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Sonntag, 9. August 2020

Querelle für Heteros: Jean-Jacques Beneix' „Der Mond in der Gosse“ (1984)

Ertönte bei seinem Erstlings-Kultfilm noch der Vorwurf, „zwischen Kitsch und Kunstfertigkeit zu balancieren“, so beweist „Diva“-Regisseur Beneix mit seinem zweiten Kunstwerk, fest und stilsicher mittendrin zu stehen. Bei Vorführungen des „Monds in der Gosse“ teilt sich daher das Publikum schnell in die Fraktion der fassungslos-hysterisch Lachenden und in die Gemeinde von nach der Macht der Gefühle Gierenden.
Es geht um Vollmond und Neon, um Wasserlachen und Eisblöcke, um verwinkelte Gassen und dunkle Gewölbe einer Kirche, um Nutten und Dockarbeiter – und am Anfang von all dem war das Studio. Der Mond scheint in der Gosse von Cinecitta, dieser Film ist ein studiobedingtes Kunst-Werk, dessen maniriert unnatürliche Ausstattung und Bildgestaltung ihn vor dem Vergessen bewahren werden. „Nie ist das Licht so diffizil gesetzt worden und nie ist so differenziert fotografiert worden wie in diesem arbeitsteiligen Prozeß“, beschreibt dr Kameramann Heinz Pehlke die vergangene Studio-Ära. Und Jean-Jacques Beneix' Hafenepos ist eine einzige Hommage an die arbeitsteilige Filmgestaltung, ein perfektes Produkt von Handwerk und Technik.
Hilton McConnico, dessen Filmausstattungen charakteristisch für den französischen Film geworden sind, und dem die neue Filmzeitschrift „Fahrenheit“ im Winter eine Ausgabe widmen wird, erschuf, in der Tradition von Genets Brest und Préverts Le Havre, eine Hafenstadt voll von der schwülen Atmosphäre um ihr Leben Liebender und Kämpfender. Der Bildgestalter Philippe Rousselot kriecht mit seiner Kamera durch den Rinnstein, fährt und chwebt durch die Dekoration und tastet diva-gerecht Nastassja Kinski ab, die natürlich ihr Führungslicht bekommt.
Jean-Jacques Beneix hat sich hier an Papas Kino versucht, nahm mit einer einstudierten Vollkommenheit Frankreichs Vorkriegs-Melodramen zum Vorbild, um eine ebenso fatalistische Geschichte zu erzählen. Nacht für Nacht zieht es einen Dockarbeiter (Gérard Depardieu) in die schmutzige Sackgasse der Hafenstadt, wo sich seine Schwester nach einer Vergewaltigung umgebracht hat. Ruhelos durchstreift er Spelunkenund Straßen nach dem Täter, um seine – nur eingebildete? – Schuld an dem Unglück zu sühnen. In einer der Kneipen begegnet er der schönen Reichen aus dem Villenviertel (la Kinski), zu der er eine leidenschaftliche, doch unerfüllte Beziehung entwickelt. Sie ist die Fremde aus einer anderen, vielleicht besseren Welt, zu der er nie das Vertrauen haben wird, um aus seiner eigenen Welt auszubrechen.
Um die Affäre knüpft Beneix eine Vielfalt eindringlicher Szenen, die die leidenschaftliche Gewalt dieser Welt (Stromboli heißt hier ein oft gezeigtes Getränk), aber auch die triste Ausweglosigkeit der – umsonst – Handelnden unterstreichen sollen. Also Depressions-Kino, aber zugleich erotisches Kino, wie es auch nur annähernd kaum auf der Leinwand zu sehen ist. Denn das Spiel der Gefühle schließt hier den Körper ein, insbesondere wenn Gérards Geliebte (Victoria Abril) ihre Auftritte hat.
In dieser Sinnlichkeit unterscheidet sich „Der Mond in der Gosse“ auch am stärksten von Fassbinders „Querelle“, dessen schwüle Atmosphäre der studio-bedingt surrealen Hafenwelt er im übrigen teilt

Die Filmbesprechung erschien im „Plärrer“ 9/1984.

Donnerstag, 23. Juli 2020

Vom Bau zur Bühne: „Flashdance“ (1983)

In einer Ära der Fortsetzungskatastrophen à la „Porky's“ muß daran erinnert werden, daß Hollywoods Buhlerei um den jugendlichen Kinogänger einst auch Meisterwerke wie „Steelyard Blues“, „Clockwork Orange“ oder „Performance“ hervorgebracht hat. Don Simpson, an allen drei letztgenannten Filmen beteiligt, produzierte nunmehr für den Jugendmarkt „Flashdance“, den Sommerhit der Film- und Musikcharts.
„Flashdance“ bezeichnet die tänzerische Umsetzung von Alltagsszenen, mit der Alex, tagsüber Schweißer, am Abend auf der Bühne brilliert. Straßenszenen, etwa ein Polizist, der den Verkehr dirigiert, oder Jugendliche, die im Park mit Tanzschritten wetteifern, fallen Alex ins Auge und werden Bestandteile, Vorlage ihrer Show. Ihrer, denn Alex ist eine Frau. „Flashdance“ einer der seltenen Frauenfilme, wo die männliche Hauptrolle fast gänzlich auf ein porschefahrendes Beiwerk reduziert ist.
Im heruntergekommenen Industriegebiet von Pittsburgh schuftet die junge Alex Owens am Bau und im Nachtclub, um sich den Traum von einer Ausbildung zur Balletttänzerin zu verwirklichen. Schweiß und Ehrgeiz, doch auch Selbstzweifel und Anlehnungsbedürfnis prägen das Porträt dieser Frau, die sich privat und beruflich durchzusetzen weiß. Die groß angelegte Frauenrolle, Mittelpunkt beider Handlungsstränge, der Liebes- und der Erfolgsgeschichte, wurde um der Perfektion willen in der Besetzung wieder gesplittet, die Hauptdarstellerin Jennifer Beals in den Tanzszenen gedoubelt. Eine Professionalität, um die man auch in anderen Bereichen bemüht war: Kamera, Licht, Ausstattung und Choreographie ergänzen sich und schaffen eine perfekt durchgestylte Szenerie.
Mit diesen Rohstoffen cineastischen Könnens in den Händen inszenierte der ehemalige Werbefilmer Adrian Lyne unverdrossen das Ganze mit dem Kurzstreckenatem eines Video-Clips oder TV-Spots. Den Anforderungen eines Spielfilms, ein komplexes Handlungsgerüst zu errichten oder gar Musik- und Spielszenen in einen Guß zu bringen, scheint er nicht gewachsen. Ratlos sieht man als Zuschauer die Story hin und her springen, verärgert beobachtet man die unklaren Charakterskizzierungen, etwa wenn die Heldin zuerst als gläubige Unberührte erscheint, um dann auf einmal selbstbewußt ihren Chef zu vernaschen, damit die Handlung weitergehen kann. Beichten oder ein Todesfall werden – nur kurz angedeutet – als Stimulation bemüht, ohne näher begründet oder ausgeführt zu sein, die Möglichkeiten einer klassischen Entwicklungsgeschichte einfach verschenkt.
Entsprechend verfährt der Regisseur auch mit den zahlreichen Tanz- und Musikszenen. Einige der zahlreichen Hits, die nicht mal alle auf den Soundtrack paßten, werden nicht ganz ausgespielt, so wie es das Publikum von flüchtigen Videosendungen à la „Formel Eins“ gewohnt ist. Die atemberaubenden Tanzszenen sind oberflächlich abgefilmt, lassen den Zuschauer nur erahnen und erhaschen, aber nicht daran teilnehmen, wie etwa in „All that Jazz“ oder „Carmen“.
Die ganze Rolle der Alex Owens, die Tanznummern und Hits, „Flashdance“ insgesamt bleiben nur aufreizend und anregend. In einem erstaunlichen Ausmaß schafft es Lyne, eine nackte Schulter, Hits und Tanz zu arrangieren, optische und akustische Reize zu drapieren, ohne Befriedigung zu schaffen. Die geschürte Spannung, wenn Jennifer Beals ihren Rock hochschiebt oder Irene Cara ihr Lied trällert, bleibt im Raum, der junge Zuschauer kann sich, wird sich diesen Thrill immer wieder holen, im Kino, ais dem Walkman, in der Disco. Und niemand macht sich schmutzig, außer der Frau an der Kasse, die die Geldscheine zählt.

Diese Filmkritik erschien im „Plärrer“, Ausgabe 9/1983.

