Montag, 6. Oktober 2025
Agora (12): Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über Annette Ramelsberger
Montag, 9. Dezember 2024
Agora (11): Die Übersetzerin Christel Hildebrandt erinnert an den Verleger und Buchhändler Dinu Popa
Donnerstag, 18. Januar 2024
Agora (10): Anton G. Leitner über Hans Schober, Studiendirektor des Wittelsbacher Gymnasiums
Meine alte Schule, das Wittelsbacher Gymnasium, war schon eine prägende – oder deformierende? – Anstalt. 1907 gegründet, von 1922 bis 1930 unter der Leitung von Gebhard Himmler, Vater von Heinrich Himmler und Protagonist von Alfred Anderschs „Der Vater eines Mörders“. Neben Andersch gingen hier auch Eugen Roth, Carl Orff, Gustl Bayrhammer, Dieter Kronzucker, Fritz & Elmar Wepper, Peter Sloterdijk, Ulrich Chaussy, Rainer Maria Schießler und Anton G. Leitner zur Schule. Und ab 1974 sogar Mädchen. Was alsbald zu einem ersten Verweis wegen Knutschens am Sportplatz führte. Verschärfend kam zum Tragen, dass es sich beim Partner der Schülerin um ein „schulfremdes Element“ gehandelt hatte.
Zwischen Circus Krone, Spaten-Brauerei, Finanz- und Landeskriminalamt gelegen, war die Stimmung am Wittelsbacher eben streng-konservativ, was man seinerzeit gern als humanistisch verbrämte. Selbst wenn der Lehrer unaufmerksamen Schülern den Schlüsselbund an den Kopf warf.
Anton G. Leitner, Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift „Das Gedicht“, war mit mir in einem Jahrgang, wenn auch im humanistischen Zweig mit Altgriechisch. Das lehrte Studiendirektor Hans Schober, Ständiger Erster Stellvertreter des Schulleiters. Uns Neusprachlern blieb er als Lehrer erspart, aber alle Schüler*innen fürchteten ihn als Höllenhund an der Schulpforte, der pünktlich zum Unterrichtsbeginn um 8.15 Uhr jedem auflauerte, der zu spät kam, um ihn aufzuschreiben.
In den letztes Jahr veröffentlichten Erinnerungen „Vater, unser See wartet auf dich“, widmete Leitner unter der Überschrift „Die alte und neue Schule des Werdens“ eine Doppelseite auch Schober:
»Mei, Donal, des wead schwea füa di, wei dei Vadda scho ois Bua bei mia an Homäa vom Blaadl weg üwasezzn hod kenna«, unkte unser Kondirektor Hans Schober schon vor meiner allerersten Altgriechischstunde bei ihm. Schober, jener holzgeschnitzte Steißtrommler, der selbst Hitlers Russlandfeldzug überstanden hatte, als junger Leutnant, unverwechselbar durch die rosazeageröteten Wangen und seine mit grauem Haarflor umkränzte, tagtäglich auf Hochglanz polierte Glatze, kurzum: die unbestrittene Koryphäe des Nachkriegs-Humanismus an den höheren Lehranstalten im Freistaat.
Er war ein erklärter Gegner der Koedukation, versteht sich, Vertreter der ziemlich nassen Käsar-und-Kikero-Aussprache im Lateinischen. Damals beherrschte ich noch nicht einmal das griechische Alphabet. Weil Vater es sehr angebracht erschien, mich zu einem besseren Menschen erziehen zu lassen, hatte er meinen Wechsel ans humanistische Gymnasium fürs neunte Schuljahr veranlasst, ohne dabei zu bedenken, dass ja meine zukünftigen Leidensgenossen schon ihr ganzes achtes Schuljahr lang im Gegensatz zu mir zwei Stunden Altgriechisch pro Woche eingetrichtert bekommen hatten. »Des wead scho, Bua«, so sein altbewährtes Baldrian-Ersatz-Placebo, und im äußersten Notfall verabreichte er mir als naturbelassenes Allheilmittel eine Einzeldosis »Scheiß da nix!«
Als mir Schober die erste Extemporale mit geschwungener roter Riesensechs plus Stern auf die Schulbank knallte und bemerkte: »Du bist vollkommen unbegabt!«, war ich noch nicht einmal fähig, seine Stegreifaufgabe zu lesen, geschweige denn zu lösen, und schiss mir fast in die Hose vor Angst. Jahre später klopfte mir der alte Schober nach einer Lesung im Lyrik Kabinett München jovial auf die Schulter und schlug mich nebenbei auch noch zum Ritter: »Des hädd i ma damois need dengd, dass aus dia aa no amoi wos wean kannd, awa a Hundling bisd ja oiwei scho gwen.« Spätestens da begann mir Vaters Panazee, sein metaphorischer Stein des Weisen »Das wird schon« einzuleuchten, weil das, was werden kann, auch wird. Vielleicht. Einmal.
Donnerstag, 23. November 2023
Agora (9): Nico Hofmann über Kritiker*innen
Mittwoch, 26. Juli 2023
Agora (8): Amelie Frieds Laudatio auf Maren Kroymann
Verehrte Anwesende, liebe Freunde und Freundinnen, Weggefährten- und Gefährtinnen der Preisträgerin, liebe Maren!
Frauen sind nicht komisch. Also, sie sind...“komisch“. Aber nicht komisch. Das ist es, was uns lange eingeredet wurde, so ähnlich wie die Behauptung, dass Frauen angeblich nicht Spitzenköchinnen oder Dirigentinnen sein können. Zum Glück kommt immer irgendwann eine Frau und widerlegt solche Vorurteile.
Was den Humor angeht, gehört Maren Kroymann in Deutschland zu den Künstlerinnen, die uns gezeigt haben: Humor kann weiblich sein, ohne dämlich zu sein, er kann sogar scharf und politisch sein, und er ist dann am besten, wenn er die Stereotype männlichen Humors auf den Kopf stellt und dadurch entlarvt.
Denn tatsächlich galt Humor Jahrhunderte lang als männlich; sogar wissenschaftlich wollte man das festgestellt haben. Sam Shuster, ein emeritierter Professor der englischen University of East Anglia stellte die These auf, Humor sei eine Sache der Hormone, genauer gesagt eine Frage des Testosteronspiegels. Humor resultiere aus Aggressivität, die in eine verbale Äußerung kanalisiert würde und bestenfalls als Witz ende. Aus dem Faustschlag werde also gewissermaßen ein Scherz. Auch sprachlich passt das: Ein Witz muss genauso sitzen wie ein Schlag (punch) – Punch line ist der englische Begriff für Pointe.
Nun hauen Männer bekanntlich humortechnisch gerne mal daneben, die Witze fallen dann derb oder sogar sexistisch aus, und lange nahm man das – auch als Frau – eben so hin. Nicht so Maren Kroymann. Sie verwendet eine Technik aus dem Judo: Den Schwung des Gegners auffangen und sich zunutze machen. Am Ende liegt er auf der Matte. „Keine Parodie misslingt ihr, nichts gerät ihr peinlich!“ schrieb die TAZ 2019, anlässlich ihres 70. Geburtstages. Und dieser Instinkt, diese Geschmackssicherheit ist es wohl auch, die sie durchgetragen hat durch eine 40-jährige Karriere auf der Bühne und vor der Kamera, die in Deutschland ihresgleichen sucht.
