das Reich der Garderobieren in ihrem Kabuff. Das Reich der Türsteher mit den unsichtbaren Mauern ihrer Autorität. Akkos Reich ist offen, jede*r ist willkommen. Und seit dem Umzug der Milchbar 2013 über die Straße nicht mehr irgendwo versteckt in einer Sackgasse, sondern unmittelbar an der Tanzfläche. 
Während man in den anderen Reichen dazugehören, wahrgenommen, Stammgast sein will, erübrigen sich die Spielchen der Coolness bei Akko. Denn er spielt sie auch nicht. „Um auf dem Klo zu arbeiten, musst Du mit dem Herzen dabei sein. Ohne Herz geht es nicht.“ Und diese Herzlichkeit zeichnet ihn aus. Sein Lachen. Seine Lebensfreude. Seine Freundlichkeit. Seine offene Art. Ohne je unterwürfig zu werden. Es ist sein Reich, er macht die Regeln, und wer sich respektlos benimmt, wie etwa manche junge Kerle, und eigentlich auch nur junge Kerle, der bekommt es mit den Türstehern zu tun. Akko könnte das auch selbst erledigen, er trainiert jeden Tag daheim, aber diese Schmutzarbeit überlässt er den Profis. 
Rausschmeißen kann jeder. Aber die Gäste pampern, mit einer unwiderstehlichen Freundlichkeit anstecken und dabei die lange Nacht hindurch die Toiletten makellos sauber zu halten, immer wieder aufs Neue, das ist eine Sisyphosarbeit. Alle fünf Minuten wischt er die Toiletten, selbst wenn nichts los ist. Und wenn der Laden voll ist, ist es für Akko zwar die „Katastrophe“, Stress pur. Aber er freut sich für seine Chefs, dass der Laden voll ist, wünscht es ihnen so oft wie möglich, und macht dann eben das beste daraus. Herr seines Schicksals. Und immer am Wischen. „Wenn die Leute sehen, dass ich wische, gibt es Trinkgeld.“ 
Aber nicht von allen. Mit dem Trinkgeld ist es wie mit dem Zustand der Toiletten. Auch da unterscheiden sich Männer von Frauen. Die Kerle sind großzügig. Die Mädels streicheln, umarmen, knutschen, herzen Akko. Und sind mit dem Geld knauserig. Amore statt Euro. „Ohne Männer kein Trinkgeld“, sagt er. Dabei bessert er damit keineswegs sein Gehalt auf. Das ist auch so zu seiner vollsten Zufriedenheit. Ordentlicher Stundenlohn. Nachtzuschlag. Lange Schichten. Mit dem Trinkgeld füllt er seine Schatztruhe auf: Kaugummis, Lollis, Ohropax, Präservative, Tampons und was man als Herrscher der Toilette sonst noch als milde Gaben kostenlos verteilt. 
Die Milchbar ist mehr als nur ein Arbeitsplatz, sie scheint für Akko alles zu sein: Die Schule, in der er Deutsch gelernt hat. Seine neue Heimat. Sein Leben. Sein Unterhaltungsprogramm. Seine Wahlverwandtschaft. Die meisten Gäste kennt er, und sie grüßen ihn wie einen Freund und meinen das nicht nur im Vorübergehen, bevor und nachdem sie sich erleichtert haben. Sie geben sich verbindlich, stecken ihm ihre Visitenkarte zu, laden Akko ein, sie zu besuchen. Was er nie machen wird. „Ich gehe nie aus, die Arbeit ist mein Vergnügen, ich amüsiere mich mit den Gästen.“ 
Aber auch nur während der Arbeit, nur in seinem nächtlichen Reich. Wenn er vormittags die Milchbar verlässt, seine Schicht vorbei ist, geht es in den Münchner Osten, nach Hause. Er betet, isst, legt sich schlafen, trainiert nach dem Aufstehen mit seinen Hanteln. Es gibt dann noch etwas Liebe, wie er mit einem Grinsen erzählt. Aber im Grunde erholt er sich tagsüber von den langen, sich ständig wiederholenden Nächten in der Milchbar. Bereitet sich auf die nächsten Schichten vor. 
Und das noch weitere sieben Jahre. Bis zur Rente. Wichtige Jahre, in denen er nicht nur für sich sorgt. Denn daheim, in Benin, hat Akko noch seine echte Familie. Seine Mutter, eine Schwester, eine Tochter, Verwandte, denen er regelmäßig Geld schickt und die er jeden November besucht, wenn München herbsttrüb am ungemütlichsten ist. Aber davon bekäme Akko eh nicht viel mit, in einem Leben, das nachts in der Milchbar abläuft und tags überwiegend in seinen vier Wänden. Und dennoch muss man ihn sich als glücklichen und dankbaren Menschen vorstellen. Jeden Tag und jede Nacht aufs Neue.