Sonntag, 19. Juli 2020

The Party is Over: „St. Elmo's Fire – Die Leidenschaft brennt tief“ (1986)

„American Graffiti“ ist längst vorbei, Wolfman Jack von MTV abgelöst und Vietnam keine Zäsur mehr. Lobbyisten und Finanzmakler in Reagans Washington stellen die Kulisse für Joel Schumachers ahornsirupsüße Filmkomödie, die wohl wirklich ein Lebensgefühl der 80er Jahre auf die Leinwand zu bannen scheint.
Passé die Zeiten der Melancholiker und Dropouts, der Kämpfer und ewigen Verlierer, vergessen die Möglichkeit, ein paar schöne Stunden im Kino könnten bewegend, mitreißend, schockierend oder doch zumindest unterhaltsam sein. Durchgestylt bis in's letzte leere Zimmer, in dem optisch wirksam schicke Tücher flattern, präsentiert uns Design-Profi Schumacher den fad-verlogenen Alltag einer Handvoll College-Absolventen, die in den letzten Zügen ihrer Nachpubertät liegen.
Ausgewälzt in der sinnlosesten Breitwand seit es Panavision gibt, zugedröhnt mit dem klebrigsten Soundtrack – aber den natürlich in Dolby, werden sieben Typen, vom Karrieristen bis zum verträumten Schriftsteller, als Abziehbilder eines jungen Amerikas verraten und verkauft! Am Scheideweg zwischen Beruf und Ehe, Selbstverwirklichung und Leistungszwang stehend, durchirren unsere jungen Stars Abenteuer zwischen Bett und Bartresen, die ja für sich genommen wie aus dem Leben gegriffen und nachvollziehbar scheinen, ob es sich um die Entjungferung oder den höllischen Drogentrip handelt.
Doch ohne jede Anteilnahme wie am Reißbrett komponiert, läßt es den Zuschauer ziemlich kalt, ob Kevin (Andrew McCarthy) wirklich schwul ist, Jules (Demi Moore) mit ihrem Chef ins Bett geht, Billy (Rob Lowe) seine Frau betrügt, Wendy (Mare Winningham) von zu Hause ausziehen will, Kirby (Emilio Estevez) auf Neureich macht, Alec (Judd Nelson) das Parteiabzeichen wechselt oder Leslie (Ally Sheedy) Mutter werden will.
Und weit spannender als das Treiben des mit Blick auf eine möglichst große Zuschauerzahl so zusammengewürfelten Hauptdarsteller-Septetts ist das geschickte product placement von Coca Cola, das in unzähligen Einstellungen immer wieder auf's Neue ins Auge fällt. Denn was die tiefen Leidenschaften des Titels betrifft: Coke is it!

Diese Filmkritik erschien im „Plärrer“, Ausgabe 4/1986.

Montag, 13. Juli 2020

Turbogeile Filmbranche: Wim Wenders' „Paris, Texas“ (1985)

Er ist schon lange unterwegs. Ein Film, der an einem 11. Januar von einem Verleih in ein Kino gebracht werden soll, darf, wird? Dies ist „Paris, Texas“. Der Film.
Den „Filmverlag der Autoren“ verbindet damit – ungeachtet jeden Festhaltens daran – nur noch Semantik und Historie. Denn der zum „Tchibo-Filmverleih“ (AZ, Frankfurt) verkommene Auswerter von Filmware à la „Das turbogeile Gummiboot“ hat in einem bis Redaktionsschluß noch nicht entschiedenen Rechtsstreit um die Verleihrechte an Wenders' Meisterwerk kein Mittel gescheut, den Regisseur zu behindern und zu beschimpfen – was von der Blockierung älterer Wenders-Filme bis zum Abstreiten jeglicher Auswertbarkeit von „Paris, Texas“ reichte.
Letztlich setzten sich die Anhänger der Filmverlagspolitik aus nur noch drei Lagern zusammen: die Turbogeilen der Filmbranche, die Deutschen, denen im Ausland erfolgreiche, viel herumreisende und auch noch selbstbewußte Landsmänner suspekt sind, und schließlich die Blauäugigen, die dem Filmverlags-Mehrheitsgesellschafter Rudolf Augstein nichts Böses zutrauen – schließlich ist sein „Spiegel“ des deutschen Intellektuellen „Wachturm“.
Auch wenn diese Koalition den prozessualen Erfolg noch davontragen mag, soll sie uns nicht weiter beschäftigen. Stimmen wir uns lieber ein – auf Highways und Chevys, auf Peepshows und Waschsalons, auf Bars und Freiheitsstatuen, auf Motels und Billboards, auf Paris, Texas.
„Er machte alle Lichter in dem Zimmer aus und legte sich auf den Boden zwischen die Betten. Seine Füße schwitzten. Er schaltete den Realistic Kassettenrecorder an und in der Dunkelheit antwortete Stevie Wonder: »Songs in the Key of Life«. Er betrachtete ein Apache Sandbild, das von nirgendwoher auf der Wand auftauchte. Farben aus dem Boden: bleicher, orangener Sand, schokoladenfarbene Erde, fahles Blau wie eine Träne. Er konnte den Schimmer des Perlmuttglanzes auf dem Pistolengriff sehen. Fäden von rosa Licht. Sich drehend. Er konnte sein eigenes Herz sehen. Er konnte das dämonische Festhalten eines Mannes an seiner einzigen Frau fühlen.“ (Sam Shepard, Motel Chronicles).
Man braucht nur die Drehberichte zu lesen und den Erzählungen zu lauschen, um die Stimmigkeit Wim Wenders' im Zusammenwirken mit seinem Team bestätigt zu bekommen. „Paris, Texas“ offenbart Bild für Bild, wie sehr Sam Shepard (Script), Robby Müller (Kamera), Chris Sievernich (Produktion), Ry Cooder (Musik), Nastassja Kinski, Harry Dean Stanton und Hunter Carson (Darsteller), um nur einige zu nennen, mit Wenders zum geballten Energiefeld verschmelzen. „Together we make it happen.“
Das Ereignis, hervorragend in einem Prachtbuch des Greno-Verlags dokumentiert, ist keineswegs nur Wenders' zu oft herbeiinterpretierter Amerika-Traum, sondern ein Epos über die Liebe, die Gefühle und das Chaos drumrum. Diese Geschichte kennt kein Happy-End. Aber vielleicht der Kinoeinsatz dieses Films?
Die Darsteller hätten einen Publikumserfolg redlich verdient. Denn das Trio Stanton/Kinski/Carson, Vater-Mutter-Sohn, auf das sich der Film letztendlich konzentriert, stellt in seiner darstellerischen Intensität, in seinem Ringen um Gefühle einen filmischen Sonderfall dar. In ihrer Fremdheit und Verlorenheit von Kamera, Schnitt und Sound unterstützt, entwickeln sie ein sensibles Zusammenspiel, das ohne die streng chronologisch vor sich gegangenen Dreharbeiten nie hätte erwachsen können.

Diese Filmkritik erschien im „Plärrer“, Ausgabe 1/1985.

Donnerstag, 21. Mai 2020

Horror Picture Show: „Oliver Twist“ (1982) mit George C. Scott und Tim Curry

Ein Mädchen, blond und zart, kämpft sich voran, durch Sturm und Regen. Mit letzter Kraft erreicht die Hochschwangere ein düsteres Anwesen, das Armenhaus einer kleinen, englischen Gemeinde, wo sie ihrem Sohn das Leben schenkt und stirbt. Ein Gentleman ist geboren, Oliver Twist hat das Licht einer Welt erblickt, die ihm trotz schrecklicher asozialer Verhältnisse nichts anhaben können wird.
 Pünktlich zu Weihnachten kommt die x-te Verfilmung von Charles Dickens' Klassiker in die Kinos, „Oliver Twist“, nicht mehr singend oder in Schwarz-weiß, sondern als opulentes Farbspektakel mit drei aufregenden Schauspielern in den bösen Rollen: Altmime George C. Scott, Frank'nfurter Tim Curry und die „Excalibur“-Schönheit Cherie Lunghi verkörpern das Milieu der korrupten und korrumpierenden Existenz.
An diese drei gerät das Waisenkind Oliver, vor Armenhaus und Kinderarbeit flüchtend, auf dem Weg in die Hauptstadt. Doch in diesem London des angehenden 19. Jahrhunderts, im Pfuhl der Armut und des Verbrechens bleibt der Kleine rein und fein, nicht umsonst ist er von besserem Blut. Nach einer aufregenden Odyssee wird Oliver als Sohn und Erbe eines edlen Herrn anerkannt.
Diese deterministische Vorstellung von der Vererbbarkeit der Klassenunterschiede schwächt die Sozialkritik des Werkes bedenklich ab. Erträglich und wohl auch ertragreich bleibt dieser Familienfilm dennoch, nicht zuletzt dank der Schauspieler und Dekors, die der altbekannten Geschichte immer neue Höhepunkte verschaffen.

Diese Filmkritik erschien in der „Münchner Stadt-Zeitung“, Ausgabe 12/1982.