Maren Kroymann wurde in ein bürgerlich-akademisches Elternhaus geboren, wuchs mit vier Brüdern im beschaulichen Tübingen auf und ihr erster Berufswunsch war: Englischlehrerin. Aber dann muss irgendwas passiert sein, das ihre andere, unbürgerliche Seite geweckt hat. Zum Glück, möchte man sagen.
Seit 1982 steht sie auf der Bühne, zunächst als Sängerin, die das gängige Frauenbild anhand von Schlagern kritisch hinterfragt, und mit ihrem ersten Soloprogramm „Auf du und du mit dem Stöckelschuh“ liefert sie gewissermaßen den Soundtrack zur damaligen Debatte, ob enge Kleider und hohe Absätze der Emanzipation schaden, weil sie die Frau zum Objekt männlicher Begierde degradieren, oder ob sie – im Gegenteil – ein Ausdruck weiblichen Selbstbewusstseins sind.
Über diese Frage ist übrigens bis heute kein Konsens erzielt worden, aber Maren Kroymann hat sich der Debatte früh entzogen, indem sie sehr entspannt unter Beweis gestellt hat, dass Eleganz und Intelligenz sich keineswegs ausschließen, ja, dass man sogar Feministin sein kann, ohne Sackkleider und Gesundheitsschuhe zu tragen und die Achselhaare wuchern zu lassen.
1985 war sie zum ersten Mal im Fernsehen – als Gast in Dieter Hildebrandts Sendung „Scheibenwischer“. Als Kabarettistin war sie eine neuartige Figur, an die das Publikum sich erst gewöhnen musste. Politisches Kabarett gab es hierzulande schon, Comedy war erst im Kommen, und Maren Kroymann verkörperte irgendwas dazwischen, ein eigenständiges Genre, das nicht den predigerhaften Charakter der amerikanischen Stand up Comedy hatte (die nicht zufällig aus dem Land der evangelikalen Prediger kommt), aber auch nicht die schwarz-weiß-moralischen Gewissheiten deutschen Polit-Kabaretts. Und so dauerte es etwas, bis sie sich ihren Platz in der Kabarett-Szene erobert hatte.
Was vielen nicht bewusst ist: Maren Kroymann schrieb ihre Texte lange Zeit selbst und entwickelte ihre Figuren eigenständig; sie war als Kabarettistin nicht das Produkt männlicher Phantasien und männlich geprägter Produktionsfirmen – etwas, das sie von ihren wenigen Kolleginnen damals und vor allem von vielen weiblichen Comedy-Stars der jüngeren Zeit unterscheidet.
Aber, wie sie selbst sagt, sie musste erst dazu überredet werden, etwas Eigenes zu machen, weil sie es sich – typisch Frau - selbst nicht zutraute. Übrigens wurde sie dazu von einem Mann überredet (Jürgen Breest, dem damaligen Unterhaltungschef von Radio Bremen), wie sie überhaupt – wie sie selbst sagt – durchaus auch Unterstützung von Männern bekam, aber eben nicht nur. Manche erklärten ihr auch, sie solle bitte nur singen und dabei mit dem Hintern wackeln. Sogar mit Tomaten wurde sie mal beworfen, so befremdlich fanden es offenbar manche, dass eine Frau nicht vorgefertigte Texte spricht, sondern eigene Gedanken auf die Bühne bringt.
Bis heute, wo Maren Kroymann mit einem Autor:innenteam arbeitet, ist es ihr wichtig, kein „Meinungskabarett“ zu machen, nicht vorzugeben, sie sei im Besitz der einzig richtigen Wahrheit, sondern eher dialektisch zu arbeiten, Anregungen zum Nachdenken zu geben und nicht auf die reflexhafte Zustimmung des Publikums zu setzen.
Gehen wir nochmal zurück auf der Zeitachse: 1993 kam der Durchbruch mit ihrer ersten eigenen Sendung „Nachtschwester Kroymann“, in der sie vor allem ihr Talent zur Parodie unter Beweis stellen konnte. Kaum eine prominente Frau war vor ihr sicher, und ihre Imitationen konnten recht gnadenlos sein. Meine Lieblingsparodie war die von Regine Hildebrandt (übrigens nicht verwandt oder verschwägert mit dem Namensgeber dieses Preises), der SPD-Politikerin aus dem Osten, die eine fürchterliche Nervensäge sein konnte, dabei aber ungeheuer engagiert und in ihrer Schnoddrigkeit sehr liebenswert war – und genau diese Mischung war auch in der Parodie zu spüren.
Parallel dazu entwickelte sich Maren Kroymanns Karriere als Schauspielerin. In „Oh Gott, Herr Pfarrer!“ war sie an der Seite von Robert Atzorn – wie sie es selbst formuliert – „die erste feministische Serienmutter“, und in der Serie „Vera Wesskamp“ spielte sie eine Frau, die nach dem Unfalltod ihres Mannes drei Kinder aufziehen und das Familienunternehmen retten soll.
Die Liste ihrer Film- und Fernsehrollen ist schier endlos, und es waren fast immer starke Frauen, die sie gespielt hat, auf jeden Fall Frauen, die gegen Konventionen verstoßen und auch mal Tabus brechen. Ein Film, der ihr besonders am Herzen liegt, ist der Kinofilm „Verfolgt“ von Angelina Maccarone, die Geschichte einer sado-masochistischen Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem sehr jungen Mann, gespielt von Kostja Ullmann. Der Film, in kunstvollem schwarz-weiß gedreht, erhielt 2006 den Goldenen Leoparden beim Filmfestival in Locarno.
1993 geschah etwas, dessen Auswirkungen – so kann man sagen – nicht nur für Maren Kroymann bis heute spürbar sind. Die Zeitschrift STERN hatte die Kampagnen „Ich habe abgetrieben“ und „Ich bin schwul“ publiziert – nun sollte „Ich bin lesbisch“ folgen. Maren Kroymann gibt zu, dass sie lange überlegt, sich dann aber entschlossen hat, mitzumachen, weil sie es wichtig fand und solidarisch sein wollte. Leider sagten kurz vorher alle anderen bekannten Frauen ab, und so war sie die einzige Prominente, die noch dabei war. Die Folge war, ich zitiere sie selbst: „Üble Reaktionen, Verrisse, ein Jahr lang kein Angebot zum Spielen.“
Maren Kroymann dachte damals, sie bereite den Weg für ihre queeren Kolleginnen und Kollegen – aber als die sahen, wie es ihr nach ihrem Outing erging, taten sie natürlich einen Teufel, ihrem Beispiel zu folgen. Es sollte noch Jahre dauern, bis viele Schauspieler:innen, Moderator:innen, Sportler:innen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sich nicht mehr gezwungen fühlten, ihre Homosexualität zu verstecken. Ganz allmählich hat man den Eindruck, dass es hierzulande kaum eine Rolle mehr spielt, welche sexuellen Präferenzen eine Person hat. Und wenn es irgendwann hoffentlich ganz egal geworden ist, wird unsere Preisträgerin einen nicht unerheblichen Anteil daran haben.