Eine Version dieses Artikels erschien in der 20. Ausgabe von „Mucbook“ im Juni 2023.

Freitag, 4. November 2022

Pelz-Schreck Albert Fröhlich hört auf

Alles muss raus? Aus dem Mund von Albert Fröhlich (80) klingt das weit liebenswerter, wenn er in seinem österreichischen Singsang, mit seinem typischen Lausbubenlächeln nicht etwa nur von seinem Räumungsverkauf erzählt, sondern im Grunde eine Bilanz seines Lebens zieht. 50 Jahre lang hat er die Schönen und Reichen in Pelz gekleidet. An wechselnden Adressen, die immer nur erste Wahl waren: Montgelas-Palais im Hotel Bayerischer Hof, die Maximilianstraße, die Fünf Höfe, der Theatinerhof. Nun wird sein Geschäft in der Pfisterstraße, unweit von Platz und Maximilianstraße, sein letzter Laden bleiben. 
Ursprünglich nur eine Zwischenlösung für die Jahre, in denen der Freistaat den Theatinerhof renovierte und energetisch aufpeppte, wird Fröhlich jetzt nicht – wie angeboten – dorthin zurückkehren. Zu verlustreich waren die letzten zweieinhalb Jahren während Corona. Keine reichen Touristen und Geschäftsreisenden. Keine Events, für die die Münchnerinnen eine neue Pelzstola brauchten. Kaum Umsatz. Die Ersparnisse sind aufgebraucht. Und die Vorstellung, mit 80 noch einmal in eine neue Boutique zu investieren, scheinen selbst dem nimmermüden Provokateur vielleicht eine Spur zu dreist. Es ist nicht nur eine weitere von zu vielen Ladenschließungen in der Altstadt. Es ist auch persönlich eine ungewisse Zukunft, denn Fröhlich liebt sein Geschäft und kennt nichts anderes. 
Es war ihm sozusagen in die Wiege gelegt. Als Sohn eines Volksdeutschen und einer Kroatin im slowenischen Celje 1942 geboren und nach dem Krieg nach Österreich ausgewandert, ging er bei seinem Vater, einem Pelzhändler, in Graz in die Lehre. Es folgte der Meisterbrief in München und die selbständige Arbeit für Traditionshäuser wie Rieger-Pelze am Isartor, bevor Fröhlich 1975 seinen ersten eigenen Laden öffnete, im Lehel, dort, wo die Wohlhabenden aus Bogenhausen und dem Herzogpark vorbeifahren mussten, wenn sie in den Münchner Nobelmeilen shoppen oder speisen wollten.
Fröhlichs Atelier war ein Gegenentwurf zum klassischen Pelzgeschäft, mit Outfits, die mal neonschrill gefärbt waren oder auch nur provokant geschnitten. „Den Pelz braucht man nicht zum Leben“, gibt Fröhlich unumwunden zu. Er ist purer Luxus. „Ein Zeichen von Zuneigung.“ Wenn man ihn sich leisten kann. 
