Montag, 29. Januar 2024

Wochenplan (Updates)

Vernissagen Projektklasse Dirk Fleischmann: „Runaway Process“ / Akademiegalerie, Mari Iwamoto & Zhipeng Wang: „Double Shadows“ / Kunstarkaden, Käthe deKoe, Eva Gantar, Korbinian Vogt & Laura Zalenga / Ingo Seufert  und Milen Till: „Parkett“ / Klüser; Cheers #28 – Treffen der Münchner Musikszene: „Wie komme ich auf die Münchner Bühnen?“ / Milla; „Role Models: Haya Molche“ / ZDF-Mediathek; Rapunzel-Challenge / Lipperts; Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung mit US-Botschafterin Amy Gutmann: „Standing Up & Speaking Out for Democracy“ / LMU-Audimax; „Ach Europa!“: Podiumsdiskussion „Gibt es eine europäische Verfassungsidentität?“ mit Dieter Grimm, Ulrich Haltern und Eva Ellen Wagner/ Center for Advanced Studies der LMU; Vortrag von Jeff Wall / Lenbachhaus; Richard Linklaters „A Scanner Darkly“ / City; Thomas-Brasch-Retrospektive: „Lieber Thomas“, „Engel aus Eisen“, „Domino“ (Foto) und „Der Passagier – Welcome to Germany“ / Filmmuseum; Vollversammlung des Stadtrats / Rathaus & Livestream; Festakt 125 Jahre Maria-Theresia-Gymnasium / Salesianum; Grand Opening der Stadtsparkassenfiliale für Studierende und junge Erwachsene / barer41; „Global und gerecht – Wege aus einer Ökonomie der Ungleichheit“ mit Flávio Benites, Kathrin Hartmann, Nina Treu, Aram Ziai und Aïda Roumer / EineWeltHaus; Moshtari Hilal liest aus „Hässlichkeit“ / Zirka; Munich Spirits / MVG-Museum; Chinesisches Neujahrsfest / Chinesische Schule; Erstausschank des alkoholfreien Hellen der Klosterbrauerei Andechs / Bräustüberl; Kida Khodr Ramadans „Testo“ / ARD-Mediathek; Rock-Festival: Michael Sandvoss über magische Kommunikation / Lakoula; Frauen unter Palmen: Justine Triets „Solférino“ über die französische Präsidentschaftswahl 2007 / Filmmuseum; „Sløborn III“ / ZDFneo; Tag der offenen Akademie / Theakerakademie August Everding; Grammy Awards / MagentaMusik

Mittwoch, 24. Januar 2024

barer41 oder die Gentrifizierung meiner Straße

Als ich 2003 in die Barer Straße zog, hieß sie unter den hier ansässigen Geschäftsleuten wegen schwacher Umsätze die Null-Euro-Meile. Und von deren Betrieben, ob Metzger, Lüsterladen, Modernes Antiquariat, Boutique, Buchhandlung, Schreibwarengeschäft oder Nagelstudio, existiert zweizwanzig Jahre später kaum noch eines. Rundherum das Univiertel, seit der Bezirksreform der 1970er-Jahre offiziell Maxvorstadt, aber im Volksmund Schwabing, wenn auch nur gefühltes Schwabing. Aber shoppen, Kaffee trinken, essen oder feiern gingen die Studierenden um die Ecke, in der Schelling-, Türken- oder Amalienstraße. Die Barer Straße, benannt nach dem französischen Bar-sur-Aube und den Befreiungskriegen, war tot. Bis 2007 die Berisha-Brüder kamen und das Barer 61 gründeten.

Wenn die Stadtsparkasse nun am 1. Februar, nach über einem Jahr Umbauzeit, ihre erste Filiale für Studierende und junge Erwachsene präsentiert, das barer41, das mehr einem hippen Café als der Niederlassung einer Bank ähnelt, dann wären wohl weder diese schnieke Sparkasse, noch ihr Name ohne die Vorarbeit der Berishas vorstellbar.

2007 verwandelten Barry und Avni Berisha einen ehemaligen Schuhladen in das Barer 61, einem Café, das mehr nach Berlin als München aussah. Ein Sammelsurium an Einrichtungsstilen („Villa Kunterbunt“, so der „Prinz“). Eine Karte, die mit ihren frisch gepressten Säften, Wraps und Piadine heute Standard wäre, damals aber neue Maßstäbe setzte, die dann viele kopierten. Der beste Kaffee im Viertel, die schönsten Kellner*innen, Zeitungen und WLAN, kurzum: der perfekte Nachbarschaftstreff, der die ganze Nachbarschaft aufrüttelte und verwandelte. 

Und selbst Vice in Erregung versetzte: „Wäre einfach ein ganz passabler Laden, um zu frühstücken oder Mittag zu essen, wenn es da nicht noch die Mädchen hinter der Bar gäbe, die so unglaublich heiß sind, dass es keinen besseren Ort gibt, um schon um elf Uhr morgens beim Zeitungslesen einen Ständer zu kriegen.“ 

Ich war vom ersten Tag Gast, Stammgast und nannte es alsbald mein Wohnzimmer, wo mich dann auch der „Stern“ fotografierte und „Spiegel“-Reporterin Laura Backes interviewte.

Nach dem erfolgreichen Blitzstart des Tagescafés Barer 61 übernahmen die Brüder ein paar Häuser weiter das legendäre Schultz, nannten es BARer 47 und hatten nun auch noch ein nächtliches Standbein. Die Straße war bald nicht mehr wiederzuerkennen. Pures Leben, Pop-up-Läden (als einer der ersten 2007 meine 100 Tage Bücher), hippe Boutiquen, aber auch Gewerbemieten, die sich verdreifacht haben. Gentrifizierung.