Sie selbst sagt heute im Rückblick auf diese Zeit, die Erfahrung habe sie gestärkt. Sie habe gelernt, sich unabhängig zu machen und Gegenwind auszuhalten – und das sei das Wichtigste für eine Kabarettistin. Sie geht sogar noch weiter und sagt, als weiße alte Frau wäre sie doch wahrscheinlich längst weg vom Fenster, da sei es nicht von Nachteil, einer diskriminierten Randgruppe anzugehören. „Meine Queerness schützt mich“, so ihre Worte.
Ob das wirklich stimmt, oder ob es mehr mit ihrem Können, ihrer Vielseitigkeit und ihrer Coolness zu tun hat, dass auch junge Leute sie toll finden, lasse ich jetzt mal dahingestellt. Tatsache ist, dass Maren Kroymann in einem Alter, in dem andere über ihre Zipperlein klagen und höchstens noch Butterfahrten ins Emsland planen, einen Karriereschub erlebt hat, der wirklich außergewöhnlich ist. Seit zehn Jahren wird sie mit Preisen und Auszeichnungen regelrecht überhäuft, seit 2017 ist sie mit dem TV-Format „Kroymann“ wieder regelmäßig auf Sendung, und darüber hinaus dreht sie unaufhörlich Filme.
Man kann sagen, je älter sie wird, desto erfolgreicher wird sie, und auch darin ist sie ein wunderbares Role Model für uns Frauen, die wir ja dazu neigen, uns ab einem gewissen Alter nicht nur unsichtbar zu fühlen, sondern auch unsichtbar zu machen. Maren Kroymann zeigt uns, dass es auch anders geht.
An dieser Stelle würde ich gern eine ganz persönliche Beobachtung einflechten. Man sagt uns Frauen ja gerne nach, wir seien „stutenbissig“, konkurrierten untereinander und ließen uns gern mal abfällig über unsere Geschlechtsgenossinen aus. Und wenn wir jetzt mal ehrlich sind, ja, sowas kommt vor, und gar nicht selten.
Seit ich Maren Kroymann kenne, und ich kenne sie auch persönlich, habe ich noch nie erlebt, dass sie sich hämisch oder herablassend über Kolleginnen geäußert hätte. Es ist, als fühle sie so etwas wie eine Grundsolidarität mit Frauen und insbesondere mit Frauen aus der Film- und Fernsehbranche – weil sie weiß, wie schwer es denen oft gemacht wird, gegen wie viel Ignoranz und Voreingenommenheit sie sich wehren müssen. Auch wenn sie vielleicht persönlich nicht alles gut findet, was eine Kollegin beruflich macht, Maren würde sich immer hinter sie stellen und sie unterstützen. Sie hat es einfach nicht nötig, sich auf Kosten anderer zu profilieren oder ihnen gar schaden zu wollen. Und das ist – ich spreche aus eigener Erfahrung – in dieser Branche alles andere als selbstverständlich.
Gerade sagte ich, dass auch junge Leute sie toll finden. Und das liegt daran, dass sie nicht versucht, mit Gewalt jung zu bleiben oder jung auszusehen, sondern dass sie selbstbewusst und selbstironisch mit dem Thema Alter umgeht. Ich empfehle Ihnen dringend, sich das Musikvideo „Wir sind die Alten“ anzusehen – es hat inzwischen über eine Million Klicks auf Facebook und zeigt all denen sehr humorvoll den Mittelfinger, die glauben, Jugend sei ein Verdienst und Alter eine Schande. Auch in ihr Bühnenprogramm „In my Sixties“ kommen immer mehr junge Leute, denen die Mischung aus selbstbewusster Weiblichkeit, Haltung, Humor und Professionalität gefällt.
Außerdem – und auch das ist übrigens nicht selbstverständlich - geht Maren Kroymann als Künstlerin mit der Zeit und ist nicht nur in Fernsehen und Kino präsent, sondern auch auf sozialen Medien, wodurch sie sich neue Publikumsschichten erschließt. Das ist „in unseren Kreisen“ und in unserer Generation ja oft noch verpönt, und viele (mich eingeschlossen) nehmen nur höchst widerwillig zu Kenntnis, dass man ohne diese Medien heute eigentlich nichts mehr verkaufen kann, keine Meinungen, keine Bücher, keine Kunst. Aber das ist ein anderes Thema.
Maren Kroymann ist auch eine politische Künstlerin, aber nicht nur. Sie ist aber durch und durch eine politische Frau, und als solche zeigt sie Haltung, wenn sie es für notwendig hält. Für sehr notwendig hielt sie es, sich bei der Verleihung des Deutschen Comedy Preises 2021 zum Thema Metoo und dem Umgang der Branche damit zu Wort zu melden. Nachdem sie den Preis für ihr Lebenswerk entgegengenommen hatte, sagte sie unter anderem: „Ich werde jetzt dafür ausgezeichnet, dass ich lustige Geschichten erzähle. Und es gibt Frauen, die eben Geschichten erzählen, die ihre Geschichten sind, die nicht lustig sind. Und sie werden nicht so gerne gehört. (...) Ich würde mir wünschen, dass ihre Geschichte gehört wird. Dass diese Frauen ernst genommen werden. Dass sie respektiert werden. Dass man ihnen glaubt.“
Für diese Rede wurde Maren Kroymann von der Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen mit dem Preis für die Rede des Jahres ausgezeichnet. Und ich glaube, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, dass ihr diese Auszeichnung eine der wertvollsten ist. Sie kann eigentlich nur noch durch eine einzige andere Auszeichnung getoppt werden ;-)
Liebe Maren, die Jury des Dieter-Hildebrandt-Preises wundert sich in ihrer eigenen Jury-Begründung, warum du den Dieter-Hildebrandt-Preis eigentlich noch nicht hast. Nun bekommst du ihn, und eines steht fest: Dieter Hildebrandt hätte sich darüber unglaublich gefreut!
Herzlichen Glückwunsch!
Donnerstag, 27. Februar 2020
Agora (7): Kristof Magnussons Laudatio auf Dana von Suffrin anläßlich des Ernst-Hoferichter-Preises
Liebe Dana von Suffrin, verehrte Anwesende!
Wir sind heute hier, um „Otto“ zu feiern, den großartigen Debutroman von Dana von Suffrin.
Das Wort „Debut“ ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig, schließlich ist das DER große Moment im Leben einer jeden Schriftstellerin und eines jeden Schriftstellers.
Zuvor hat man ja eigentlich nur vor sich hingelebt, wahrscheinlich auch schon länger vor sich hin geschrieben, doch dann kommt dieser Moment, den es in jedem Autorinnenleben nur ein Mal gibt, und ich frage mich manchmal, ob dieser Moment im deutschen Literaturbetrieb seiner Tragweite angemessen gewürdigt wird. In Island, zum Beispiel, ist es eine Zeitungsmeldung wert, wenn sich das Debut angesehener Autorinnen zum zwanzigsten oder vierzigsten Mal jährt. Da heißt es dann: „Wir gratulieren zum Schriftstellergeburtstag“.