Doch auch Passanten liebten Fröhlichs Geschäft, denn niemand hatte verträumtere Schaufenster-Inszenierungen (verantwortlich dafür: Peter Rank). Bei der Presse führte sich der Neueinsteiger nicht weniger originell ein: Zu seiner ersten Modenschau im Park-Hilton lud er die Journalisten per Telegrammboten ein. „Den Wahnsinnigen, der mich nachts aus dem Bett klingeln läßt, muss ich kennenlernen“, sagte sich Klatschkolumnist Michael Graeter, der von da an oft und gern über Fröhlich schrieb. 
Für die „Vogue“ haben unter anderem Helmut Newton und Karl Lagerfeld die Kreationen des Münchner Kürschners fotografiert und so wurde auch das Interesse Anselm Kiefers geweckt. Der weltberühmte wie kaum bezahlbare Maler erwarb für seine Frau einen Pelz aus Fröhlichs Kollektion und beglich die Rechnung per Scheck. Womit Fröhlich quasi einen echten, signierten Kiefer besaß, den er nur schweren Herzens einlöste. Aber er konnte auf die 27.500 Mark nicht verzichten. 
Inzwischen sind Pelze verschrien und in Redaktionen wie der „Vogue“ schon viele Jahre tabu. Fröhlichs Geschäft tat das keinen Abbruch. Seine Klientel blieb ihm – bis zur Pandemie – treu. Und er selbst hält Felle immer noch für das nachhaltigste Kleidungsmaterial. Im Atelier hat er über fünfzig Jahre alte Erbstücke von Kunden, die er umgearbeitet hat. 
Nichts wird weggeworfen. Zobel- und Samtnerzreste verwandelt Fröhlich in bunte Ohren-Schützer für 490 Euro. Deutlich teurer ist sein Spitzenstück: Eine Zobeljacke, die selbst im Ausverkauf noch 78.000 Euro kostet. Ein Vermögen, aber in jedem Teil steckt die lebenslange Erfahrung. „Ich habe alles daran gesetzt, dass die Kundschaft zufrieden ist. Nur deshalb habe ich es so lange machen können.“ 
Ab Februar wird das Atelier Albert Fröhlich für immer Geschichte sein. Was danach folgt? Keine Ahnung. Er hat sein Leben lang nichts anderes gemacht. Und man will sich die Altstadt, den Mittagstisch im Schumann’s am Hofgarten und die glitzernden Schaufenster der Luxusgeschäfte gar nicht ohne einen wie ihn vorstellen. Doch früher konnte man sich Albert Fröhlich auch nicht ohne Hund vorstellen. Ein Cavalier King Charles gehörte fest an seiner Seite. Der letzte wurde sogar 15 Jahre alt. Was den Abschied nicht erleichterte. „Es tut so weh, wenn dein Hund stirbt“, gibt Fröhlich zu. Den Schmerz wollte er nicht immer wieder mit einem neuen Spaniel erleiden. Seitdem lebt er ohne Hund an seiner Seite. Und bald auch ohne den Beruf, der sein Leben bestimmte. 

Eine Version dieses Artikels erschien am 3. November 2022 in der „tz“.