Samstag, 6. Oktober 2018

Gewürge: Dana Vávrovás Regiedebüt „Hunger – Sehnsucht nach Liebe“

Karriere für das Ego, Jogging für den Körper und Schlingen für die Sehnsucht. Wohlgemerkt: Schlingen und nicht etwa Schlemmen, Essen oder Fressen. Wenn Supergirl Laura (Catherine Flemming) Kummer oder Heißhunger überkommt, dann würgt sie Bonbons, Würstchen, Mayonnaise, Torten und noch mehr in sich hinein und erbricht es umgehend wieder. Ein Leben zum Kotzen, das Leben einer Karrierefrau – Bulimie.
Die Schauspielerin Dana Vávrová hat sich für ihr Regiedebüt ein ernstes Thema ausgesucht, es gut gemeint und schlecht gemacht. Wenn jaulende Rockmusik und schräge Inneneinrichtung Wahnsinn ausdrücken, fühlt man sich an frühe „Derrick“-Folgen erinnert. Andere Stilmittel wie das gleißende Monsterlicht aus dem Kühlschrank und die Traumsequenzen mit römischen Tempelbädern sind Peinlichkeiten von ganz eigener Qualität.
Hinter viel Bilderwirrwarr und Gehampel versteckt sich ein oberflächliches Nichts an dramaturgischer Entwicklung – und selbst das steht eher als Behauptung im Raum, als daß man es den Darstellern abnähme: Zum Schluß schafft es das Supergirl, die Bulimie vor den Augen des zurückgewonnenen Freundes Simon (Kai Wiesinger) auszukosten, und er hält es aus, diese Krankheit wahrzunehmen.
Der Weg dahin ist ein Leidensweg für den Zuschauer, dem Lebenssprengel vorgesetzt werden, Kindheitserinnerungen, Arbeitssituationen, Urlaubsimpressionen, die sich keinen Moment lang zu einem argumentativen Fluß oder ausdrucksstarken Entwurf zusammenfügen, sondern Realität als einen Zustand abbilden, in dem ein Schauspieler namens Kai Wiesinger mit der mimischen Vielfalt eines Lichtdoubles ein männliches Etwas verkörpert, das zugleich als jugendlicher Graffitikünstler und arrivierter Juwelier sein Geld verdient. Das ist kein Fall von Persönlichkeitsspaltung mehr, sondern schlicht Unsinn.
Die Magie des Faktischen, die Faszination eines Schicksals wahrt allein Catherine Flemming, die mit Inbrunst bis zur Selbstverleugnung spielt oder vielmehr den Hunger, die Sehnsucht, das Leiden verkörpert, die Krankheit lebt und es selbst in den unappetitlichsten Szenen schafft, dem Zuschauer die Gefühle und Leidenschaft beim Schlingen, Würgen, Kotzen zu vergegenwärtigen. Die Krankheit Bulimie, die sonst im emotionalen Intimbereich verborgen bleibt, wird hier zu einer sinnlichen Erfahrung, zu einem Spiel mit der Lust, bei dem Schweiß, Tränen, Gallensaft und das Erbrochene Körpersäfte wie andere auch sind.
Für diese Szenen hat Dana Vávrovás Kraft und Phantasie gereicht, aber leider auch nur für diese Solitäre, deren Wert die drumherum geschlampte Inszenierung gewaltig schmälert.

Update: Kurzinterview mit Catherine Flemming zu ihrer Rolle in „Hunger“.


Diese Filmkritik erschien am 4. September 1997 in „Ticket“, dem Supplement des Berliner „Tagesspiegel“, Ausgabe 36/1997.

Sonntag, 9. September 2018

Wenn Engel morden: „God's Army“

Wenn Engel morden, wird selbst der Himmel auf Erden zum Inferno. Gregory Widens brillanter Thriller vom erbitterten Kampf unter den himmlischen Heerscharen bildet den Höhepunkt der Retrospektive, mit der sich das Fantasy Filmfest zum Jubiläum selber feiert. Zumal es das souverän mit den Genres spielende Meisterwerk bei uns nur bis in die Videotheken geschafft hat. Dabei muß man Dialogwitz, Phantasiereichtum und die Schauspieler dieses teuflich guten Mordfalls auf der großen Leinwand erlebt haben.

Diese Kurzkritik erschien im Rahmen meiner Titelgeschichte über das Fantasy Filmfest in „Ticket“, dem Supplement des Berliner „Tagesspiegel“, Ausgabe 32/1996.

Donnerstag, 15. September 2011

Lügen und Geheimnisse – Claude Chabrols „Die Farbe der Lüge“

Gerade mal 32 Jahre* alt ist die Schauspielerin Sandrine Bonnaire alt. Sechzehn davon hat Frankreichs Star vor der Kamera verbracht– ein halbes Leben. Ohne Umwege über TV-Serien oder Filmchen ist das Mädchen mit dem traurigen Mund von der Pubertät direkt in die Besetzungskartei der Pariser Regie-Elite gerutscht. Hat Rächerinnen und Geliebte, Mörderinnen und Opfer, Obdachlose und Jeanne d'Arc gespielt; neben Marcello Mastroianni, Isabelle Huppert, Robert Duvall und Gérard Depardieu brilliert und mit William Hurt nicht nur gearbeitet, sondern auch Töchterchen Jeanne gezeugt.
Doch im Land der Catherine Deneuve, Sophie Marceau und Emmanuelle Béart blieb ihr immer nur der Part der bodenständigen Außenseiterin. Die Rollen mit der grellen Lache, dem direkten Sex oder dem entschlossenen Zugriff. Die Frauen, die ob ihres unerschütterlichen Glaubens immer am Rande der Gesellschaft fremdelten. Sitzt man aber Sandrine Bonnaire gegenüber, erweist sie sich als ebenso zierlich und zart wie ihre gallischen Schwestern. Es waren die Rollen, die sie beängstigend grob machten. Es war an der Zeit, das zu ändern.
Claude Chabrol hat das Kunststück vollbracht, aber damit leider kein Meisterwerk abgeliefert. „Die Farbe der Lüge“ versammelt zwar sein bewährtes Bestiarium größenwahnsinniger Entertainment-Profis und verschlagener Polizisten, gehässiger Nachbarn und perverser Zufallstäter. Doch im Mittelpunkt des Sittengemäldes steht keine Gesellschaftssatire, sondern ein romantisches Stück. „Kein Krimi, sondern eine Liebesgeschichte, die Geschichte eines Paares, in der die Frau akzeptiert, daß ihr Mann ein Krimineller ist“, sagt Bonnaire. „Sie nimmt es sogar hin, daß er sie anlügt.“
Es ist auch die Geschichte einer Frau, die nicht umsonst Viviane heißt – sie verkörpert das pure Leben (französisch: la vie). Ob bei ihrer Arbeit als Krankenschwester oder wenn sie ihrem körperlich wie emotional verkrüppelten Mann beisteht, den Garten pflegt oder mit anderen Männern flirtet. In einem Mikrokosmos aus Lügen und Geheimnissen, Kindsschändung und Rivalenmord steht Sandrine Bonnaire für das Prinzip Hoffnung. Für die ewige Außenseiterin des französischen Kinos bedeutet dieser Film die Chance, ihrem Klischee zu entkommen. Obwohl ihr klar ist: „Letztendlich entscheide nicht ich, welchen Rollen ich angeboten bekomme, sondern die Regisseure.“
 
*Dieser Artikel erschien zuerst 1999 in der „Hör Zu“.