Mein Schriftstellergeburtstag jährt sich dieses Jahr zum fünfzehnten Mal. Kurz vor Erscheinen meines ersten Romans saß ich in einem Münchener Restaurant, mit meiner Verlegerin Antje Kunstmann und ein paar anderen Leuten, darunter der britische Autor Tim Parks. Als Tim Parks mich fragte, wer ich eigentlich sei, erzählte ich ihm stolz, dass im Kunstmann-Verlag demnächst mein erster Roman erscheine. Daraufhin fragte er: „Und? Geht es um Familie?“
Der Inhalt meines ersten Romans tut hier nichts zur Sache, aber eins ist klar. Tim Parks hatte Recht.
„Ja, es geht um Familie“, sagte ich. „Woher wussten Sie das?“
„In Debutromanen geht es immer um Familie“, sagte Tim Parks.
Diese These finde ich immer wieder bestätigt. Machen Sie sich mal den Spaß und achten Sie darauf. Von Thomas Manns „Buddenbrooks“ über Jonathan Franzens „Die 27ste Stadt“ bis zu „Die Straße in die Stadt“ von Natalia Ginzburg und „Vienna“ von Eva Menasse…es gibt eine erstaunliche Häufung von Familiengeschichten in ersten Büchern.
Ist ja auch irgendwie logisch. Wir alle sind von unseren Familien geprägt, diesen verschiedensten Menschen, die eine Mischung aus Liebe und Zufall zusammengewürfelt hat. Wer wünscht sich nicht, in diesen uns so nahe gehenden und letztendlich doch nie verstehbaren Flohzirkus ein bisschen Ordnung hineinzubringen, indem wir daraus eine Geschichte machen, die ordentlich zwischen zwei Buchdeckel passt?
Dana von Suffrins Debutroman ist ein Familienroman, wobei diese Familie hauptsächlich aus einem Vater besteht. Es geht um OTTO.
Auf den ersten Seiten des Buches könnte man noch glauben, es handele sich um eine Liebesgeschichte. Die Erzählerin erzählt von ihrem zweiten „Mann“, Tann, den sie kennenlernt, als sie beide im Krankenhaus alte Menschen besuchen, Tann seine Tante. Und Timna eben ihren Vater. Otto.
Doch dann drängt Otto sich mit brachialer Kraft in die Geschichte hinein und lässt sie nicht wieder los. So hinfällig er auch im Laufe seines sechsmonatigen Krankenhausaufenthalts geworden ist – seine Tochter Timna hat er im Griff, und ihre Schwester Babi ebenso. Otto war schon immer ein Tyrann gewesen. Die Bedürfnisse anderer Leute sind ihm nicht nur egal, er scheint sie nicht einmal wahrzunehmen, selbst wenn es um seine eigenen Töchter geht.
Er hat gleich mehreren Ehefrauen das Leben zur Hölle gemacht und dann über jede einen Aktenordner angelegt, die er bei sich im Keller aufbewahrt, zusammen mit Dingen, die er auf der Arbeit geklaut hat. Wenn seine Töchter früher einmal schlechte Schulnoten mit nach Hause brachten, hat er sie als „dumm“ beschimpft, und beim Essen ist sein liebstes Gesprächsthema: sein Urin.
Und nun, wo Otto im Krankenhaus zum ersten Mal Schwäche zeigen muss, setzt er auch diese Schwäche als Waffe ein. Er betont bei jeder Gelegenheit die Wichtigkeit von Familie, wobei diese Familie natürlich in erster Linie eins ist: Er selbst. La famille, c’est moi. Wie ein genialer Regisseur benutzt Otto seine Hinfälligkeit, um seine Töchter nach seiner Pfeife tanzen zu lassen: Er stirbt, dann stirbt er wieder nicht, dann stirbt er wieder, dann wieder nicht. Selbst im Wachkoma scheint er seine Töchter noch vorwurfsvoll anzusehen.
Es gibt Gründe, warum Otto so ist, wie er ist. 1938 als Siebenbürger Jude in Kronstadt geboren, entkam er nur knapp der Vernichtung durch die Deutschen. Der Großteil seiner Familie hatte dieses Glück nicht.
Im kommunistischen Rumänien war Otto als Sohn einer jüdischen Unternehmerfamilie Anfeindungen ausgesetzt, nach seiner Auswanderung nach Israel kämpfte er dort gleich in VIER Kriegen. In den Sechzigerjahren geht Otto nach Deutschland und hat es auch hier alles andere als leicht. Umso wichtiger, eben: Die Familie.
Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, stehen hinter jeder Seite dieses Romans. Ottos Verfolgungs-Erfahrungen sind immer da, jahrelang hatte er eine Tasche mit den Ausweisen seiner Töchter bei sich, um vorbereitet zu sein, falls sie doch einmal deportiert würden. Ottos Traumata sind der sprichwörtliche Elefant im Wohnzimmer – und da Otto wiederum der Elefant im Wohnzimmer seiner Töchter ist, werden auch die immer wieder eingeholt von der Geschichte. SEINER Geschichte.
Wenn Timna gemütlich mit ihrem Love Interest auf dem Sofa liegt, muss Otto nur anrufen und sie springt auf und fährt ins Krankenhaus. Selbst als Timnas Schwester Babi einen Selbstmordversuch begeht und danach wochenlang in der Psychiatrie behandelt wird, nutzt sie ihre wenigen Ausgeh-Stunden, um zu Otto zu fahren, einen Menschen, der sie häufig mit „Arschloch“ anredet.
All das muss man aushalten, wenn man „Otto“ liest. Nein. Ich korrigiere mich. Das WILL man aushalten. Denn Dana von Suffrin ist es auf kaum mehr als zweihundert Seiten gelungen, mit großer Tiefe davon zu erzählen, wie Erfahrungen der Eltern in den Kindern fortwirken. Sie beschönigt nichts, nicht das Leid, das durch Nazideutschland über die Welt kam, und auch nicht die Folgen, die es haben kann, einen Egomanen zum Vater zu haben. Dennoch ist „Otto“ keine selbstmitleidig im Schmutz wühlende Anklageschrift, sondern ein großes Lesevergnügen.
Wie ist Dana von Suffrin das gelungen? Die Gründe dafür lassen sich auf allen Ebenen des Erzählens finden: In der Geschichte. In der Art, wie die Erzählerin Timna die Welt sieht. Und in der Sprache, mit der sie davon erzählt.