Aus dem Barer 47 wurde inzwischen Klaus Gunschmanns Fox, das Barer 61 gehört immer noch den Berishas, wurde aber nach einem Konzeptwandel während der Corona-Zeit in Nebenan unbenannt. Und jetzt kommt ausgerechnet die Stadtsparkasse recht spät zur Party und nennt ihre neue hippe, junge Filiale barer41: „Deine Homebase.“ „Ein Raum für frische Ideen.“ „Und leckeren Kaffee gibt es natürlich auch.“ Samt „Grand Opening“ am 1. Februar mit „Showtime“ um 13 Uhr und „Party“ ab 19 Uhr. Das war's wohl mit meiner Straße.

Montag, 22. Januar 2024

Wochenplan (Updates)

Vernissagen Bayerischer Kunstförderpreis ft. Lukas Hoffmann, Jonathan Penca, Gülbin Ünlü und Max Wencelides / Galerie der Künstler, Ilit Azoulay: „Queendom – Navigating Future Codes“ / Museum der Moderne Salzburg, „Geliebte Gabi. Ein Mädchen aus dem Allgäu – ermordet in Auschwitz“ / Bayerischer Landtag, Nomi Baumgartl: „Eternal Icons“ / Leica Galerie, „Chapeau Fred“ / Jahn & Jahn, Christian Jankowski, Alastair Mackie, Yves Netzhammer & The Icelandic Love Corporation: „Catch Me if You Can“ / Eres und Irving Penn: „The Bath“ sowie Jonathan Lasker: „Painting and Drawing“ / Thaddaeus Ropac Salzburg; „Blue Velvet“ / arte; Bekanntgabe der Oscar-Nominierungen; Verleihung der Ernst-Hoferichter-Preise an Katja Huber und Pierre Jarawan / Literaturhaus; Nicolas Roegs „Walkabout“ / Filmmuseum; Fokus LMU: Podiumsdiskussion „Künstliche Intelligenz verstehen – Chancen, Grenzen und Gefahren“ mit Björn Ommer, Jelena Spanjol, Maximilian Eder und Oliver Jahraus / Große Aula; Mobilitätsauschuss / Rathaus; 3. Katholische Armutskonferenz / Katholische Akademie; Lagerverkauf / Kostüme Breuer; Buchpräsentation „Das Paulanerkloster in der Au. Eine Spurensuche am Mariahilfplatz“ / Paulanerkloster; Vorstellung des Computerspiels „Last Seen“ zu NS-Deportationen / Wittelsbacher Gymnasium; Alumni Forum: Susanne Hermanski & María Inés Plaza über Kunstkritik / Akademie der Bildenden Künste; FC Bayern vs. 1. FC Union Berlin / Allianz-Arena; Kerstin Stremmel & Dorothea Volz: „Eine kleine Geschichte der Theaterfotografie“ / Deutsches Theatermuseum; „Wie denkt die Generation Future über die Welt von morgen?“ Vorstellung der Zukunftsstudie der Schörghuber-Gruppe / Presseclub; Demo für das B2-Kulturprogramm und gegen den „Bayerischen KulturSchrumpfFunk“ / Rundfunkplatz; „Dialog mit der Wirtschaft: KI in der Praxis – Cybersicherheit, Datenschutz, Urheberrecht“ / IHK; Art & Tech Talk: Betty Mü – „Von Super 8 zum Megamapping - Videoart, Immersion und AR“ / Wavelab; „Liebe & Hot Schoki“ – ein cozy Leseabend / Glitch BookstoreThe Perfect Runway Charity Gala / BMW-Welt; Bayerischer Landesfrauenrat: „Feminismus – wann, wenn nicht jetzt?“ / Allerheiligen Hofkirche; LUNAparty / Bayerischer Hof; „Expats“ mit Nicole Kidman / Amazon Prime; andererseits. Literatur trifft Wissenschaft: Lesung und Gespräch über „Die Verwandelten“ mit Ulrike Draesner, Heide Glaesmer und Frieder von Ammon / LMU; Special Screning von „Stella. Ein Leben“ mit Regisseur und Drehbuchautor Kilian Riedhof / Astor im Arri; Podiumsdiskussion „Trauma und Wirklichkeit. Antisemitismus und jüdische Lebensrealitäten“ mit Doron Rabinovici, Laura Cazés, Lena Gorelik und Richard Chaim Schneider / NS-Dokumentationszentrum; Thomas-Brasch-Retrospektive: „Lieber Thomas“ (Foto) und „Engel aus Eisen“ / Filmmuseum; Jugendpolitischer Jahresauftakt des Bayerischen Jugendrings mit Ursula Münch, Thomas Rudner, Julia Post, Christian Schoppik, Philipp Seitz und Antonia Goldhammer / Institut für Jugendarbeit ; Konferenz „War Unmasked“ / Bellevue di Monaco & Fat Cat; Lesung & Live-Performance Hans Platzgumer & Carl Tokujiro Mirwald / Optimal

Donnerstag, 18. Januar 2024

Agora (10): Anton G. Leitner über Hans Schober, Studiendirektor des Wittelsbacher Gymnasiums

Meine alte Schule, das Wittelsbacher Gymnasium, war schon eine prägende – oder deformierende? – Anstalt. 1907 gegründet, von 1922 bis 1930 unter der Leitung von Gebhard Himmler, Vater von Heinrich Himmler und Protagonist von Alfred Anderschs „Der Vater eines Mörders“. Neben Andersch gingen hier auch Eugen Roth, Carl Orff, Gustl Bayrhammer, Dieter Kronzucker, Fritz & Elmar Wepper, Peter Sloterdijk, Ulrich Chaussy, Rainer Maria Schießler und Anton G. Leitner zur Schule. Und ab 1974 sogar Mädchen. Was alsbald zu einem ersten Verweis wegen Knutschens am Sportplatz führte. Verschärfend kam zum Tragen, dass es sich beim Partner der Schülerin um ein „schulfremdes Element“ gehandelt hatte. 

Zwischen Circus Krone, Spaten-Brauerei, Finanz- und Landeskriminalamt gelegen, war die Stimmung am Wittelsbacher eben streng-konservativ, was man seinerzeit gern als humanistisch verbrämte. Selbst wenn der Lehrer unaufmerksamen Schülern den Schlüsselbund an den Kopf warf. 