Sonntag, 4. September 2022

Milli Vanilli … und die ganz, ganz große Liebe zum Nachtleben

Bereits Simon Verhoevens eindrucksvolles Regiedebüt „100 Pro“ setzte den Grundton seiner Filme: Männerfreundschaft, das Nachtleben samt dessen aberwitzigen Irrungen und Wirrungen – und für Insider unverkennbar Reminiszenzen an Nächte im Münchner Club P1. 
Nächte, in denen auch Fab Morvan und Rob Pilatus heftig mitfeierten. Lange, bevor sie unter dem Namen Milli Vanilli zu Stars wurden. In seinen folgenden Filmen wie „Nightlife“ blieb Verhoeven diesem Themenkomplex treu, angereichert durch einen neuen Akzent: Die Liebe zur Musikbranche. In „Männerherzen“ schenkte Verhoeven dem abgehalfterten Schlagerstar Bruce Berger (Justus von Dohnányi) nicht nur ein liebevolles Porträt, er schrieb ihm auch den Song „Alle Kinder dieser Erde“ auf den Leib, der bis heute als YouTube-Video Herzen zum Schmelzen bringt. 
So war es wohl nur eine Frage der Zeit bis Verhoeven, Sohn von Senta Berger und Regisseur Michael Verhoeven, sich dem Highlight des Münchner Nachtlebens und deutscher Musiktrickserei widmen würde: dem Aufstieg und Fall von Milli Vanilli, die zwar nicht singen konnten, aber Produzent Frank Farian die unwiderstehliche Bühnenpräsenz als Pop-Duo lieferten, um in den späten 80er Jahren weltweit die Hitparaden zu stürmen. 
Mit Hits wie „Girl you know it‘s true“, der jetzt auch Verhoevens Film den Titel liefert für die Erzählung einer der größten Betrügereien der Showbranche. „Ich persönlich finde, Rob und Fab hatten es nicht verdient, die alleinigen Sündenböcke dieses Skandals zu werden“, betont Verhoeven, der mit seinem Drehbuch die beiden Underdogs rehabilitieren könnte. Elan Ben Ali (oben links) spielt Fab Morvan, Tijan Njie wird Rob Pilatus verkörpern. Gedreht wird bis Ende des Jahres in München, Berlin, Kapstadt und Los Angeles.

Der Text erschien zuerst in der „tz“ vom 2. September 2022.

Donnerstag, 26. Mai 2022

Der Bayerische Filmpreis – Münchens exklusivste Sauna

Endlich wieder Preisverleihungen, endlich wieder rote Teppiche, endlich wieder großes Kino. Doch da die Filmbranche nicht nur in München, sondern weltweit aus dem coronabedingten Dornröschenschlaf erwacht, drängen sich die Termine. Und der Münchner Galadampfer gerät ins Heckwasser bedeutenderer Konkurrenten. Ob Ende Juni das Münchner Filmfest, dem der Deutsche Filmpreis mit der zeitgleichen Verleihung der Lolas reingrätschen wird. Oder der Bayerische Filmpreis, der Freitagabend ausgerechnet verliehen wurde, während sich die Kinogrößen (und auch Preisträgerin Sara Fazilat; Foto) beim wichtigsten Festival der Welt an der Côte d‘Azur tummeln. 
Auf wen konnte man da überhaupt noch im Prinzregententheater hoffen? „Wer geht da hin, die Filmbranche ist gerade in Cannes“, fragte sich auch Martin Blankemeyer von der Münchner Filmwerkstatt im Vorfeld. Nun, es wurde ein heimeliger Abend. Trotz oder gerade auch angesichts des Krieges in der Ukraine, wie Moderator Christoph Süss betonte. „Darf man das?“, fragte er und bekräftigte: Gerade in diesen Zeit bedürfe es der Kunst, um zu zeigen, wie friedvoll man unterschiedlicher Meinung sein und koexistieren könne. 
Glanzvoll die Ausgezeichneten, noch glanzvoller die Laudatoren wie Klaus Maria Brandauer, Tobias Moretti oder Doris Dörrie. Im Publikum blieb die heimische Filmfamilie eher unter sich versammelt: die Film- und Fernsehstars Maria Furtwängler, Verena Altenberger („Polizeiruf 110“), Saskia Vester, Rufus Beck, Herbert Knaup, Günther Maria Halmer, die Regisseurin Caroline Link und der Musiker Hans-Jürgen Buchner (Haindling). 
Aber so kennt man den Bayerischen Filmpreis auch, als eher intimes Familientreffen, bei dem das Prinzregententheater im Sommer unter den Scheinwerfern des Bayerischen Fernsehens zu Münchens exklusivster Sauna mutiert.
(BR-Aufzeichnung in der Mediathek.)

 Eine Version dieses Textes erschien in der „tz“ vom 21./22. Mai 2022