Dana von Suffrin verzichtet dankenswerter Weise darauf, einen klassischen Roman mit einem großen, auf einen Höhepunkt zulaufenden Bogen zu schreiben. Stattdessen erzählt sie in Episoden davon, wie Timna und ihre Schwester versuchen, sich in der Gegenwart zurechtzufinden, wie sie Ottos Pflege, ihr brüchiges Liebesleben und ihre nicht weniger brüchigen Karrieren organisieren. Und sie springt immer wieder in vergangene Jahrzehnte, in Geschichten aus ihrer Kindheit, vom Aufwachsen mit Otto und der alkoholkranken Mutter, von Urlauben im sparsamen Wohnwagen, Reisen nach Haifa zum Grab der Oma, erzählt davon wie Timna und ihre Schwester – Otto als Vorbild – anfingen zu klauen,. Und kombiniert das mit dem, was sie von Otto aus der Vergangenheit weiß: Die Migrationsgeschichte von Otto und seinen Vorfahren, aus dem Stetl in Galizien über Wien nach Siebenbürgen, nach Israel und schließlich nach München.
So wirft Dana von Suffrin, wenn Sie mir das etwas drollige Bild verzeihen, mit jeder Episode einen Dartpfeil auf den Elefanten im Wohnzimmer. Diese Dartpfeile treffen ihn nie, das wäre übererklärt. Aber sie sind so präzise geworfen, dass dessen Umrisse am Schluss des Buches erkennbar sind.
Dort heißt es: „Meine Gedanken waren kein Monument, meine Familie war nicht bedeutend, und meine Geschichte war es nicht. Nichts davon verdiente eine Gedenkstätte. Meine Gedanken waren nur so lange da wie ich, und sie waren Gedanken des Hasses und der Liebe.“
Gedanken des Hasses und der Liebe. Ohne diese Gemengelage würde der Roman nicht funktionieren. Es gibt nicht viele Szenen, die Otto als liebevollen Vater darstellen. Und doch ist diese Liebe von Timna zu ihm da. Sonst würde man sich ja dauernd fragen, warum sie sich von ihm manipulieren lässt. Aber das, auch eine große Kunst dieses Romans, fragt man sich nie. Woher kommt also diese Liebe, die wir selbst für Familienmitglieder empfinden, die nicht gut zu uns sind?
Am Anfang des Romans heißt es dazu: „Diese Liebe ist einfach da. Eine Liebe, die durch alle Tümpel der Lächerlichkeit watet.“
Ich spüre diese Liebe dadurch, wie Timna auf Otto mit allen seinen Fehlern sieht. Sie ist empört, wütend, ergriffen, amüsiert, doch eins tut sie nie: sie begibt sich nie in eine überlegene Position, um Otto dann, von oben herab, zu richten. Timna ist nie in der der moralischen Pole Position.
Vielmehr muss ich gestehen, dass ich irgendwann angefangen habe, diesen Otto zu bewundern. Sicher, ein schlimmer Vater. Aber der Einfallsreichtum, mit dem er alle manipuliert – das hat schon was. Und dann diese beeindruckende Beharrlichkeit, mit der er im höchsten Alter weiterhin Auto fährt mit der Begründung, er habe einen Panzerführerschein von der rumänischen Armee. Und die Hybris, mit der er sich als großer Patriarch aufspielt, obwohl er nicht einmal eine Frau hat, sondern nur, wie es im Roman heißt, „Herr über ein Reihenhaus und zwei unglückliche Töchter ist.“
Otto lässt sich von nichts vereinnahmen, erst Recht nicht von der Realität. Und seine Töchter sind ihm in dieser Realitätsverweigerung gar nicht so unähnlich. Timna weiß ja, dass es nicht gut für sie ist, für Otto alles stehen und liegen zu lassen. Aber sie tut es trotzdem, sie folgt dem alten Familienprogramm mit derselben Beharrlichkeit, mit der Otto durch sein Leben gegangen ist.
Doch machtlos ausgeliefert ist sie dieser Dynamik nicht, denn sie kann davon erzählen!
Wenn Timna beschreibt, wie Otto sie und ihre Schwester am Telefon tyrannisiert, erzählt sie auch die Geschichte, wie er immer wieder aus Versehen den ADAC anruft, weil der im Telefonbuch seines Handys direkt über ihrer Schwester Babi steht. Und in der extrem belastenden Situation, als Otto zu Hause allein nicht mehr zurechtkommt, zelebriert sie geradezu den Moment, in dem sie verzweifelt Ottos alte Siebenbürger Freunde auf der Suche nach einer Pflegekraft um Hilfe bittet:
„Binnen zwei Stunden formierte sich ein Bataillon aus duftenden alten Herren mit pomadisierten welligen Haaren, das wie im Wahn Wählschreiben drehte und auf Faxgeräten herumdrückte, das in Telefonhörer sprach, altmodische Vornamen und endlos lange Telefonnummern aufschrieb und sich erst wieder zu einem Gläschen Bier niedersetzte, als es erfolgreich gewesen war.“
Von der, Timnas Kindheit schwer beschädigenden Alkoholkrankheit der Mutter erfahren wir quasi nebenbei. Timna beschreibt eigentlich den Geruch ihres Freundes Tann, der viel Parfüm benutzt, und mitten in dieser Beschreibung kommt auf einmal, IN KLAMMERN folgendes:
„(Das erinnerte mich ein bisschen an meine Mutter, die, wie fast alle Alkoholikerinnen, nach Shalimar, Spirituosen und Zigarettenrauch gerochen hatte.)“
Und wenn Timna von der größten Katastrophe erzählt, klingt das so:
„Dann kamen die Jahre nach 1941, in denen Gott nahm und die Juden wie Gänseblümchen von der Erdoberfläche pflückte. Fast alle unsere Verwandten kamen um, denn sie blieben in Ungarn zurück. (Die Grenze zwischen Rumänien und Ungarn war im Norden, heute gibt es dort kein Rumänien mehr, sondern Ukraine und Ruthenien und Weißderteufelwas, sagte mein Vater, Länder, von denen wir Schwestern nur dank des Eurovision Song Contest eine Vorstellung hatten.)“
Wer erzählt, hat die Wahl, kann sich von den Problemen seiner Figuren überwältigen lassen oder eben nicht. Timna tut das nicht. Sie holt sich durch die Wahl ihrer Worte die Souveränität zurück. Ihr Erzählen ist ein dauerhafter Akt der Selbstermächtigung. Dadurch entfaltet diese Prosa ihre enorme Kraft.
Und daher rührt auch der Humor dieses Buches. Es ist kein Humor der Pointenfrequenz. Kein parodistisches Zerrbild eines „alten Sacks“, sondern ein Humor, der sich einlässt auf die Beschädigungen dieser Welt und ihrer Menschen.