Anton G. Leitner, Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift „Das Gedicht“, war mit mir in einem Jahrgang, wenn auch im humanistischen Zweig mit Altgriechisch. Das lehrte Studiendirektor Hans Schober, Ständiger Erster Stellvertreter des Schulleiters. Uns Neusprachlern blieb er als Lehrer erspart, aber alle Schüler*innen fürchteten ihn als Höllenhund an der Schulpforte, der pünktlich zum Unterrichtsbeginn um 8.15 Uhr jedem auflauerte, der zu spät kam, um ihn aufzuschreiben. 

In den letztes Jahr veröffentlichten Erinnerungen „Vater, unser See wartet auf dich“, widmete Leitner unter der Überschrift „Die alte und neue Schule des Werdens“ eine Doppelseite auch Schober: 

»Mei, Donal, des wead schwea füa di, wei dei Vadda scho ois Bua bei mia an Homäa vom Blaadl weg üwasezzn hod kenna«, unkte unser Kondirektor Hans Schober schon vor meiner allerersten Altgriechischstunde bei ihm. Schober, jener holzgeschnitzte Steißtrommler, der selbst Hitlers Russlandfeldzug überstanden hatte, als junger Leutnant, unverwechselbar durch die rosazeageröteten Wangen und seine mit grauem Haarflor umkränzte, tagtäglich auf Hochglanz polierte Glatze, kurzum: die unbestrittene Koryphäe des Nachkriegs-Humanismus an den höheren Lehranstalten im Freistaat. 

Er war ein erklärter Gegner der Koedukation, versteht sich, Vertreter der ziemlich nassen Käsar-und-Kikero-Aussprache im Lateinischen. Damals beherrschte ich noch nicht einmal das griechische Alphabet. Weil Vater es sehr angebracht erschien, mich zu einem besseren Menschen erziehen zu lassen, hatte er meinen Wechsel ans humanistische Gymnasium fürs neunte Schuljahr veranlasst, ohne dabei zu bedenken, dass ja meine zukünftigen Leidensgenossen schon ihr ganzes achtes Schuljahr lang im Gegensatz zu mir zwei Stunden Altgriechisch pro Woche eingetrichtert bekommen hatten. »Des wead scho, Bua«, so sein altbewährtes Baldrian-Ersatz-Placebo, und im äußersten Notfall verabreichte er mir als naturbelassenes Allheilmittel eine Einzeldosis »Scheiß da nix!« 

Als mir Schober die erste Extemporale mit geschwungener roter Riesensechs plus Stern auf die Schulbank knallte und bemerkte: »Du bist vollkommen unbegabt!«, war ich noch nicht einmal fähig, seine Stegreifaufgabe zu lesen, geschweige denn zu lösen, und schiss mir fast in die Hose vor Angst. Jahre später klopfte mir der alte Schober nach einer Lesung im Lyrik Kabinett München jovial auf die Schulter und schlug mich nebenbei auch noch zum Ritter: »Des hädd i ma damois need dengd, dass aus dia aa no amoi wos wean kannd, awa a Hundling bisd ja oiwei scho gwen.« Spätestens da begann mir Vaters Panazee, sein metaphorischer Stein des Weisen »Das wird schon« einzuleuchten, weil das, was werden kann, auch wird. Vielleicht. Einmal.

Dienstag, 16. Januar 2024

Warum Pfarrer Rainer Maria Schießler so gern Augustiner-Wirtschaften einweiht

Franz Kotteder enthüllte in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 13./14. Januar 2024, warum Pfarrer Rainer Maria Schießler (Foto) so gerne Augustiner-Wirtschaften einweiht: Schießler und Augustiner-Vorstand Martin Leibhard waren – wie ich auch – auf dem Wittelsbacher Gymnasium neun Jahre lang in derselben Klassenstufe. (Wenn auch nach der Unterstufe in unterschiedlichen Klassen. Leibhard bei den Altsprachlern in der a, Schießler bei den streberhaften Neusprachlern in der b – ich dagegen natürlich bei den Problemfällen in der c.) »Eines aber bleibt weiterhin ungeklärt, so Pfarrer Schießler: „Wir wissen bis heute nicht, wer damals in Latein von wem abgeschrieben hat."«

Montag, 15. Januar 2024

Wochenplan (Updates)