Freitag, 15. Juli 2011

Stars auf Speed: „Spun“ von Jonas Åkerlund

Das Leben ist viel zu kurz, um es auch nur stundenweise besinnungslos zu verpennen, und viel zu aufregend mit seinen eiskalten, vor Kondenswasser glitzernden Sixpacks, den bebenden Brüsten der Tabledance-Girls, den Fleischorgien im Catcherkanal, dem kunterbunten Blickficksortiment der Erwachsenenvideothek und den kalifornischen Boulevards der Dämmerung, die nicht nur all diese Delikatessen miteinander verbinden, sondern – der Weg ist das Ziel! – Passionswege für den jungen Ross (Jason Schwartzman) sind, der gerade vom schicken College geflogen und von seiner noch schickeren großen Liebe verlassen worden ist, was aber nicht weiter tragisch ist, so lange die Dröhnung stimmt und Ross' Volvo weiter rollt auf seiner Reise in das Reich jenseits des globalen Gucci-Faschismus und MTV-Glamouramas, mitten hinein in L.A.'s Schattenwelt des White Trash, wo Menschen noch Pickel haben, Sex nach Schweiß riecht und Helden von Mickey Rourke verkörpert werden, dessen Gesicht aussieht, als ob es von der US-Army befreit worden wäre, und dessen Stimme zerschmiergelt ist von zu vielen schlechten Drehbuchtexten, die Rourke hier aber alle vergessen macht in seiner Traumrolle eines modernen Cowboys, des kriminellen The Cook, der in der improvisierten Drogenküche eines Motelzimmers den Stoff produziert, aus dem in „Spun“ die Träume sind, pure Energie zum Schnupfen, Rauchen, Trinken oder Spritzen, ein aus Asthma-Mitteln, Batteriesäure und rotem Phosphor zusammengemantschter, fahrlässig leicht entflammbarer Speed, der ihm und den Junkies nicht etwa nur gelegentlich einmal eine wache Nacht schenkt, sondern tagelange Marathon-Ekstase, zügellose Dauer-Power, so dass sogar die Bullen sich eine Dosis dieser Weckamine reinziehen, bevor sie bei einer Drogen-Razzia, natürlich live auf Sendung des örtlichen Reality-Soap-Kanals, den nächsten Wohnwagen stürmen, während der Zuschauer schon nicht mehr weiß, ob er dem rastlosen wie urkomischen Methamphetamin-Universum von Spider Mike (John Leguizamo), Frisbee (Patrick Fugit), Cookie (Mena Suvari), Nikki (Brittany Murphy), The Man (Eric Roberts) und dem Cop (Alexis Arquette) erst einen oder schon vier Tage beim Dealen, Flirten, Schnüffeln, Streiten, Vögeln, Autofahren, kurzum: beim Leben ohne Pause zusieht, denn lebendig sind sie, bei aller Dauerberieselung aus Videospielen, Pornocassetten und Wrestling-Sendungen, trotz des Aufgeilens an Strip-, Porno- und Telefonsexnummern, so spitz, nervös, zügellos und hochtourig lebenshungrig, dass man einen kurzen Lidschlag lang fürchtet, der mit seinen Madonna-Videoclips („Ray of Light“, „Music“, „American Life“) berühmt gewordene schwedische Regisseur Jonas Åkerlund wäre nicht nur ein begabter Zyniker, sondern würde sich vielleicht bei seinem Spielfilmdebüt auf Kosten dieser amerikanischen Vorstadthelden lustig machen wollen und den – wirklich nicht nur sprichwörtlichen – Blick auf die Scheiße dieser Underdogs nicht ehrlich meinen, doch was wäre das schon im Vergleich zu Mena Suvaris („American Beauty“) und Brittany Murphys („8 Mile“) verlogener Star-Existenz in Hochglanzillustrierten wie „InStyle“, während die beiden Schauspielerinnen in Åkerlunds wahnwitzigem Drogenspektakel immerhin mit sehr viel Mut einem ungeschminkten, anarchistischen Trash huldigen, und den wahren Tugenden einer Welt, in der die Wohnungen winzig klein und ungestylt sein mögen, so lange die Betten nur breit genug sind, einer Welt, in der ein alter Volvo vielleicht kackbraun und verrostet ist, aber dennoch mit jedem Detail seiner Karrosserie und seines Motors die Freiheit und Freude beim Fahren symbolisiert, einer Welt, in der ein treuer Freund mit der nötigen Kaution bereit steht, wenn dich die Bullen erwischt haben, einer Welt, in der Mickey Rourke eine flammende Rede hält, wie man als Patriot der Pussy zu dienen hat, und Debbie Harry der einzige Kerl ist, der mit Rourke mithalten kann, eine Welt, die wie in allen guten Geschichten letztendlich kein Happy-end kennen darf, weil dem klassischen „Boy Meets Girl“ zwar ein zarter Flirt folgt, der unausweichlichen Verhaftung die Freilassung, dem sadistischen Scheißfreund eine coole Freundin, aber keine Droge alle bösen Erinnerungen und jedwelche Angst auslöschen kann, weshalb letztendlich vielleicht die Flucht in den rettenden Schlaf bleibt oder der Mut zum großen Finale.

Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 17/2003.

Samstag, 2. Juli 2011

Wenn Sehnsucht bis unter die Haut geht: „Tattoo“

Willkommen in der Berliner Republik: Die Politiker inszenieren sich als Schmierentheater, die Jeunesse Dorée stellt den Glamourrausch der achtziger Jahre nach, und zugewanderte Provinzjournalisten zelebrieren sich als Kosmopoliten. Niemand ist, was er scheint, alle wollen es nur kräftig glitzern lassen und hoffen inbrünstig, ohne Kater aufzuwachen, wenn die Party einmal vorbei ist. Eine Stadt als Opernball.
Die Kehrseite Berlins, zwischen Investitionsruinen und Plattenbauten, Stadtautobahn und Gammelgärten will kaum einer sehen, und so wie sie Regisseur Robert Schwentke stilsicher und klischeefrei skizziert, hat auch noch keiner dieses Berlin gesehen, das die schwärende Wunde einer Welt von Beziehungskrüppeln ist. Gleich einer Generation von Großstadtzombies streifen sie durch die Stadt, jeder auf der Suche, auf der Lauer, mal des einen Jäger und nur einen Herzschlag später des anderen Opfer. Berlin brennt, aber es ist nicht etwa das Aufglimmen von Herzen und Verstand, sondern eine tödliche Spur aus Wundbrand und Feuerbällen. 
Biografien und Berufe spielen keine Rolle mehr, Identität entsteht aus extremer Verweigerung oder in der noch radikaleren Body Modification: Blech im Gesicht, Farbe bis unter die Haut und – im wahrsten Sinne des Wortes – gespaltene Zungen sind ein Profil des 21. Jahrhunderts.
Der junge Marc (August Diehl) hat sich für die schmerzfreie Verweigerung entschieden, für blasse Ausdruckslosigkeit. Jede Menge Party, ein bißchen Ecstasy, und bloß kein Stress bei der Arbeit:  Viel mehr erwartet er sich nicht vom Leben, und seinen ruhigen Job als Nachwuchskriminaler verrichtet er mit dem gleichen Desinteresse wie die regelmäßigen Ausflüge ins Berliner Nachtleben.
Um ihn herum tobt der Totentanz, ein Serienkiller hinterläßt auf der Jagd nach seltenen Tattoos eine blutige Spur, doch Marcs Lethargie wäre ungebrochen, wenn ihn nicht ein älterer Kollege bei einem Drogenrave ertappen würde. Hauptkommissar Minks (Christian Redl) braucht den Jungen als Szenescout und nötigt ihn zum Wechsel in die unappetitlichen Abgründe der Mordkommission, wo sich Marc Schrader (!) aus seinem Kokon befreit und als Wiedergänger jener Großstadtinfernos entpuppt, die Kultautor Paul Schrader („Yakuza“, „Taxi Driver“) einst geschaffen hat. Natürlich kann Schwentke, der auch das Drehbuch schrieb, seine Fernsehvergangenheit („Tatort“) nicht völlig verleugnen, selbstverständlich ist Berlin nicht New York, und Christian Redl kein Robert Mitchum, aber seit Jörg Fausers Büchern habe ich nicht mehr so eine atemberaubende Partitur vom Abstieg in das Leben namens Hölle aus deutscher Hand durchexerziert bekommen.
Der Tod bliebe in diesem düsteren Thriller immer der Sieger, wenn ihm nicht Nadeshda Brennicke eindrucksvoll den Rang ablaufen würde.  Nachdem das blonde Gift bereits auf Pro Sieben „In den Straßen von Berlin“ eine Talentprobe gab und vielen kleinen Low-Budget-Filmen ihren Akzent aufsetzte, brilliert sie in „Tattoo“ mit einer unterkühlten Lässigkeit und rasierklingenscharfen Lüsternheit, daß die Frage nach ihrer moralischen Bewertung, nach Gut oder Böse zu vernachlässigen wäre. Sollte die von ihr gespielte Galeristin zu den Guten zählen, trüge die Sünde einen Heiligenschein. Wenn sie das Böse verkörpert, säßen wir alle dennoch sklavisch zu ihren Füßen. Selbst diese Frage wird letztendlich geklärt, so wie uns der Regisseur auf unserer gemeinsamen Reise in die Leichenkeller der Republik auch sonst kein Detail erspart.
Aber man sollte lieber einmal ein Auge zudrücken als wegen einiger unappetitlicher Szenen dieses glitzernde Kleinod verpassen. Denn was hier glänzt, ist ein verdammt ehrlicher Blick auf das autistische Tollhaus namens moderner Zivilisation.

Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 8/2002.

Mittwoch, 1. Juni 2011

Abseits von Physik und Moral: Danny Boyles „Lebe lieber ungewöhnlich“

Gib der Liebe eine Chance: Zuallererst sollte man alles vergessen, was einem von „Trainspotting“ in Erinnerung geblieben oder darüber erzählt worden ist. Denn wer Danny Boyles neuesten* Geniestreich in der Hoffnung auf schreiend schräge Bilder, Gags und Typen besucht, wird statt der Gosse den Himmel und die Weite Amerikas finden und von dem strahlend schönen Glanz geblendet sein.
Nicht daß sich zwischen Paradies und Utah weniger neurotische Menschen und Engelsscharen tummelten als in Schottland. Aber deren Macken drücken sich in göttlichen Fügungen, schüchternen Liebeserklärungen, ungelenken Erpressungsversuchen sowie Karaoke aus. Und die einzigen Drogen, Tequila und Champagner, führen ins Bett statt in den Tod. Wobei in „Lebe lieber ungewöhnlich“ durchaus geschossen, gemordet und gestorben wird – inklusive Wiederauferstehung.
Der Anlaß des anderthalbstündigen Streifzugs durch uramerikanische Mythen von Eldorado bis Elvis und vom Bankräuber bis zum Redneck ist ganz banal: Gott ist sauer. Angesichts zunehmender Scheidungen, Treulosigkeiten und sexueller Zügellosigkeit schickt er zwei Engel (Holly Hunter, Delroy Lindo) aus, ein sich wahrhaft liebendes Menschenpaar zu finden.
Die Vorsehung hat dafür ausgerechnet das durchtriebene Milliardärstöchterlein Celine (Cameron Diaz) und den hilflosen Verlierertypen Robert (Ewan McGregor) auserkoren. Das Problem: die beiden passen auf den ersten, nicht einmal unbedingt flüchtigen, Blick wirklich nicht zueinander, kennen sich nicht einmal und begegnen sich nur, weil Robert aus Verzweiflung über einen verlorenen Arbeitsplatz Celine als Geisel nimmt. Nicht gerade das ideale erste Date.
Da die Engel nur bei erfolgreicher Mission zurückkehren dürfen, lügen, drohen und tricksen sie, daß dagegen selbst Luzifer lammfromm wirken würde, aber schließlich heiligt die Liebe alle Mittel. Selbst in der – herausragenden – Synchronfassung fügen sich Sprachwitz, Bilderfülle und die Spielfreude zu einem romantischen (postromantischen?) Passionsweg, der abseits jeglicher Gesetze der Physik oder Moral verläuft.

*Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 4/1998

Zum Filmstart schipperte ich für „Ticket Berlin“ mit Cameron Diaz über den Wannsee. Hier die daraus entstandene Titelgeschichte.

Donnerstag, 3. März 2011

Zeit der Zärtlichkeit: Sofia Coppolas „Marie Antoinette“

In diesen Tagen*, wo die Nacht uns immer fester packt, der Morgen kaum der Finsternis entkommt und die Sonne sich spätnachmittags bereits wieder verabschiedet, in diesen Momenten voller Bodenfrost und Hochnebel, bringt dieser Film Erlösung. Nicht etwa, weil das Kino als „Kathedrale der Nacht“ in dieser Jahreszeit sein Hochamt feiert, sondern weil Sofia Coppola („The Virgin Suicides“, „Lost in Translation“) unsere verkühlten, erstarrten Sinne weckt.
Zu den Gitarren- und Schlagzeugklängen von New Order, The Strokes, The Radio Dept. und vielen mehr wird gleich vom ersten Ton an jeder Gedanke an einem abgehangenen Kostümschinken ausgetrieben. Sofia Coppola taucht nicht ins 18. Jahrhundert ab, sie spielt damit und sie beherrscht dieses Spiel verdammt gut.
So gut, daß man in jeder Sekunde dieser 2-stündigen Meditation spürt, wie viel Spaß allein schon die Dreharbeiten gemacht haben müssen: das echte Versailles als Kulisse zu haben, in Torten und Cremes zu schwelgen, in Samt und Seide, Manolo Blahnik hunderte von Schuhen entwerfen zu lassen und dann mittendrin ein Paar Chucks für die Kamera zu drapieren, Schäferspiele und Maskenbälle zu inszenieren und – vor allem – das Elend der heutigen Welt wie natürlich auch die historische Realität in Frankreich einfach auszublenden. Wir sind bei Königs, und wir bleiben auch da – nur einmal, ganz kurz, verneigt sich der Film vor den aufständischen Untertanen.
Dieses Porträt der letzten vorrevolutionären Königin von Frankreich ist keine Hinrichtung, sondern eine Hommage. Eine rosarot gefärbte, pudrige, leidenschaftliche Liebeserklärung an das Idyll des Hofes, die wohlweislich vor der Verhaftung und Enthauptung Marie-Antoinettes endet. Es ist auch kein testosterongefüllter Mantel- und Degen-Film, sondern das sinnliche Gegenstück, die zarte, geduldige, entspannt freche Entwicklungsgeschichte einer kleinen Österreicherin, die in einem entblößendem Zeremoniell nackt, wie Gott sie schuf, Heimat und Hof wechselt, um mit dem französischen Thronfolger vermählt zu werden.
Und dann Jahre braucht, um in ihre neue Rolle zu schlüpfen, sich im steifen Zeremoniell zurecht zu finden und im Versailler Intrigenstadel durchzusetzen, den eigenen Mann zu erobern – und andere auch. In der Erinnerung bleibt kaum eine Szene ohne Kirsten Dunst als Marie-Antoinette. So sehr beherrscht sie den Film, so locker-natürlich agiert sie als Nette von Versailles, daß selbst Asia Argento als Madame du Barry und Marianne Faithful als Kaiserin Maria Theresia dagegen nur verblassen können.
Wer, wenn nicht Sofia Coppola, hätte solch ein Meisterstück als Hofberichterstatter hervorbringen können? Schließlich war ihr Vater Francis Ford der Sonnenkönig von Hollywood, und wer „Vielleicht bin ich zu nah. Notizen bei der Entstehung von Apocalypse Now“ gelesen hat, die von ihrer Mutter Eleanor Coppola verfaßte Hagiographie, der weiß, daß beim Film der Absolutismus fortlebt. Zoetrope hieß das amerikanische Versailles, in dem Sofia aufgewachsen ist, das Studio ihres Vaters. In der Zeit von Siouxsie and the Banshees, Adam Ant & The Ants, New Order, Bow Wow Wow, The Cure, die den Soundtrack von „Marie Antoinette“ ebenso prägen wie Air und Phoenix, Sofias aktuellere Lebensbegleiter.
Prinzessin Sofia und Königin Marie-Antoinette sind die Lichtgestalten eines unschuldigen Reiches, aus jener fernen Dimension abseits einer Lady Di, Caroline oder Paris Hilton, wo eben kein Paparazzi-Mob die Paläste stürmt, und keine High-Society sich fernsehgerecht verdingt.
Stattdessen wird in „Marie Antoinette“ dem Eskapismus gefrönt, den hemmungslosen Momenten zu zweit zwischen den Laken, den spielerischen Augenblicken mit kleinen Kindern, dem schwelgerischen Empfinden angesichts einer neuen Modekollektion, dem atemberaubenden Genuß frischer Petit-Fours. Was will man mehr, an Tagen wie diesen?
*Diese Filmkritik erschien zuerst im herbstlichen „In München“ 22/2006.

(Foto: ARTE F/Taurus Media)

Samstag, 26. Februar 2011

Buchhalter from outer space: Jürgen Eggers „Harald“

Harald braucht Licht, Harald sucht Spaß, Harald ist ein Außerirdischer. Auf Urlaub, sonnenhungrig, an sexuellen Abenteuern interessiert, eben ein Pauschalreisender. Noch schlimmer: ein Billigtourist, dessen wenige Weltraumtaler gerade einmal für eine schlichte irdische Hülle, Marke: Buchhalter, gereicht haben. So stakst der unbedarfte Erdankömmling im steten Kampf mit der Schwerkraft in das Leben einer Science-fiction-Lektorin, nascht an ihrem Patentkleber und bricht ihr das Herz.
Heinrich Schafmeister spielt den Sternenbummler wie einen James Stewart auf Crack. Schlacksig, jungenhaft, zu keiner Lüge fähig und doch bei aller Gutmütigkeit von einer zügellosen Verwirrung stiftenden Anarchie. Das intergalaktische Reisebüro hat ihm Bed & Breakfast bei der Lektorin (Frusthenne: Martina Gedeck) angedreht. Bloß weiß die gute Frau nichts davon. Ihre Gastfreundschaft entwickelt sich erst, als sie Harald dazu benutzen kann, einen klammernden Gelegenheitslover (Ruhrpott-Proll: Ingo Naujocks) auszubremsen.
Jürgen Egger hat mit seinem Drehbuch für Rainer Kaufmanns Kurzfilm „Der schönste Busen der Welt“ bereits Sinn fürs Skurrile bewiesen und bei Sönke Wortmanns „Kleinen Haien“ Tempo und Einfühlungsvermögen. In seiner neuen Doppelfunktion als Autor und Regisseur gelang Egger leider nur eine recht grobe, ungelenke Nummernrevue.
Die Grundkonstellation des naiven Fremden, der keine menschliche Konvention beherrscht, ergibt einige Kabinettstücke: Wenn etwa Harald mit seiner bemüht höflichen Art ein paar Zechbrüder unter den Tisch säuft, einen Busfahrer wie einen Privatchauffeur traktiert, den Hausmeister mit dicken Scheinen schmiert oder seinen schnoddrigen Rivalen verbal aufmischt. Um so plumper wirken die Gags, in denen das Elend deutscher Fernsehsender und einsamer Single-Frauen karikiert wird. Die Darstellung des Berufsalltags ist so dämlich, wie wir es in den Superweib- und Stadtgespräch-Schmonzetten erleiden mußten.
Ein Trost: Wenigstens bleiben dem Zuschauer die sonst üblichen Luxus-Altbau-Super-Loft-Terrassen-Landschaften deutscher Komödien erspart.
Diese Filmkritik erschien am 2. Januar 1997 in „Ticket“ 1/97, dem Kultursupplement des Berliner „Tagesspiegels“.

