Die Kehrseite Berlins, zwischen Investitionsruinen und Plattenbauten, Stadtautobahn und Gammelgärten will kaum einer sehen, und so wie sie Regisseur Robert Schwentke stilsicher und klischeefrei skizziert, hat auch noch keiner dieses Berlin gesehen, das die schwärende Wunde einer Welt von Beziehungskrüppeln ist. Gleich einer Generation von Großstadtzombies streifen sie durch die Stadt, jeder auf der Suche, auf der Lauer, mal des einen Jäger und nur einen Herzschlag später des anderen Opfer. Berlin brennt, aber es ist nicht etwa das Aufglimmen von Herzen und Verstand, sondern eine tödliche Spur aus Wundbrand und Feuerbällen.
Biografien und Berufe spielen keine Rolle mehr, Identität entsteht aus extremer Verweigerung oder in der noch radikaleren Body Modification: Blech im Gesicht, Farbe bis unter die Haut und – im wahrsten Sinne des Wortes – gespaltene Zungen sind ein Profil des 21. Jahrhunderts.
Der junge Marc (August Diehl) hat sich für die schmerzfreie Verweigerung entschieden, für blasse Ausdruckslosigkeit. Jede Menge Party, ein bißchen Ecstasy, und bloß kein Stress bei der Arbeit: Viel mehr erwartet er sich nicht vom Leben, und seinen ruhigen Job als Nachwuchskriminaler verrichtet er mit dem gleichen Desinteresse wie die regelmäßigen Ausflüge ins Berliner Nachtleben.
Um ihn herum tobt der Totentanz, ein Serienkiller hinterläßt auf der Jagd nach seltenen Tattoos eine blutige Spur, doch Marcs Lethargie wäre ungebrochen, wenn ihn nicht ein älterer Kollege bei einem Drogenrave ertappen würde. Hauptkommissar Minks (Christian Redl) braucht den Jungen als Szenescout und nötigt ihn zum Wechsel in die unappetitlichen Abgründe der Mordkommission, wo sich Marc Schrader (!) aus seinem Kokon befreit und als Wiedergänger jener Großstadtinfernos entpuppt, die Kultautor Paul Schrader („Yakuza“, „Taxi Driver“) einst geschaffen hat. Natürlich kann Schwentke, der auch das Drehbuch schrieb, seine Fernsehvergangenheit („Tatort“) nicht völlig verleugnen, selbstverständlich ist Berlin nicht New York, und Christian Redl kein Robert Mitchum, aber seit Jörg Fausers Büchern habe ich nicht mehr so eine atemberaubende Partitur vom Abstieg in das Leben namens Hölle aus deutscher Hand durchexerziert bekommen.
Der Tod bliebe in diesem düsteren Thriller immer der Sieger, wenn ihm nicht Nadeshda Brennicke eindrucksvoll den Rang ablaufen würde. Nachdem das blonde Gift bereits auf Pro Sieben „In den Straßen von Berlin“ eine Talentprobe gab und vielen kleinen Low-Budget-Filmen ihren Akzent aufsetzte, brilliert sie in „Tattoo“ mit einer unterkühlten Lässigkeit und rasierklingenscharfen Lüsternheit, daß die Frage nach ihrer moralischen Bewertung, nach Gut oder Böse zu vernachlässigen wäre. Sollte die von ihr gespielte Galeristin zu den Guten zählen, trüge die Sünde einen Heiligenschein. Wenn sie das Böse verkörpert, säßen wir alle dennoch sklavisch zu ihren Füßen. Selbst diese Frage wird letztendlich geklärt, so wie uns der Regisseur auf unserer gemeinsamen Reise in die Leichenkeller der Republik auch sonst kein Detail erspart.
Aber man sollte lieber einmal ein Auge zudrücken als wegen einiger unappetitlicher Szenen dieses glitzernde Kleinod verpassen. Denn was hier glänzt, ist ein verdammt ehrlicher Blick auf das autistische Tollhaus namens moderner Zivilisation.
Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 8/2002.
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