Auftaktveranstaltung zum Bayerischen Aktionsplan Queer / Community Kitchen; Start der 4. Staffel von „True Detective“ – „Night Country “mit Jodie Foster (Foto) / Sky & Wow; Carte Blanche für Hartmut Bitomsky: „Der VW-Komplex“, „Die UFA“, „B52“, „Imaginäre Architektur“, „Staub“ sowie Jean-Luc Godards „Les Carabiniers“, Jacques Beckers „Touchez pas au Grisbi“, John Carpenters „Assault on Precinct 13“, Michael Millers „Jackson County Jail“, John Cassavetes' „Killing of a Chinese Bookie“ und Michael Ciminos „Heaven's Gate“ / Werkstattkino; 75th Emmy Awards; Auftakt zu den Jüdischen Filmtagen mit „Irena's Vow“ / Jüdisches Gemeindezentrum; Filmwoche München; Podiumsdiskussion „Wie das Feuilleton Theater macht“ mit Dorte Eilers, Ruth Walz und Hanns Zischler / Deutsches Theatermuseum; David Cronenbergs „Videodrome“ mit James Woods / City; Werner Fritsch: „faust sonnengesang“ / Klang im Dach; Pressebriefing zur Reform des EU-Streamingmarktes für Musik – mit MdEP Niklas Nienaß, den Musikern Christopher Annen und Balbina Jagielska sowie dem Komponisten Matthias Hornschuh / Europäisches Parlament Strasbourg & online; Pressekonferenz zur Generalsanierung / Stadtmuseum; Präsentation des DB-Baufahrplans 2024 / Infozentrum Zweite Stammstrecke; „Ach Europa!“ – Podiumsdiskussion zu „The Fragmentation of Political Order: Europe and Beyond“ mit Tobias Bunde, Ursula Schröder und Moritz Weiss/ Center for Advanced Studies LMU; Buchvorstellung „Kunst und Gesellschaft 1972 – 2022 – 2072: Von der Kunst für die Olympischen Spiele in München 1972 zu künstlerischen Gestaltungskonzepten des 21. Jahrhunderts“ / Villa Stuck; Artist Talk: Gregor Hildbrandt / Galerie Lohaus Sominsky; Südbahnhofkonzert mit Kuschelpunk, Sophia Wolz und Suntone / Bahnwärter Thiel; „Sex, Macht und Lügen“ / 3sat; Retrospektive Claire Simon: „Récréations“ / Filmmuseum; Retrospektive Alex Garland: „Never Let Me Go“ und „Ex Machina“ / Filmmuseum; Ronja von Rönne: „Trotz“ / Hotel Orphée Regensburg; Vernissagen Terence Carr & Xiao Hui Wang / Galerie an der Pinakothek der Moderne, „What are You Looking at?“ / Tanit, Bettina Khano: „Dazwischensein“ / DG Kunstraum, „Zukunftsfähige Quartiere: Nebenan, mittendrin, daheim“ / Rathausgalerie; Podiumsdiskussion „What Happens to the … Filmszene“ mit Anja Metzger, Philipp Ernst, Oliwia Strazewski, Ana de Mier y Ortuño u. a. / Die Perle; Zwei Jahre Zentrum für interdisziplinäre Raum- und Kulturarbeit / Zirka; My French Filmfestival; Bayerischer Filmpreis / Prinzregententheater, live im ARD-Stream und zeitversetzt im Bayerischen Fernsehen; Retrospektive Julia Ducournau: „Grave“ / Filmmuseum; Fanmarsch vom Kiosk an der Wittelsbacher Brücke zum Grünwalder Stadion; TSV 1860 vs. MSV Duisburg / Grünwalder Stadion; Deutscher Filmball / Bayerischer Hof; Gemeinsam gegen Rechts – Für Demokratie & Vielfalt: Großkundgebung gegen Rechts / TBA Siegestor; Krims & Krams Flohmarkt / Bahnwärter Thiel; Beth B.: „Lydia Lunch – The War is Never Over“ / Werkstattkino  

(Foto: Home Box Office/Sky)

Samstag, 13. Januar 2024

Aus für Münchens coolsten Kiosk

Für die „Abendzeitung“ war es 2014 „Münchens coolster Kiosk“, für mich ein roter Fixpunkt in meinem Leben. Dort, wo es vom Lehel in den Englischen Garten reingeht, zwischen Tucherpark und Chinesischem Turm, an der Ecke Oettingen- und Tivolistraße stand die Bude im 1950er-Jahre Retro-Stil, soweit ich mich zurückerinnern kann.

Auf der anderen Straßenseite, in der Geisenhofer-Klinik bin ich am 25. März 1961 geboren. Gegenüber vom Kiosk war Radio Freies Europa, und jedes Mal, wenn ich meinen Vater im Sender besuchte, lief ich dort vorbei. Die Süßigkeiten kaufte ich aber lieber in der Cafeteria im Keller von RFE, weil es dort die US-Originale von Butterfinger bis Bounty gab. Hinter dem Kiosk lag die Tivoli-Tennisanlage, wo ich die erste und einzige Tennisstunde meines Lebens hatte.

Dieser Blog hier hieß bis 2010 Tivoli-Blog, weil sich an dieser Ecke Münchens viele Stränge meines Lebens kreuzten. Und selbst als mein Vater lange tot und der Sender nach Prag umgezogen war, kam ich an dieser Ecke nahezu täglich vorbei. Sei es auf dem Arbeitsweg von meiner Wohnung im Univiertel zu den Redaktionen der „Cosmopolitan“, „Shape“, „freundin“ und „DONNA“ oder als ich neun Jahre lang meine Mutter bei ihr daheim im Arabellapark pflegte.

2014 drehte der Münchner Regisseur Tim Trachte seinen Film „Abschussfahrt“. Jenny Elvers spielte darin in einer kleinen Nebenrolle die Mutter eines der Protagonisten. Vor ihrem Kiosk trafen sich die Teenager, die im Mittelpunkt des Films standen, immer nach der Schule. Und für diese Szene brauchte Trachte die perfekte Location: „Einen typischen, alten Originalkiosk. Davon gab's damals nicht mehr so viele in München.“ Hier wurde er fündig.

Inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Kioske erleben in München eine neue Blütezeit. Und für den Traditionskiosk in der Oettingenstraße 80 sah es auch hoffnungsvoll aus. Die alten Räume von Radio Freies Europa hatte die Ludwig-Maximilians-Universität für ihre Studierenden übernommen. Aus der neunzig Jahre alten Tivoli-Tennisanlage war – gegen viel Widerstand der Anwohner*innen – 2015 ein Containerdorf der Bildung geworden. Ausweichquartier wechselnder Schulen, erst Wilhelmsgymnasium, dann Maximiliansgymnasium und aktuell die Helen-Keller-Realschule. Studierende und Schüler*innen in unmittelbarer Nachbarschaft, vom Publikum des Englischen Gartens ganz zu schweigen – was kann sich ein Kioskbesitzer mehr wünschen?

Um so überraschter war ich, als ich zwischen den Jahren entdecken musste, dass der Kiosk abgerissen worden war. Geschlossen war er seit einem Wasserschaden schon länger, und der Hauptmieter war auch nicht mehr der Jüngste. 

Laut dem Kommunalreferat der Landeshauptstadt München mit den entsprechenden Konsequenzen: „Der Mieter des betreffenden Grundstücks in der Oettingenstraße hatte seinen Vertrag zum 30.09.2023 gekündigt, da der Kiosk nicht mehr betrieben werden konnte. Der mietereigene Kiosk ist entsprechend der vertraglichen Regelung vom Mieter selbst zurückgebaut worden. Der Kiosk befand sich in einem derart schlechten Zustand (undichtes Dach, Schimmelbildung), dass keine Alternative zum Abbruch bestanden hätte.“

Kein Wort dazu, dass es für einen so traditionsreichen Kiosk mit Uni und Schule in unmittelbarer Nachbarschaft, in attraktiver Nähe zum Englischen Garten sicher Interessenten gegeben hätte, um das Geschäft fortzuführen.