„Wir waren eine Familie von Negativisten, wie mein Vater sagt. Wenn ich in ein Flugzeug stieg, schaltete mein Vater viertelstündlich zum Videotext, um zu überprüfen, ob ich schon abgestürzt war. Kurze und kürzeste Verspätungen konnten wir uns nur damit erklären, dass jemand überfahren oder ausgeraubt worden war. Wenn wir einen Krankenwagen hörten, scharrten wir nervös mit den Füßen, denn sicherlich brannte gerade unser Wohnhaus; wenn der Sanka in die entgegengesetzte Richtung fuhr, dann hatte er sich eben verfahren; kein Grund ruhig zu bleiben.“
Und es ist ein Humor, der sich immer wieder mit Schwermut mischt, wie zum Beispiel bei der Beschreibung von Ottos ungarischer Pflegerin Valli:
„Valli trug in ihren Turnschuhen sehr bunte, weiche Socken aus reinem Polyester und hatte ein großes, merkwürdiges Gesicht: Augen, Augenbrauen und Mund waren ein wenig nach innen gerutscht und nahe an die Nase herangerückt, so blieb eine flächige hohe Stirn, die Valli das Aussehen einer mittelalterlichen Madonna verlieh, nur noch trauriger.“
Valli wird im Laufe ihres Aufenthalts bei Otto immer dicker. Darüber heißt es:
„Einerseits tat uns Vallis Übergewicht sehr leid, andererseits ging es uns hier wie mit den meisten Dingen des Lebens: Wir fanden die Entwicklung von Vallis Körper unendlich traurig und gleichzeitig sensationell komisch und beobachteten verzückt, wie sie sich kiloweise gebratene Geflügelschenkel in den Rachen stopfte, als sei sie ein Vogel, der sein Küken füttert, nur war sie gleichzeitig der Vogel und das Küken.“
„Unendlich traurig und gleichzeitig sensationell komisch.“ So ist „Otto“ von Dana von Suffrin. Ein Buch darüber, wie wenig die Vergangenheit vergangen ist, weil sie in unseren Familien weiterlebt. Oder, um ein letztes Mal aus dem Buch zu zitieren: „Wir bleiben Kinder von Kindern.“
Darin liegt eine immense Tragik. Idealerweise sollten wir Menschen nicht so sein. Doch dann kommt zum Glück das Komische und zeigt uns, wie wir als die Menschen leben können, die wir nun einmal sind. „Kinder von Kindern.“
Am Schluss des Buches ist Otto tot. Wir haben einen weiteren Zeitzeugen verloren aus der Zeit, die bis heute – ich hoffe, Sie finden das jetzt nicht anmaßend – der Elefant in unser aller Wohnzimmer ist, auf mehr oder weniger traumatisierende Weise. Einige Jahre noch, dann wird kein Zeitzeuge mehr da sein. Doch das Erzählen geht weiter, denn zum Glück gibt es die Literatur. Zum Glück gibt es solche Literatur wie „Otto“ von Dana von Suffrin.
Das wollen wir heute feiern. Liebe Dana, ich gratuliere Dir von ganzem Herzen zu diesem Buch und zum Ernst-Hoferichter-Preis 2020.
(Foto von Dana von Suffrin mit Kulturreferent Anton Biebl und Laudator Kristof Magnusson: Amrei-Marie)
Montag, 11. Dezember 2017
Heinz van Nouhuys: Barkunde (1996)
Er war Chefredakteur der „Quick“ gewesen. Brachte für den Bauer-Verlag den „Playboy“ sowie später in Eigenregie dessen feinsinnigeres, frecheres französisches Pendant: „lui“ nach Deutschland. Schließlich gründete Nouhuys die Intellektuellen-Postille „Transatlantik“, die nicht ewig währte, aber bis heute als heiliger Gral in der Kulturszene verehrt wird. Nach der Wende und Einstellung von „Transatlantik“ zog Nouhuys, übrigens auch ein ehemaliger Doppelagent, ins wiedervereinigte Berlin.
Dort schrieb er für uns als Gastautor eine kleine Einführung in die Barkunde. Von Mixologen hat damals noch niemand etwas geahnt, und auch sonst durchweht den Text der glücklicherweise überstandene misogyne Hauch der Bar als Männerbund. Aber ich habe den kleinen Beitrag dennoch gern wieder gelesen, als er mir dieser Tage aus einer Ablage entgegenfiel.
Der Text erschein im Juli 1996 in „Ticket“, dem Kultursupplement des Berliner „Tagesspiegel“.
Der dumme Spruch – Bars hießen so, weil man in ihnen besonders viel Bargeld loswird – stimmt so natürlich nicht. Die Bezeichnung kommt aus dem Amerikanischen und hat einen Ursprung, wie es seriöser nicht mehr geht: Bar heißt dort das Möbelstück, durch das sich das Gericht Distanz zum Verhandlungssaal verschafft. Ein Anwalt, der vor der Bar plädiert, heißt heute noch Barrister. Steht eine solche Bar in einer Berliner Kneipe, nennt sie der Einheimische Tresen.
Anders als in Berliner Gerichten stehen hinter jeder Bar, die sich hier so nennt, eine Menge Flaschen. Die Flaschen kauft der Wirt im Großhandel. Ihnen, dem Gast, schenkt er den Inhalt mit durchschnittlich 300 Prozent Gewinnmarge aus. Nimmt er 400 Prozent, ist das bei teuren Mieten und feudaler Ausstattung noch durchaus im Rahmen. Nimmt er nur 200 Prozent, sollten Sie nachschauen, ob die Gläser gespült sind.
Wenn bei der Inneneinrichtung richtig zugelangt wurde, nennt sich eine Bar gerne Club; bei rustikalen Holzmöbeln und einer Schwingtür Saloon. In einer Nightbar beträgt der Aufschlag auf billigen Sekt 1000 Prozent; in einem Nightclub gilt das gleiche für Champagner. In beiden Fällen gehört der Schlüssel, den Ihnen die Barfrau („Ich komme dann gleich nach“) gegeben hat, entweder zu einem Trummergrundstück oder einem Beamtensilo des Berliner Senats. Lokale, in denen Kuh-Sekrete am Tresen ausgeschenkt werden, nennen sich Milchbar. Wurde die Kuh ermordet und verbrennt man ihr Fleisch auf glühender Holzkohle, heißt das BAR-B-QUE.
Jede Bar ist so gut (oder schlecht) wie ihre Stammgäste. Kommen Sie als Neuer rein, kennen Sie die Stammgäste natürlich nicht. Woran erkennen Sie, ob es sich um eine gute Bar mit guten Gästen handelt? 1. Hinter der Bar steht (mindestens) ein Mann. 2. Er benutzt keinen Meßbecher, sondern schenkt freihändig ein. 3. Hinter ihm im Regal stehen mindestens zehn Whisky-Marken, darunter mindestens drei Pure Single Malts; beim Gin sind drei Marken Minimum, einer davon mit 42 Prozent Alkohol und darüber; beim Cognac drei Marken. 4. Nach spätestens zwei Kippen wird der Aschenbecher geleert. 5. Der Barkeeper fängt von sich aus kein Gespräch mit seinen Gästen an, und er verweigert Ihnen den letzten Drink, wenn Sie ihn nicht mehr vertragen. 6. Mit Sex läuft in einer guten Bar nichts. (Alte amerikanische Weisheit: Frauen lenken zu sehr vom Trinken ab.)
Da Berlin noch immer mehr Kneipen als Kräne hat, und wir hier keinen Platz für ein Branchenadreßbuch haben, nenne ich Ihnen nur eine kleine Auswahl empfehlenswerter Bars. Alle Bars großer Hotels; am fröhlichsten Harry's New-York Bar im Esplanade; am distinguiertesten die Bar im Savoy, wo bereits das sorglose Umblättern der „FAZ“ als Ruhestörung empfunden wird.
