Meine alte Schule, das Wittelsbacher Gymnasium, war schon eine prägende – oder deformierende? – Anstalt. 1907 gegründet, von 1922 bis 1930 unter der Leitung von Gebhard Himmler, Vater von Heinrich Himmler und Protagonist von Alfred Anderschs „Der Vater eines Mörders“. Neben Andersch gingen hier auch Eugen Roth, Carl Orff, Gustl Bayrhammer, Dieter Kronzucker, Fritz & Elmar Wepper, Peter Sloterdijk, Ulrich Chaussy, Rainer Maria Schießler und Anton G. Leitner zur Schule. Und ab 1974 sogar Mädchen. Was alsbald zu einem ersten Verweis wegen Knutschens am Sportplatz führte. Verschärfend kam zum Tragen, dass es sich beim Partner der Schülerin um ein „schulfremdes Element“ gehandelt hatte.
Zwischen Circus Krone, Spaten-Brauerei, Finanz- und Landeskriminalamt gelegen, war die Stimmung am Wittelsbacher eben streng-konservativ, was man seinerzeit gern als humanistisch verbrämte. Selbst wenn der Lehrer unaufmerksamen Schülern den Schlüsselbund an den Kopf warf.
Anton G. Leitner, Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift „Das Gedicht“, war mit mir in einem Jahrgang, wenn auch im humanistischen Zweig mit Altgriechisch. Das lehrte Studiendirektor Hans Schober, Ständiger Erster Stellvertreter des Schulleiters. Uns Neusprachlern blieb er als Lehrer erspart, aber alle Schüler*innen fürchteten ihn als Höllenhund an der Schulpforte, der pünktlich zum Unterrichtsbeginn um 8.15 Uhr jedem auflauerte, der zu spät kam, um ihn aufzuschreiben.
In den letztes Jahr veröffentlichten Erinnerungen „Vater, unser See wartet auf dich“, widmete Leitner unter der Überschrift „Die alte und neue Schule des Werdens“ eine Doppelseite auch Schober:
»Mei, Donal, des wead schwea füa di, wei dei Vadda scho ois Bua bei mia an Homäa vom Blaadl weg üwasezzn hod kenna«, unkte unser Kondirektor Hans Schober schon vor meiner allerersten Altgriechischstunde bei ihm. Schober, jener holzgeschnitzte Steißtrommler, der selbst Hitlers Russlandfeldzug überstanden hatte, als junger Leutnant, unverwechselbar durch die rosazeageröteten Wangen und seine mit grauem Haarflor umkränzte, tagtäglich auf Hochglanz polierte Glatze, kurzum: die unbestrittene Koryphäe des Nachkriegs-Humanismus an den höheren Lehranstalten im Freistaat.
Er war ein erklärter Gegner der Koedukation, versteht sich, Vertreter der ziemlich nassen Käsar-und-Kikero-Aussprache im Lateinischen. Damals beherrschte ich noch nicht einmal das griechische Alphabet. Weil Vater es sehr angebracht erschien, mich zu einem besseren Menschen erziehen zu lassen, hatte er meinen Wechsel ans humanistische Gymnasium fürs neunte Schuljahr veranlasst, ohne dabei zu bedenken, dass ja meine zukünftigen Leidensgenossen schon ihr ganzes achtes Schuljahr lang im Gegensatz zu mir zwei Stunden Altgriechisch pro Woche eingetrichtert bekommen hatten. »Des wead scho, Bua«, so sein altbewährtes Baldrian-Ersatz-Placebo, und im äußersten Notfall verabreichte er mir als naturbelassenes Allheilmittel eine Einzeldosis »Scheiß da nix!«
Als mir Schober die erste Extemporale mit geschwungener roter Riesensechs plus Stern auf die Schulbank knallte und bemerkte: »Du bist vollkommen unbegabt!«, war ich noch nicht einmal fähig, seine Stegreifaufgabe zu lesen, geschweige denn zu lösen, und schiss mir fast in die Hose vor Angst. Jahre später klopfte mir der alte Schober nach einer Lesung im Lyrik Kabinett München jovial auf die Schulter und schlug mich nebenbei auch noch zum Ritter: »Des hädd i ma damois need dengd, dass aus dia aa no amoi wos wean kannd, awa a Hundling bisd ja oiwei scho gwen.« Spätestens da begann mir Vaters Panazee, sein metaphorischer Stein des Weisen »Das wird schon« einzuleuchten, weil das, was werden kann, auch wird. Vielleicht. Einmal.
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