Grundstücksbesitzer ist die Stadt, Vermieter aparterweise das Referat für Bildung und Sport (RBS), das aktuell heiß umstritten ist, weil es die Gaststätten auf den Bezirkssportanlagen abschaffen und durch Kioske (!) ersetzen will. In der Oettingenstraße dagegen scheint das RBS den Tod des Kiosks gebilligt, wenn nicht gar gewünscht und gefördert zu haben. Wird das kleine Eckgrundstück nun den Schulcontainern zugeschlagen oder wollte man langfristig die Nutzung des gesamten Karrées Oettingenstraße 74-80 für die Zeit nach der Zwischennutzung als Ausweichquartier Münchner Schulen vor einem möglicherweise als störenden Kioskpickel empfundenen Nachmieter bewahren? 

Die Referate für Stadtplanung und Bauordnung sowie Bildung und Sport haben entsprechende Anfragen noch nicht beantwortet.

Laut dem Referat für Stadtplanung und Bauordnung „sind keine Wohnungen geplant. Die Ziele der Stadtentwicklung aus dem Flächennutzungsplan (Sport- und Freizeitflächen) gelten nach wie vor. Die angesprochene Nutzung der Sportanlagen ist auch für die nächsten zehn Jahre genehmigt.“ 

Marc Reimanns Standfotos von „Abschussfahrt“.
Yunus Hutterers winterliche Kiosk-Szene.

(Fotos: Dorin Popa, Marc Reimann/Rat Pack)

Montag, 8. Januar 2024

Wochenplan (Update)

Free-TV-Premiere „House of the Dragon“ / Pro Sieben; Vernissagen Ena Oppenheimer & Ray Moore: „Surprise“ ft. The Jackson Twinz / Orangerie, Sascha Wussow: „Paper(is)Back“ / La Art Gallery, Kedimari & Akihito Takuma: „Ostranenie“ / Benjamin Eck Projects, Julie de Kezel & e.lin: „Vom Wesen der Erde“ / Bergson Pop-up, Jim Avignon: „Edge of Reality“ / Galerie Heitsch und Anna Bachner: „Connected to be Disconnected“ / Farbenladen; Der Greif X Grisebach anläßlich der Online-Auktion „Photography“: Talk & Drinks / Grisebach München; John Landis' „Into the Night“ (Foto) mit Jeff Goldblum, Michelle Pfeiffer, Dan Aykroyd, Irene Papas, Roger Vadim, David Bowie, David Cronenberg, Vera Miles, Paul Mazursky und John Landis / Filmmuseum; Ausschuss für Stadtplanung und Bauordnung u. a. zum Candid-Tor und Brenner-Nordzulauf / Rathaus; Pressegespräch des Adalbert-Stifter-Vereins zum Kafka-Jahr / Literaturhaus; Tourpremiere von „Im toten Winkel“ mit Regisseurin Ayşe Polat und Hauptdarstellerin Katja Bürkle / Arena;  Kulturausschuss / Rathaus; Zum Gedenken an Olga Maier: Gedenkveranstaltung/NS-Dokumentationszentrum, Anbringung des Erinnerungszeichens / Arcostraße 1 und Empfang mit Ausstellungsrundgang / Jüdisches Museum; Kinostart „The Royal Hotel“„Vom Menschsein in Ausnahmesituationen“ – Kinokonzert mit Hanna Schygulla und Etta Scollo / Filmmuseum; Carte Blanche für Hartmut Bitomsky / Werkstattkino; Volker Weidermann: „Mann vom Meer – Thomas Mann und die Liebe seines Lebens“ / Literaturhaus; Frank Nonnenmacher & Anja Scheifinger: „Woher kommt der Haß? – Kontinuität von sozialer Ausgrenzung und Gewalt“ / NS-Dokumentationszentrum; Schwerpunktabend „München 7“ anläßlich von Franz Xaver Bogners 75. Geburtstag / Bayerisches Fernsehen; Maya Derens „Meshes of the Afternoon“ & Stephanie Rothmans „The Velvet Vampire“ / Werkstattkino

Samstag, 6. Januar 2024

Mein Verein für alle Zeit

Auswärtsspiel. Drangvolle Enge in der Gästekurve. Den Blick aufs Spielfeld blockieren immer wieder die zahllosen hin und her geschwungenen Sechzger-Fahnen. Begeisterte, empörte oder auch nur betrunkene Fans rempeln dich an. Pyro vernebelt die Sinne. Im Fernsehen würde man mehr von der Partie sehen. Aber spüren, wirklich spüren kann man Fußball nur im Stadion. 

Manne besaß deshalb noch nie ein Abo für Sky oder Magenta, die die Spiele im Fernsehen übertragen. Er ist selbst vor Ort. Nicht nur bei den Heimspielen im Grünwalder Stadion und den wichtigen Partien auswärts, sondern immer, wenn der TSV irgendwo antritt. Manne ist Allesfahrer. Schon sein Vater war Sechzger-Fan, damals als der Verein noch eine Größe war und international spielte. 1965 in Wembley. Europacup-Finale gegen West Ham United. Fünf Tage war der Vater mit Bus und Fähre nach London unterwegs. Für ein Spiel. 

Damals hat die „Abendzeitung“ die Reise organisiert. Heutzutage sind solche Reisen für jeden allein machbar: DB-App, Google Maps – alles leicht zu managen, aber Manne kann sich noch an internationale Partien Ende der 90er-, Anfang der Nuller-Jahre erinnern, in Zeiten ohne Internet, bei denen er im UI-Cup oder in der Europa League zu gegnerischen ausländischen Clubs wie Kaučuk Opava oder FK Drnovice gefahren ist, ohne genau zu wissen, wo in Tschechien er hin muss, und sich von Prag aus durchfragte. 