Die Bar am Lützowplatz, mit 31 Metern die längste Theke der Stadt. Dort, wie im Esplanade um die Ecke, Sommerdrinks satt. Als Promitreff das Botticelli, Dahlmanstraße, wohin tout Berlin von der Hundekehle und dem Landhaus Bott nachgezogen ist. Die Galerie Bremer, Fasanenstraße, wo Sie tagsüber Gemälde kaufen und nachts mit den Malern und deren „Kunden“ trinken können – seit über 40 Jahren bedient und unterhalten vom schwarzen Charmebolzen Rudi, der bald hundert wird. Ein Stück weiter oben in der Straße die Bar 47 des Junggastronomen Frankie, der mit hundert Spitzenspirituosen und weiteren hundert Jazz-CDs vom Feinsten schnell den Anschluß an die großen Berliner Traditionsbars geknüpft hat.
Am Schrulligsten das kleine Wiener Stüber'l in der Uhlandstraße, ein Theater- und Medientreff, wo der Wirt jeden Neuen anraunzt: „Erzähl' mir bloß koane G'schichten, i kenn sie alle.“
Zum Schluß eine Bar, die alles hat, was man von einer optimalen Bar erwartet: bestes Publikum, erlesene Getränke, höfliche Bedienung, anregendes Ambiente, durchaus angemessene Preise. Ihr Name: Paris Bar. Aber das ist leider keine Bar, sondern nur ein Restaurant.
Mittwoch, 16. Januar 2013
Agora (6): Sigi Zimmerschieds Laudatio auf Luise Kinseher beim Ernst-Hoferichter-Preis
Liebe Luise,
meine mehr oder weniger anwesenden Damen und Herren.
Was Laudatios so schwierig macht, ist die Tatsache, daß Preise einen Künstler immer im falschen Moment treffen.
Es wird ja eigentlich nie ein Künstler ausgezeichnet, sondern die Jury gratuliert sich in der Regel dazu, einen gefunden zu haben.
Und das gilt für alle.
Ich persönlich habe für meine besten Arbeiten nie einen Preis bekommen.
Sondern immer dann, wenn ein Juror gesagt hat:
Du, do gibt’s doch noch den...den mid der Nosn...wia hoaßt der denn... Und scho hob i´n ghobt.
Manchen Kollegen hat der Preis so früh getroffen, daß er zu der irrigen Überzeugung gelangt ist, er hätte bereits etwas geschaffen, und diese Position standhaft nie wieder verlassen hat.
Im schlimmsten Falle trifft er einen so spät, daß man sich gar nicht mehr erinnern kann, wofür man ihn bekommt.
Luise Kinseher hat dieser Preis in einer Phase erwischt, in der sie unübersehbar ist. Unübersehbar.
Als Künstlerin natürlich in erster Linie, als Kabarettistin, die mit einer Leichtigkeit und Souveränität ihr multiples Figurenensemble über die Bühne wirbelt, daß einem schwindlig wird.
Die jedem ihrer Geschöpfe ein Gesicht, eine Haltung, eine Sprache und eine so tragikomische, komplexe Seele gibt, daß sich der himmlische Schöpfer wahrscheinlich schon öfter angesichts der Kretins, mit denen er die Welt bevölkert hat, an der Stirn gekratzt haben dürfte und zu sich gesagt hat:
„Worum bring iatzt i sowos ned zam ?“
Unübersehbar.
Als Volksschauspielerin, die, wenn sie das will, jederzeit in die Fußstapfen der ganz Großen dieses Genres treten kann, die diese seltene Mischung hat aus gewinnender Natürlichkeit, tiefer Figurenliebe, waffenscheinpflichtiger Sinnlichkeit und gestaltendem Intellekt.
Einiges, was sich zur Zeit Quotenkönigin nennt, hat von den genannten Qualitäten allenfalls die Kommatas.
Unübersehbar.
Als Nockherbergkönigin, die Landtagskonfirmanden abwatscht, als hätte sie die beim Nasenbohren überrascht.
Mit dem verhängnisvollen Sprachduftwolkencharme eines anheimelnden Desingnerseifenstücks, mit dem die Machtpomeranzen glauben, sich die Hände waschen zu können und auf dem sie ausrutschen wie die Bummerl unter der Gemeinschaftsdusche im Nonneninternat.
Unübersehbar.
Multimedial.
Titelblätterfüllend.
Und zwar in ihrer Funktion als Kabarettistin mit einem Gastauftritt auf dem Nockherberg.
Normalerweise muß man da den Paulanerchef heiraten, damit man das schafft. Titelblatt.
Als Kabarettist und Frau.
Eigentlich unmöglich.
Für so etwas sind allenfalls die Gnadeneinspalter in den Münchner Feuilletons reserviert, und da muß man noch hoffen, daß sich Dieter Dorn nicht gerade einen Finger verstaucht, sonst sind diese 18 Zeilen auch noch weg.
Unübersehbar.
Selbst für eine Jury.
Das wollte sich der Preis nicht entgehen lassen.
Da hat wahrscheinlich der Preis zur Jury gesagt:
Machts ihr wos woits, i geh zur Luise.
Weil do sans olle.
Do is wos los.
Und do is sche.
Ist doch auch schön.
Wo ist das Problem mit der Laudatio?
Es liegt genau darin.
In einer Zeit, in der Kabarett verkommen ist zur medialen Ramschware, in dem theaterungebildete und sinnlichkeitsarme Quotenangsthasen definieren, was dieses Genre ausmacht, bedeutet jede Popularität auch eine Gefahr.
Weil all der Glanz und all die Aufregung es so schwer machen, das Wesentliche an einem Künstler zu entdecken.
Weil eine Frage immer schwerer zu beantworten ist, eine Frage, die für mich, solange ich selbst noch Juror war, immer die entscheidende war.
Muß der da oben das machen?
Oder?!
Macht er das das nur?
Die Medienverführung ist groß.
Selbst ich, der ich die jungen Kollegen oft als Kabarettmoralist und „talibanesque Spaßbremse“ vor den Medien gewarnt habe, finde mich in letzter Zeit manchmal in Produktionen wieder, bei denen ich mir sage:
„Des derfad iatzt de Luise ned wissen!!“
Aber andererseits.
Wer sucht, der irrt.
Und wer in der Medienwelt hofft, schon zweimal.
Entscheidend ist.
Sucht er weiter.
In sich.
Nach den Wurzeln.
Von ihrer Kindheit weiß ich nicht viel.
Aber wer eine Jugendzeit in Straubing so ungebrochen überlebt, der hat zumindest Kraft.
Kennengelernt habe ich sie im Fraunhofer.
Sehnsucht, Glück, Angst und Hoffnung.
Das sei der Kontext ihrer Figuren.
Und somit auch ihrer.
Denn in jeder wahrhaftig gespielten Figur steckt der Darsteller selbst.