(Foto: BR/SWR)

Montag, 10. Januar 2011

„Obsession“: Peter Sehrs dissonantes Spiel behaupteter Leidenschaften

Leidenschaft ist keine Frage der Masse. Die Steigerung der Lust durch Häufchenbildung mag noch für kleine Kinder gelten, die Bauklötzchen aufeinanderstapeln oder Fruchtzwerge in sich hineinspachteln. In Fragen der Liebe erscheint die Vorstellung recht kindisch, daß eine Frau, die zwei Männer liebt, allein deswegen schon größere Leidenschaften durchlebt als eine Frau mit nur einem Partner.
Aber Regisseur Peter Sehr („Kaspar Hauser“) ist in diese Vorstellung so vernarrt, daß er es nicht einmal dabei beläßt, sondern gleich zwei Ménages à trois in seinen Film packen muß: zwei Frauen mit jeweils zwei Männern und keinem Hauch von Leidenschaft. Allein der intellektuelle Kraftakt, sechs Figuren samt ihrer Handlungsstränge zu entwickeln und miteinander zu verknüpfen, hätte die 114 Filmminuten anstrengend werden lassen.
Doch gemach, da steckt noch mehr drin: ein dem Holocaust entkommener Jude, der gerne glitzernde Knöpfe stiehlt und darob vom bösen, deutschen Kaufhausdetektiv gejagt wird; ein französischer Wissenschaftler, der dem Tod ein Schnäppchen schlagen will und mit Herzen experimentiert; ein weißer Afrikaner, dessen Großmutter vom Opa erschossen wurde und der die Erklärung für das Familiendrama in altem Zelluloid sucht; eine Schwangere, die aus Unachtsamkeit vom Rad fällt und ihr Kind verliert; Berliner Rechtspfleger; Pariser Straßenkünstler; Brandenburger Sakralbauten; Burgunder Dorfidyll, die Niagarafälle und so weiter und so fort.
Statt klarer Ideen und nachvollziehbarer Emotionen wird ohne jedes Gefühl für Dramaturgie und Rhythmus ein kunterbuntes Kindermenü aus dem Fastfoodangebot pittoresker Gefühle und dramatischer Spitzen hingeklatscht. Ein McGuffin auf den nächsten.
Es mag nur Berliner Zuschauer irritieren, wenn eine Verfolgungsjagd über ein paar hundert Meter in den Galeries Lafayette beginnt, nahtlos vor dem KaDeWe fortgesetzt wird und schließlich im U-Bahnhof Alexanderplatz endet. Ein für das Medium typisches Aneinanderklittern idealisierter Schauplätze ohne Rücksicht auf Gegebenheiten. Film als Fiktion.
Doch was bei Kulissen noch funktionieren mag, wirkt als Inhaltsmaxime schnell enervierend. Selbst wenn Babyface Heike Makatsch durch diesen Handlungssalat stakst, als Musikerin einer Frauenband namens „Berlin United“ sogar Pieps machen darf und die süßeste Verkörperung weiblicher Unentschiedenheit spielt.

Diese Filmkritik erschien zuerst im Kultursupplement des Berliner „Tagesspiegels“: „Ticket“ 35/97 vom 28. August 1997

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Wenn Mutti wütend wird: Renny Harlins „Tödliche Weihnachten“

Leichen pflastern ihren Weg. Erst trifft es nur ein verletztes Rentier und eine unschuldige Tomate. Doch je weiter die Lehrerin Samantha Caine (Geena Davis) ihr verloren gegangenes Gedächtnis samt einiger unangenehmer Charaktereigenschaften zurückgewinnt, desto mehr Männer müssen sterben.
Die Provinzschönheit entpuppt sich als staatlich geprüfte Mörderin, die amnesiebedingt ihrer eigenen Legende erlegen ist. Nun wandelt sich das Muttchen auf der Suche nach der wahren Identität wieder zurück zur Amazone: Blonder als Bonnie, tödlicher als Nikita und unkaputtbarer als der Terminator.
Nachdem weder Bruce Willis („Die Harder“) noch Sylvester Stallone („Cliffhanger“) seinen sexuellen Avancen am Drehort nachgegeben hätten, soll Regisseur Renny Harlin beschlossen haben, nur noch weibliche Actionhelden in Szene zu setzen. Wobei Geena Davis praktischerweise seine Ehefrau ist.
Nach zwei gemeinsamen Flops produzierte das finisch-amerikanische Gespann mit diesem Adventsknaller ein trashiges Highspeed-Spektakel, bei dem das Massaker die kurzweiligste Verbindung zwischen bürgerlichem Idyll und Aussteigerromanze ist.
Wer fragt schon nach Logik, wenn finstere Politverschwörungen, Hitchcock'sche Küchenpsychologie und eine diabolische Stunt-Choreographie für gute Laune sorgen.
Und wann hat man schon so politisch unkorrekte, geradezu unsympathische Helden genießen dürfen wie Samuel L. Jackson („Pulp Fiction“, „Stirb langsam 3“), der hier mit einem wahren Kabinettstück den coolen Ghetto-Stenz der 70er Jahre in die Gegenwart rettet.

Diese Filmkritik erschien im „Tagesspiegel“-Supplement „Ticket“ 50/1996 vom 12. Dezember 1996

Samstag, 18. Dezember 2010

Das unbefleckte Verhängnis – „Babylon A.D.“ von Mathieu Kassovitz

Fang mit dem Tod des Helden an und steigere dich dann stetig. Mathieu Kassovitz' Mysterienspiel „Babylon A.D.“ lässt es krachen, blitzen, scheppern, gehorcht den adrenalingeschwängerten Gesetzen der Gegenwart, spielt in der nahen Zukunft und spiegelt zugleich den ältesten Bestseller der Erde wider.
Frech bedient sich der Blockbuster der Highlights der Christenheit und mischt Wiederauferstehung und Jungfrauengeburt, Apostel und Weltplagen zu einem packenden, stilsicher zwischen Pathos und Parodie balancierenden Action-Evangelium.
Doch anders als der Da Vinci-, Bibel- oder andere Codes versucht das Drehbuch gar nicht erst, eine hanebüchene genetische Linie aus Jesus' Zeiten, den Jahren des Herren (A.D.), zu konstruieren. Muss es auch nicht, denn schließlich gibt es die moderne Biotechnologie. Wozu sich mit israelitischen Stammbäumen und Verwandtschaftsverhältnissen aufhalten, wenn man Gottes Armee, ob Apostel, Jungfrau oder Erlöser, gentechnisch erschaffen, ja sogar so weit verbessern kann, dass die zwölf Jünger wie die Artisten des Cirque de Soleil behände herumpurzeln können, die Mutter Gottes aus dem Stand ein russisches Atom-U-Boot zu steuern vermag, und der neue Heiland gleich im Doppelpack geboren wird. Etwas vorzeitig liefert uns Mathieu Kassovitz das diesjährige Weihnachtsmärchen, aber liegen in den Supermärkten nicht auch schon die ersten Spekulatius und Lebkuchen?
„Keine Freunde, keine Familie, keine Zukunft“, der Söldner Toorop (Vin Diesel) erinnert an Jean Reno in „Léon – Der Profi“ und Bruce Willis in „Das 5. Element“, ein Killer mit dem Herz am rechten Fleck, wie ihn das französische Kino liebt und gerne mit einer naiv wirkenden Unschuld (Natalie Portman, Milla Jovovich) paart: Diesmal ist sie engelsblond und heißt Aurora (Mélanie Thierry), eine Klosterschülerin in der Obhut der Noeliten (noël: französisch für Weihnachten), einer finanzstarken wie waffenstarrenden Sekte. Toorop soll die Jungfrau aus den russischen Grenzgebieten des tiefsten Asiens nach New York schmuggeln, argwöhnisch beäugt von Schwester Rebecca – Anstandsdame, schlagkräftige Nonne und daher mit Michelle Yeoh perfekt besetzt.
Überhaupt die Schauspieler (die es fast schon zwingend machen, sich diesen Film unsynchronisiert in der amerikanischen Originalfassung anzusehen): Nie sah man Gérard Depardieu (als Obermafioso) widerlicher, Charlotte Rampling (als Hohepriesterin) fieser und Lambert Wilson (als Dr. Seltsam) wahnsinniger als in diesem fulminanten Endzeitdrama, dessen beängstigenden Bilder kaum erstaunen, sondern überraschenderweise fast der aktuellen „Tagesschau“ zu entspringen scheinen. Nur dass auf der Leinwand in Osteuropa keine größenwahnsinnigen Politiker, sondern mafiöse Söldnerfürsten herrschen. Die Flüchtlingsströme etwas massiver sind. Die Kirchen skrupelloser. Die Atompannen vernichtender. Die Grenzkontrollen tödlicher. Und die Umgangsformen der oberen Zehntausend sogar weit brutaler als die der Pariser Vorstadtbanden – mit deren Porträt Kassovitz in seinem ersten Kinoerfolg „Hass“ seinen frühen Ruhm begründet hatte.
Nicht mehr nur das Pariser Banlieue, die ganze Welt ist ein Schlachthaus, aber „Babylon A.D.“ nimmt das Elend aus Selbstmordanschlägen und Balkansoldateska nicht ernster als ein James-Bond-Film die Realität einer Dritten-Welt-Diktatur oder die Mabuse-Klassiker den Schrecken der zwanziger und dreißiger Jahre. Hauptsache, er kann Diesel und Thierry zum aufregendsten Heldenpaar seit Bogart und Bacall stilisieren. Dabei beschränkt sich Kassovitz nicht auf die Hagiographie, sondern malt wie in einem Kolportageroman oder bunten Comic auch Nebensächliches breit aus und vernachlässigt den strengen Erzählstrang gern, wenn die Alternative pittoresker scheint. In seinen stärksten Momenten steigert sich Kassovitz sogar zu blankem Kitsch, aber ist das die Bibel in ihren packendsten Passagen nicht auch?

Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 19/2008

Dienstag, 16. November 2010

Ganz ohne Entourage –
„Somewhere“ von Sofia Coppola

Mein Haus, mein Auto, mein Boot? Nun ja, zu einem Boot hat es Johnny Marco (Stephen Dorff) vielleicht nicht gebracht, und meist schlurft er unrasiert, mit kunstvoll verwuscheltem Haar in Jeans und T-Shirt herum, forever young. Wir Münchner kennen diese betont jugendlichen, aber eben doch schon fickunddreißigjährigen Kreativen aus dem Glockenbachviertel oder der Maxvorstadt, halb gelangweilt, voll cool und niemals einem Flirt abgeneigt. Kein Mensch weiß, worin nun genau ihre Arbeit besteht, und ob das Café ihr Büro ist oder ob sie dort nur Halt machen, um gut auszusehen, was ja auf der Arbeit nur wenige mitbekämen.
Bei Marco läuft das alles einige Nummern größer ab: statt einem Loft bewohnt er als Dauergast Hollywoods legendäres Chateau Marmont, er fährt einen – unauffällig schwarzen – Ferrari, und flirtet selten, sondern knallt die Mädels lieber gleich. Johnny Marco ist ein Filmstar. Vielleicht ist er aber auch schon längst erloschen und zu einem schwarzen Loch kollabiert, während wir noch immer vom früheren Stellarglanz geblendet sind – und nur die professionellen Sternenbeobachter, die Paparazzi schlauer scheinen. Stets wähnt sich Marco von ihnen gejagt, doch offenbar folgt ihm mittlerweile keiner mehr, weil andere verführerischer fürs Objektiv glitzern. (So wie sein Darsteller Stephen Dorff vom schalkhaft glitzernden, schwer gehypeten Star zu „Blade“-Zeiten Ende des letzten Jahrhunderts zum traurigen Charakterdarsteller der Gegenwart gereift ist.)
Johnny Marco kreist recht einsam am Firmament, bar jeder Entourage. Nur wenige streifen, kometenhaft, seine Bahn, ein Kumpel aus seiner Jugend (Chris „Jackass“ Pontius), eine Tochter aus einer gescheiterten Ehe (Elle „Ich-bin-die-Schwester-von-Dakota“ Fanning). Letzte Spuren der Normalität (wenn es normal ist, seine Teenagertochter ins Feriencamp zu hubschraubern), letzte Pulsschläge in einem Schauspielerleben, das gar nicht mal mehr aus Dreharbeiten zu bestehen scheint, sondern aus dem In-between, dieser Twilight Zone aus Kostümproben, Pressekonferenzen, Festivalbesuchen.
Tristesse Royal – quasidokumentarisch von Sofia Coppola gefilmt, der bewährten Chronistin der Gelangweilten wie Leidgeprüften zwischen Tokio, New York und Versailles. Nahezu unbewegt, ja kalt, folgt sie dem Lauf, vielleicht sogar den letzten Tagen eines nicht mal mehr Getriebenen, sondern abgeklärt Dahinsinkenden, folgt ihm auch gar nicht konsequent, sondern lässt ihn durchs Bild kreuzen und irgendwann verschwinden.
Als Romantiker konnte ich die Schlussszene von „Lost in translation“, den unverständlichen Dialog zwischen Bill Murray und Scarlett Johansson natürlich nur als Happy-end interpretieren. Kirsten Dunsts „Marie Antoinette“ erfreute sich immerhin noch des prallen Lebens vor dem Schafott. Doch im Vergleich mit Johnny Marcos unaufgeregter wie finaler Einsamkeit erscheinen mir sogar die Selbstmordschwestern aus „Virgin Suicides“ fidel und selbstbestimmt. Was nicht ausschließen muß, dass man dem Hollywood-Beau Marco jede Party, jeden Quickie mit dem Model in der Nachbarsuite, jede Bono-Anekdote neidet, ohne aber letztendlich mit ihm tauschen zu wollen.
Niemand hat in „Somewhere“ seine Seele verkauft, Hollywoods Boulevard der Dämmerung wird von Sofia Coppola völlig unfaustisch inszeniert, mit der Nonchalance einer Zeitzeugin, die nur bei einem Abstecher in Berlusconis Italien der Farce verfällt, aber sonst die Oberflächlichkeit dieser Kunstwelt, das Gehabe der scheinbar nie alternden Dorian Grays im Film- und Popbusiness mit einer unprätentiösen Selbstverständlichkeit skizziert, die man derart präzise wohl nur erlangt, wenn man in dieser Welt aufgewachsen ist, ohne ihr Opfer geworden zu sein. Und natürlich hofft man, dass auch Marco nicht dem Hollywood-Talmi geopfert wird, sondern vielleicht einfach aussteigt und in dem Augenblick, wo ihn die Kamera aus dem Blickwinkel verliert, als einfacher Fischer auf einer Schaluppe sein Auskommen findet. Irgendwo. Ist ja schließlich großes Kino.

Diese Filmkritik erschien – leicht gekürzt – im „In München“ 23/2010 vom 11. November 2010

Donnerstag, 14. Oktober 2010

„Gainsbourg“ von Joann Sfar

Zigaretten, U-Bahn-Tickets, leere Flaschen, die Fans schmücken Serge Gainsbourgs Grab in Montparnasse mit einem Sammelsurium an Erinnerungsstücken und Liebesbeweisen. Nicht viel anders funktioniert Joann Sfars Filmbiografie, die das Beste daraus macht, ein Künstlerleben zwischen Malerei und Musik, zwischen Chanson, Säuselpop und Reggae, zwischen Frauen wie Juliette Gréco, Brigitte Bardot und Jane Birkin auf rasant kurzweilige 121 Minuten zu verdichten. Und mittendrin, ein, zwei, im Grunde sogar drei Gainsbourgs: Denn Sfar, vor seinem Regiedebüt bereits ein gefeierter Comiczeichner, stellt Hauptdarsteller Eric Elmosnino weitere Serges, einen Gezeichneten und einen aus Pappmaché Geformten, zur Seite, ein überraschender wie genialer Kunstgriff. Hier stellen nicht mehr nur Schauspieler ein Promileben nach, hier wird dem Künstlerfuror, seinen Ängsten und Antriebskräften nachgestellt.

Diese Filmkritik erschien zuerst in „Sono“ September/Oktober 2010

Dienstag, 28. September 2010

Störfall Liebe – „Der alte Affe Angst“ von Oskar Roehler

Manchmal muß man abgrundtief durch den Dreck waten, um Schönheit erkennen zu können. Manchmal muß die Pille bitter schmecken, die uns heilen soll. Manchmal wirkt eine Beziehung wie der blanke Haß. Und wenn in Oskar Roehlers Liebesdrama von der ersten Einstellung an mit Worten kartätscht und Blicken füsiliert worden ist, liegt das Schlimmste noch längst nicht hinter uns.
Der Drehbuchautor und Regisseur erspart seinem Zuschauer nichts: Krebs und AIDS. Koks und Chemotherapie. Suizid- und andere Fluchtreflexe. Und als ob der selbst erfahrene eigene Schmerz nicht ausreichen würde, spiegeln die Menschen auch noch die Verletzungen ihrer Eltern wider. Die Kadenzen des Unglücks schwillen hier zu einem steten Grundrauschen an.
„Der alte Affe Angst“ ist physisches Kino, bei dem man das Parfüm des Betrugs zu riechen meint, den Tod zu fassen, die Angst zu schmecken. Und zwischendurch dann auch das kleine Glück. Denn Robert (André Hennicke) und Marie (Marie Bäumer) lieben sich. Wirklich, vorbehaltlos, intensiv, bis hin zur Selbstverleugnung. In kleinen, unschuldigen, so gut beobachteten wie selten gezeigten Gesten zeigt uns Roehler dieses Urvertrauen, bei dem beide, neugierigen Kindern gleich, sich gegenseitig bespucken, miteinander balancieren, einander zum Würgen bringen und selbst in einem Pups noch Verbundenheit finden.
Viel mehr passiert aber auch nicht mehr zwischen den Bettlaken, denn Robert liebt Marie so sehr, daß er nicht mehr mit ihr schläft, weil all seine früheren Beziehungen in einem ekstatischen halben Jahr verglüht sind. Er war stets ganz der hemmungslose Künstler, der Beziehungen nur als einen Rausch aus Sex und Eifersucht kennt, der jede kreative Arbeit unmöglich macht, aber dann auch schnell wieder verfliegt. Diesmal will der Dramatiker die Liebe bewahren, indem er sie sich aufspart.
Als ob er die Leidenschaft wie eines seiner Bühnenwerke beherrschen und kühl inszenieren könnte, glaubt er, Marie nur dauerhaft begehren zu können, indem er seine Liebe zu ihr nicht verspritzt. Und Marie, die Kinderärztin, reagiert auf Roberts Impotenz mit dem Beziehungsarsenal der aufgeklärten Akademikerin: Rollenspiele, scharfe Wäsche und der gemeinsame Besuch beim Therapeuten (Christoph Waltz).
Den Sex lebt Robert heimlich andernorts aus, mit Prostituierten. Hinter Maries Rücken, die erst durch einen blutigen Zufall davon erfährt. Ein Zwischenfall, den Roehler so fulminant arrangiert, daß der Zuschauer mit seinen Protagonisten ins Bodenlose stürzt und vollends dem Wirbel dieses Berliner Dramas erliegt.
In der Provinz der Elterngeneration ist man keineswegs glücklicher: Roberts Vater Klaus (Vadim Glowna), ein Schriftsteller, der seinen Sohn lange verleugnet hat, zelebriert Familienwerte nur als Romanstoff und will bis zuletzt, ganz Egoist, keine Last tragen und niemandem zur Last fallen. Er arbeitet an einem „Solaris“-Stoff, schreibt von einem „Ozean des Erinnerns, wo nichts stört“. Unfähig diesen Störfall Liebe selbstlos zu akzeptieren.
Maries Eltern, ein Brandenburger Pastorenpaar, strahlen jene vorwurfsvolle Kälte von Gutmenschen aus, die nicht nur Kinder in den Selbstmord treiben kann. Roehlers Geniestreich besteht darin, zu sehen, ohne zu verurteilen, und all diese Fehler und Charakterschwächen hinzunehmen, ja dafür sogar Zuneigung zu entwickeln.
Mutvoll sprunghaft in seinem Erzählfluß, scheinbar unentschlossen zwischen Cinemascope und Videoästhetik wechselnd, sehr persönlich, auch wenn er alles Autobiografische abstreitet, zieht Oskar Roehler uns – wie schon bei „Die Unberührbare“ oder „Suck my dick“ – in eine vor Kälte klirrende Konsumwelt der Beziehungen hinein, nur daß sein Film diesmal, dann natürlich außerhalb Berlins, eine unerwartete Wende zur sommerlichen Pastorale nimmt. Sehenden Auges, im Angesicht allen Leids, aber nicht ohne Hoffnung. Der Winter ist vorbei.

Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 9/2003

(Foto: BR/Marco Meenen)

Montag, 16. August 2010

Abgestanden wie ein Noagerl: Klaus Lemkes „Schmutziger Süden“

Mitternacht. Die Zeit, zu der die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten gemeinhin Lemkes aktuelleres Filmwerk ausstrahlen. Da versendet sich so einiges gefahrlos. Andere sitzen um diese Stunde gern im Schumann's. Wie SZ-Redakteur Alexander Gorkow. Man kann ihn dann leicht angetrunken erleben und schwer auf seinen Arbeitgeber schimpfend. Das würde erklären, wieso er auf Seite Drei der „Süddeutschen Zeitung“ vom 24. Juli vorbehaltlos Lemke als „genialen und unterschätzten Filmemacher“ preist und sehr detailliert nur dessen Frühwerk wie „Brandstifter“,  „48 Stunden bis Acapulco“ oder „Rocker“ zitiert, den filmmusealen Kanon, der nichts von seiner Kraft verloren hat. Aber eben auch Jahrzehnte alt ist.
Vielleicht kennt Gorkow die neueren Filme überhaupt nicht, die Lemke in diesem Jahrhundert gedreht hat. Laufen ja gegen Mitternacht im Fernsehen – wenn überhaupt. Vielleicht schweigt er auch nur aus Respekt. Mit Sicherheit beneiden Gorkow und Koautor Tobias Kniebe, beides angestellte leitende Redakteure in Sibirisch-Steinhausen, den sympathisch verwahrlosten Regieveteranen: „Klaus Lemke ist der freieste Mensch, den man treffen kann. In Schwabing. In München. Wo auch immer.“ Da bin ich ganz bei ihnen.
Nur macht das höchstens Lemkes Aussteigervita sympathischer, aber seine hingeschluderten Arbeitsmaßnahmen kaum besser. „Schmutziger Süden“ etwa bietet den typischen Mix der letzten zehn Jahre: Unbeholfene Laiendarsteller, wirre Handlungen, ungeschliffene Dialoge, Brutaloschnitte sowie überraschend prüde Altherrenfantasien von vielen Mädchen, die ein und demselben Mann verfallen – wobei Lemke weit weniger Sex zeigt als etwa die Stunden früher ausgestrahlten ZDF-Sommernachtsfantasien, da kann er noch so sehr von Porno fabulieren.
Überhaupt merkt man Lemke die frühe Schwabinger Schule an – er redet viel, man darf ihm wenig glauben. Mal will er Angebote für eine „Tatort“-Regie abgelehnt haben, dann erzählt er wiederum, er würde gern einen drehen, hätte ihn aber noch nicht offeriert bekommen. Festivals interessieren ihn nicht? Wieso reicht er seit Jahren diese Kameraübungen ein und protestiert beim Münchner Filmfest wiederholt mit Mahnwachen dagegen, daß man ihn abgelehnt hätte? „Schmutziger Süden“ liefe auf der Berlinale? Ein Gerücht. Der Bayerische Rundfunk plane eine Serie mit ihm? Wunschdenken. Die Filme kosten fast nichts? Die Musikrechte für Blondie und andere Tracks im „Schmutzigen Süden“ wird er sich kaum mit seinem Standard-Fuffie geleistet haben. Er gewähre nur selten, nicht öfter als zweimal jährlich Interviews? Dann hat er allein schon in den letzten Wochen mit der „SZ“, arte„Welt am Sonntag“, „Abendzeitung, „Tagesspiegel“ oder dem Studentenblatt „Philtrat“ für die nächsten Jahre vorgearbeitet.
Aber so oft wie er sich dort in seinen – auswendig gelernten? – Statements wiederholt, muß man vielleicht nicht jedes Gespräch einzeln zählen. Die Fragesteller trauen sich auch kaum, nachzufragen, nachzuhaken. Mit Ausnahme von Marina Kumchuk und Nicola Wilcke („Philtrat“), die zwar dabei auch nicht zu Lemkes Kern vordringen, aber zumindest amüsant scheitern. Interessiert es denn keinen, wie licht die Haare unter seiner legendären Schiebermütze sind? Ob Lemke tatsächlich im alten Schumann's Hausverbot genoß, weil er volltrunken an den Tresen gepinkelt haben soll? Und wie viel Rente der 69-Jährige erhält?
Einen Rentenanspruch wird er sich doch sicher aufgebaut haben, auf dem Höhepunkt seiner Karriere in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren, als er eben keineswegs als Filmguerilla low-budget arbeitete, sondern noch als gut bestallter Lohnregisseur. Die Cameo-Auftritte Horatius Haeberles und Michael Graeters im „Schmutzigen Süden“ sind eine kleine Reminiszenz an diese Ära.
1987, bei „Zockerexpress“ (bzw. „Zockerexpreß“) war ich auch mal vorübergehend mit im Lemke-Team. Es war wohl der erste seiner wirklich schlechten Filmen, wenn auch noch als großes Kino angelegt. Allein ich erhielt für die PR-Betreuung um die 10.000 Mark, an der Kamera stand Lothar Elias Stickelbrucks und für die Hauptrolle hatte man den holländischen Star Huub Stapel eingekauft. Ihn als männliche Hauptfigur umgarnte – ähnlich wie im „Schmutzigen Süden“ – ein weibliches Dreigestirn, die Türsteherin Sabrina „Sexkoffer“ Diehl, das persische Model Jasmin Zadeh und – als einzige Profischauspielerin – Dolly Dollar (Christine Zierl).
Wie es sich für die achtziger Jahre gehört, habe ich nur noch recht verschwommene Erinnerungen an die Dreharbeiten: Eingeprägt hat sich mir kein Bild vom Regisseur am Set, sondern wie Lemke nachts mit Produzent Hanno Schilf den Boden des Produktionsbüros nach einem verloren gegangenen Piece absucht. Autor Micha Lampert erschien zu den Scriptbesprechungen im Bella Italia immer mit einem Baseballschläger, weil das Multitalent gerade auch in einen Zuhälterkrieg verwickelt war. Jasmin Zadeh vertrug keinen Alkohol, weshalb ich als PR-Mann alter Schule sie ständig begleiten mußte, aber auch nicht verhindern konnte, daß sie bereits nachmittags mit Champagnerflöten um sich schmiß oder nach einer Nacht im P1 die Tür der Wohnung eintrat, die sie für einen auf Ibiza weilenden Barkeeper hütete, weil sie den Schlüssel nicht finden konnte. Der Standfotograf bewarb sich um seinen Job, indem er mir Bilder einer minderjährigen Nackten am Starnberger See vorlegte. Und finanziert hat das ganze Chaos ein Großgrundbesitzer aus dem Münchner Umland, der sonst eher auf Pferde setzte.
Im Grunde sollte Klaus Lemke keine Filme mehr drehen, sondern sein eigenes Leben verfilmen lassen. Stoff genug gäbe es.

Updates:
Mehr von mir zu Huub Stapel und den Dreharbeiten von „Zockerexpress“.
„Film muss noch nicht mal gut sein“ – Lemkes „Hamburger Manifest“.
Lemke und ich auf Radio m94,5 zum Hamburger Manifest.