Inzwischen klingt Mannes Auswärtsbilanz heimeliger. Eben nach Dritter Liga, Vorbereitungsspielen, wichtigen Begegnungen der Jugendmannschaften oder dem nur bayernweiten Toto-Pokal: Sparkassen-Arena Neuburg, Sportzentrum Vaterstetten, Stadion im Brötzinger Tal. Seine Fähre brachte ihn nicht über den Ärmelkanal, sondern über die Förde zum Spiel gegen Holstein Kiel. Aber ein Match im oberbayerischen Pfarrdorf Pipinsried strahlt in den Erinnerungen eines Allesfahrers nicht weniger Glanz aus als jedwelche internationale Begegnung. In dreißig Jahren hat Manne nur fünf Pflichtspiele verpasst.

Und manchmal verschmelzen die glorreichen Zeiten der Vergangenheit mit der drittklassigen Gegenwart über die Generationen hinweg. Für Manne war es schon etwas besonderes 2021 beim Auswärtsspiel in der Roten Erde bei Dortmund zu sein: „In dem Stadion hat 1966 mein Papa die Löwen zum 2:0 Sieg geschrien und damit den Weg zur einzigen Meisterschaft geebnet. Ich und einer seiner Enkel waren dann als die nächsten beiden Generationen in demselben Stadion und haben die Löwen wieder zu einem 2:0 Sieg geschrien (der zweifelsohne nicht die gleiche sportliche Bedeutung hatte).“ Für Manne war das wahnsinnig emotional und auch sehr wichtig, mit dem Kind, das seinen Opa nie kennengelernt hat, am selben Ort zu sein. 

Roman kennt die gute alte Zeit noch aus eigener Erfahrung. Als er den Fußball für sich entdeckte, stand der TSV 1860 München spielerisch noch nicht im Schatten des FC Bayern. Allesfahrer hießen Schlachtenbummler. Ein Fußballspiel dauerte auch damals gewöhnlich 90 Minuten. Aber in Romans Erinnerung leben die Partien über den Schlusspfiff fort. Sein erstes Auswärtsspiel? 4. Oktober 1970 in Ingolstadt. 0:1 verloren. Zu jedem Datum, Gegner oder Spielort scheint er die passenden Daten, wichtigsten Spielszenen aus dem Stegreif parat zu haben. Inzwischen hat er 1438 Auswärtsspiele besucht. In Deutschland, Europa und sogar in Südkorea. Peace-Cup 2003. Acht Mannschaften, darunter Beşiktaş, Olympique Lyon, Eindhoven – und eben der TSV 1860, der kurzfristig für den ausgefallenen Bayer 04 Leverkusen eingesprungen ist. Sieben Sechzger-Fans sind hingeflogen. 

Eine Million Kilometer hat Roman als Allesfahrer insgesamt bereits zurückgelegt. Das sind viele Niederlagen. Und ihm genügt es nicht, nur dabei zu sein. Das Spiel bloß als Feier in der Fankurve genießen, egal wie es endet. „Für mich ist der Sport, der Fußball, das Ergebnis das Wichtigste. Lieber gewinnen und keine Party als umgekehrt.“ 

Die Zuversicht zu gewinnen, bleibt. Aber wenn man die Entwicklung des Vereins über die letzten Jahrzehnte verfolgt, kann es nicht nur das sein. Wer Siege braucht, ist in München eher Bayern-Fan. Wer sich traut, mit Niederlagen zu leben, ein Blauer. Und niemand sammelt neben all den Begegnungen, Erinnerungen, Höhepunkten auch so viele schmerzliche Momente wie die Allesfahrer*innen. Sie sind bei einem Drittligaverein wie dem TSV 1860 Leidensgenoss*innen. Vereint im Schmerz wie im Siegesjubel. Nur dass letzteres weit seltener ist. 

Und diese Gemeinschaft wird auch schon seit Bundesligazeiten in der Vereinshymne beschworen. Der Sechzger-Marsch mit seinem „57, 58, 59, 60“ wird bei jedem Heimspiel gespielt. Und auswärts stimmen ihn die Fans an: „Mein Verein für alle Zeit wird 1860 sein! Ein Verein, der hat es gar nicht leicht, wenn er will, dass er sein Ziel erreicht. Aber wir, wir sind fein heraus: Die Kameradschaft, ja die Kameradschaft, die macht bei Sechzig alles aus.“ 

Bei Heimspielen ist ganz Giesing ein einziges Vereinslokal. Bei Auswärtsspielen werden es die Regionalzüge. Für Bundespolizei, Bereitschaftspolizei und DB-Sicherheit Großkampftage, an denen sie auch schon einmal normale Fahrgäste grundlos davor warnen, Zugteile zu betreten, die in der Hand der Sechzger-Fans sind, die ordentlich vorgeglüht haben. Die gute Laune äußert sich laut, bleibt aber zumeist friedlich. Bis dann auf dem Weg vom Bahnhof zum Stadion Bus oder Tram einem Belastungstest unterzogen wird, wenn auf und ab gehüpft oder mit den Händen gegen die Scheiben geklopft wird. Aber nicht jeder Ultra ist ein Allesfahrer und nicht jeder Allesfahrer ein Ultra. Es gibt Schnittmengen, Trennlinien und in der Regel können auch alle miteinander. Nur die Neonazis, die einem vor einigen Jahren mit ihren verbotenen Tattoo noch überproportional bei den Auswärtsspielen der Sechzger in der Gästekurve auffallen konnten, weil sie dort unter einigen hundert oder tausend prozentual stärker vertreten waren als im ausverkauften Grünwalder Stadion, sind von den anständigen Fans erfolgreich verdrängt worden. 

Die Fanblase ist ein durchaus effizientes, sich selbst regulierendes Gebilde, das auch Busse zu den Auswärtsspielen organisiert, inklusive Essen und Trinken. Auf dem Parkplatz der Stadien bilden die Busse eine laut beschallte Fanmeile. Jeder Bus sein eigener Dancefloor, es gibt die neuesten T-Shirts, Schals und Fanmagazine zu kaufen, eine Sinfonie in blau, argwöhnisch beäugt von den Spezialkräften der Polizei.

Blau. So hat Manne sein Haus in Neuaubing gestrichen. Silvia trägt blauen Nagellack und Roman trägt auch an spielfreien Tagen Sechzger-Klamotten, wenn er durch Berg am Laim läuft. Das sind keine Wochenendrebellen. Allesfahrer*innen geben ihr Leben und erhalten dafür mehr als eine Kameradschaft, sie bilden eine Familie. 

An jedem Spieltag steht Silvia aus Röhrmoos als Erste im Stadion, um ihre eigene Zaunfahne aufzuhängen und Platz für die Banner befreundeter Fans freizuhalten. Sie ist erst spät zur Allesfahrerin geworden. Ihr Vater, ein Schuster in Dachau, war zwar auch schon Löwenanhänger, aber nie bei einem Spiel gewesen. Sie selbst war vor fünf Jahren das erste Mal überhaupt bei einem Sechzger-Spiel und dann „hängengeblieben“. Als Dorfgewächs mag sie München nicht sonderlich, aber Giesing schon. „Wenn ich ins Grünwalder gehe, ist das ein schönes Gefühl. Das ist mein Stadion, einfach einzigartig.“ Und etwas davon begleitet sie auch zu jedem Auswärtsspiel, „wenn man immer dieselben Leute trifft. Das ist total nett. Jeder redet mit jedem.“ 

Hunderte, wenn nicht sogar Tausende begleiten den TSV 1860 bei jedem Auswärtsspiel. 1250 nach Saarbrücken, 1400 nach Köln, 2500 nach Pipinsried, über 3000 nach Ingolstadt, an die 10.000 nach Ulm. Manche folgen nur gelegentlich ihrem Verein, viele regelmäßig und einige immer. 102 Namen zählt die offizielle Allesfahrer-Liste des TSV 1860 München. Alles treue Fans, denen jeweils zwei Eintrittskarten für Auswärtsspiele vorab reserviert oder entsprechende Links zu den gastgebenden Vereine vermittelt werden. Silvias Kollege bei der Raiffeisenbank steht auf der Liste und so ist sie auch immer dabei im Stadion. 

Fast immer. Denn ein Spiel, in Münster am 15. Oktober, haben Silvia, Oskar und viele andere Allesfahrer*innen ausfallen lassen müssen. Denn in der Woche fand die Jahreshauptversammlung des 1. Löwen-Fanclubs Mallorca statt, eine Art Meta-Community der Sechzger-Anhänger. Sonst findet dieser Betriebsausflug des Löwenrudels immer in einer spielfreien Woche statt, aber heuer hat die FIFA die Pläne durchkreuzt, der dritten Liga doch nicht spielfrei gegeben und die Allesfahrer*innen mussten sich plötzlich entscheiden: Kameradschaft oder Pflichtspiel beim SC Preußen Münster? Die Kameradschaft siegte. 

Dabei verpaßt Oskar ungern eine Partie. Es ist für ihn nicht nur eine „Herzensangelegenheit“, jedes Mal im Stadion zu sein, er guckt sich das Match danach noch einmal daheim im Lohhof an, um jeden Spielzug, jeden Moment genau zu analysieren. Selbst die Historie der Unparteiischen checkt er online und hat parat, wenn ein Schiedsrichter nicht nur gegen Sechzig exzessiv zu den gelben oder roten Karten griff, sondern zuvor bereits bei einem Spiel in Niedersachsen neun Karten zückte. 

„Ich lese alles, mich interessiert alles.“ Und damit endet es nicht für Oskar. Denn: „Viele schauen nur, aber ich bin einer, der mitreden will.“ Er produziert den Podcast „Löwenfrühstück“, bezeichnet sich selbst mit über 4500 Sechzger-Bildern als Selfie-König und kandidierte schon – erfolglos – als Präsident und für den Verwaltungsrat. Wenn der Verein kurzfristig einen neuen Profispieler engagiert, klingelt das Telefon bei Oskar und er besorgt ihm binnen ein, zwei Tagen eine Wohnung im hart umkämpften Münchner Immobilienmarkt. Er ist der begnadete Netzwerker. Und dabei doch nur ein Spätberufener. Als gebürtiger Wiener war für ihn die Frage: Rapid oder Austria? Und weil sein Vater Austria-Fan war, entschied sich der Sohn für Rapid.

Später wanderte er nach Bayern aus und auf der Suche nach einer örtlichen Mannschaft folgte er seinem Landsmann Peter Pacult. Als der Wiener die Löwen trainierte, entdeckte auch Oskar den Verein für sich und wurde Mitglied. Beim TSV 1860 und zwölf Sechzger-Fanclubs. Bei einigen davon auf Lebenszeit. 

Der Fußball beherrscht ihn. „Wenn Anpfiff ist, bin ich im Tunnel. Dann kann mich sogar meine Frau nicht ansprechen.“ Die er übrigens bei einem Auswärtsspiel, in der „blauen Wand“, der Gästefankurve im Nürnberger Stadion kennengelernt hat. Und auch nach dem Spiel ist er nicht zugänglich, steht vielleicht irgendwo unter den anderen Fans, muss aber erst innerlich das auf dem Platz Erlebte verarbeiten. Und doch steht für ihn an jedem Spieltag im Vordergrund, „viele aus der Löwenfamilie zu treffen“. Das sei momentan „einfach das beste, was mich am Fußball so wirklich interessiert und motiviert“. Besser als den Kick zu sehen, den Sechzig aktuell, wenn nicht seit Jahren, spielt. 

Auch Peter empfindet die spielerische Qualität der Sechziger so sehr als Stillstand, dass es für ihn mindestens genauso wichtig ist, an Spieltagen die anderen Fans zu treffen und mit ihnen zu quatschen. Da er dazu aus dem Landkreis Passau anreisen muss, sind für ihn selbst die Partien im Grünwalder Stadion zumindest entfernungstechnisch nicht unbedingt Heimspiele. Noch lieber fährt er aber zu den richtigen Auswärtsspielen. „Ich war schon in jedem Stadion von Plattling bis Leeds.“ Auswärts sei „die Stimmung immer fantastisch“. Daran ändert selbst der Empfang durch die Anhänger der anderen Mannschaft nichts. „Ich habe nie gesehen, dass jemand Stress mit den gegnerischen Fans hatte.“ 

Dabei ist Peter schnell als Blauer auszumachen. Er trägt seit 1985 Fankutten, mit einem kleinen Löwen auf der Schulter und vielen Aufnähern. Die Aufnäher sind älter als die Weste, „weil man immer rauswächst“ und die Aufnäher übernommen werden, so lange Platz ist. „Irgendwann ist Schluß.“ Inzwischen trägt er schon die dritte Kutte.

Der Hang zu Sechzig ist bei ihm familiär angelegt. Die Oma, eine gebürtige Münchnerin, kannte die Löwen-Stars der 1960er-Jahre, Radi Radenković und Rudi Brunnenmeier, DFB-Pokalsieger 1964 und Deutscher Meister 1966, persönlich. Mit dem Opa war er 1977 das erste Mal im Stadion. 

Ein Vereinskult ist auch immer ein Personenkult. Weniger, was die Funktionäre betrifft. Gerade beim traditionell zerstrittenen TSV 1860. „Ich hasse diesen Personenkult bei uns. Hasan raus? Sitzberger raus? Reisinger raus? Für mich zählt nur Sechzig!“, kritisiert Oskar die ständigen Anfeindungen gegenüber dem Investor Hasan Ismail, dem Vizepräsidenten Hans Sitzberger und dem Vereinspräsidenten Robert Reisinger.

Mit den Spielern ist es dagegen ganz anders. Manche prägen sogar den Stammbaum ihrer Fans. Als Mannes Ehefrau Marija („Ich hasse Fußball“) schwanger wurde, schwor er, falls es ein Bub wird, ihn nach dem Spieler zu benennen, der im nächsten Match ein Tor für Sechzig schoss. Und dank der Treffer von Bierofka und Winkler heißen die Kinder nun Daniel und Bernhard. Es gab damals auch Spieler mit ungewöhnlicheren Vornamen, da hat Manne „Blut und Wasser geschwitzt“, wenn Torgefahr herrschte.

Selbstverständlich hat Manne seine Frau zu Bernhards Geburt ins Pasinger Krankenhaus begleitet und war die ganze Nacht anwesend. Aber unmittelbar danach, Marija war von der Niederkunft noch benommen, fragte er: „Wie schaut’s aus, kann ich da hin? Wenn ich jetzt fahre, dann würde ich es noch nach Ulm schaffen.“ Von Marija kam aus dem Wochenbett kein Widerspruch und so ging es ab ins Donaustadion, zur Auswärtspartie Dienstagabend gegen Ulm. Die Löwen verloren 3:0, wie er sich 23 Jahre später noch gut erinnert. Es war eine Schlammwüste. Aber Manne war dabei und daher glücklich. Bernhards Geburtstag wird er so nie vergessen. Schließlich hat da Sechzig gespielt. Er geht ganz offensiv mit seiner Liebe zu den Löwen um: „Ich rauche nicht, ich saufe nicht, mein einziges Laster ist Sechzig.“ Und sowohl seine Ehefrau als auch sein Arbeitgeber hätten von vornherein gewusst, dass er „mit Sechzig einen Schuss habe“. 

Bei Silvia in der Bank weiß auch jeder, dass sie eine Blaue ist. Man nimmt bei der Urlaubsplanung Rücksicht darauf, ob sie für eine Partie oder den Besuch des Trainingslagers frei haben will. Wenn sie ausnahmsweise mal etwas Rotes in der Arbeit trägt, äußern sich die Kolleg*innen verwundert. 

Roman war zum 70. Geburtstag einer guten Bekannten eingeladen. Dann wurde für denselben Sonntag ein Auswärtsspiel in Münster terminiert. Also sagte er ihr ab. Vielleicht klappt es ja zum 80. 

So viel Vereinsliebe ist nicht jedem geheuer. Manche vertuschen sie deshalb als wäre es eine Sucht, ein Wahn, wie etwa … nennen wir ihn mal Franz. Auch Allesfahrer. Auch jemand, der sein Leben nach dem Spielplan der Sechzger ausrichtet. Ohne Kompromisse. Einer dieser Fans, die selbst Beerdigungen verschieben und Einladungen zu Hochzeiten absagen, weil sie sonst nicht zum Auswärtsspiel reisen könnten. Und deswegen Ausreden erfinden, „weil das kein Mensch versteht“. Sie leben auch für Sechzig, nur im Stillen, Geheimen. Für alle Zeit.

Eine Version dieser Reportage ist Anfang Dezember 2023 in „Mucbook“ #21 erschienen. Schwerpunktthema der Ausgabe war Mut, Zuversicht.

Montag, 1. Januar 2024

Wochenplan (Updates)

„Sleepless in Palaispolis“ / Palais; Gastrosilvester / P1; Vernissage „Avowals to the Sun“ ft. Nele Ka, Nata Togliatti, Ana Daniela Koch, Vincent Sehneuing,Vincent Schober, Laura Killer, Jakob Gilg, Zazie Julie, Lorenz Egle & Joana Loewis / Kunstpavillon; Kinostart von Sofia Coppolas „Priscilla“ (Foto); René Cléments Patricia-Highsmith-Verfilmung „Nur die Sonne war Zeuge“ mit Alain Delon, Marie Laforêt, Maurice Ronet und in einer winzigen Nebenrolle Romy Schneider / arte; Neujahrsempfang der Löwenfans gegen Rechts / Grünspitz; Rechtsterroristischer Anschlag auf die Diskothek Liverpool: Gedenken zum 40. Jahrestag / Schillerstraße 11a & Altes Rathaus; Neujahrskonzert JFK / Vega-Bar; Golden Globes / CBS & Paramount+