So steht es in der Jurybegründung.
Das stimmt.
Wie sie vor nun ,mittlerweile“ über zwanzig Jahren als Bedienung im Fraunhofer einem ein Bier hingestellt hat, da schwang schon viel Sehnsucht mit.
Beobachtungslust.
Das Bier war eigentlich nur eine Tarnung.
Hinter dieser Schaumkrone stand bereits eine komplette Kinseher, eine Person, die einem mit einer unverschämten Freundlichkeit ins Visier nahm.
Ein Blick, der eine Mischung war aus Einladung zum Fensterln, angewandtem Geschlechterkampf und Begleitungsangebot auf dem Weg zu Schafott.
„I bring da scho no oane, a zwoa, wennstas vertrogts.”
Und sie brachte die zwei, auch die drei Biere in der Hoffnung, daß ihr da jemand gegenübersaß, der ihrem Spieltrieb gewachsen war.
Und es war ein Blick, in dem damals bereits, neben all den von der Jury erwähnten Eigenschaften noch etwas geschrieben stand.
Etwas noch viel Wesentlicheres.
Nämlich die Sucht.
Nach skurrilen Menschen.
Nach lustvollen Momenten.
Nach Lachen.
Und nach Gestalten.
Und sie stand da, nachdem die Fixierungsphase abgeschlossen war, mit diesem unwiderstehlichen, unausgesprochenen „Und, wia findst mi?!“
Er war also auch schon damals da.
Der unbedingte Begleiter jeder Bühnenexistenz.
Der Exihibitionismus.
Mitsamt seiner unangenehmen Begleitung.
Der Angst, nicht geliebt zu werden.
Dann schrieb sie ihre ersten beiden Programme.
Die mehr waren als Gehversuche in viel zu großen Schuhen, wie es uns eines ihrer ersten Plakate zeigte.
Dort konnte man eine Luise Kinseher erleben, die mit der Form kämpfte.
Ich lernte damals den Theatermenschen Luise kennen und schätzen.
Sie hat es sich und ihrem Publikum nicht immer leicht gemacht.
Sie hat auf verschiedenen Ebenen erzählt,
Walter Sedlmayr auf Rainer Werner Fassbinder sich treffen lassen.
Sie hat die Hölle geöffnet und die Ratlosigkeit.
Da hätte sie bereits den Preis verdient.
Als sie noch nicht unübersehbar und so unendlich vieles zu entdecken war.
Ich jedenfalls empfand es als Geschenk wieder jemanden in unserer Kabarettfamilie zu haben, mit dem man anstelle über Quoten, Besucherzahlen und Familienplanung wieder über Struktur, Form und Inhalte reden konnte.
Es ist nämlich nicht so, daß unser Kabarettgenre überreich gesegnet ist mit Kollegen, die über den halben Meter zur nächsten Pointe hinausdenken.
Luise Kinseher ist in der Lage kilometerweit zu denken.
So weit, daß ihr am Ende wohl oft selbst die Füße weh taten, wenn sie ihr Ziel wieder einmal erreicht hatte.
Das ist anstrengend.
Und dann hat man das Recht sich auch einmal eine Verschnaufpause zu geben.
Den Akku wieder aufladen.
Das Korsett mit der Manege vertauschen, die Figuren laufen lassen und das Publikum in den Arm nehmen.
Dem Affen Zucker und sich selbst ein Schuhbeck Gewürzemenue zu genehmigen.
Und nun bewegt sie sich in der Manege der großen Öffentlichkeit.
Sitzt Moderatoren gegenüber, die ihr nicht das Wasser reichen können.
Bleibt souverän.
Insistiert auf Inhalte.
Verleiht sogar dem Banalen Charme und Glanz und entlarvt es dadurch.
Auch das ist Kunst.
Also?!
Muß die Luise Kinseher das machen?
Oder macht sie es bloß?
Ist da was, was diesen Menschen antreibt, nicht losläßt bis an sein Lebensende.
Etwas Unverwechselbares.
Etwas Unauslöschbares.
Ein Defekt.
Diese Inkompatibilität mit dem Gewöhnlichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich kann sie und vor allem mich in dieser Frage beruhigen.
Luise Kinseher ist nicht richtig im Kopf.
Luise Kinseher hat diesen Defekt.
Und der wird sie weitertreiben.
Diese originäre Kraft wird uns noch vieles schenken, da bin ich mir sicher.
Wenn sich die formale Gestaltungsenergie ihrer ersten Phase wiedertrifft mit der Spielfulminanz der zweiten und der Öffentlichkeitssouveränität der dritten...dann Gnade uns Gott.
Was heißt Gnade.
Stolz wird er sein, der Herrgott.
Er wird, wenn er dann frustriert auf die restliche, mittlerweile völlig verblödete Schar von Fernsehhumoristen schaut, mit der ihm eigenen Schöpfereitelkeit nur sagen.
Schau her, de Luise.
Manchmoi bring i doch no wos zam.
Und deshalb.
Weil da eigentlich jemand trotz aller Unübersehbarkeit erst aufbricht, noch lange nicht am Ende ist, weil das Fragen und Fühlen, das Leben und das Gestaltenwollen in diesem Prachtweib nie enden wird und weil jede Ermutigung dazu uns immer wieder gut tut.
Deshalb hat es jetzt doch einen Sinn gemacht, eine Laudatio zu halten.
Liebe Luise, ich gratuliere dir....zu dir.
Vielen Dank.
(Foto: @DoSchu)
Dienstag, 19. Juni 2012
Agora (5): Radio-Nachrichten auf dem Prüfstand von Christoph Ebner
Hamburg. Die internationalen Mineralölkonzerne haben erneut an der Preisschraube gedreht. Preisfrage: Haben Sie eine Preisschraube an Ihrem Wagen? Ich bin Opel-Fahrer und daher Mitleid gewöhnt. Aber nicht mal Opel bietet Preisschrauben als Zubehör an.
Preisschrauben gibt es nur in der geschraubten Sprache schlecht formulierter Nachrichten. Die Nachricht heißt also besser: Sprit ist teurer geworden. Und die Spitzmarke Hamburg hilft uns auch nicht weiter.
Denn: Hand aufs Herz – wann haben Sie zuletzt in Hamburg getankt? – Hamburg als Spitzmarke? Eher Humbug.
Die Welt ist kompliziert. Keine Frage. Und mit Sätzen, mit Meldungen, mit Sendungen, die sich unwahrscheinlich kompetent-kompliziert anhören, machen wir sie noch schwieriger. Wer hingegen einfach formuliert, muss Mut haben und Mut zeigen. Denn er läuft Gefahr, dass ihm vorgeworfen wird, primitiv zu formulieren – vor allem von den eigenen Kolleginnen und Kollegen.
Und: Wir wollen Informationen richtig wiedergeben. Das macht es noch schwieriger, einfach zu formulieren.
Wer sich diesen Gefahren nicht aussetzen will, nimmt einfach einige Begriffe, die jeden Tag durchs Land geistern: Der Fiskalpakt, der Vertrag von Maastricht, die Schuldenbremse, der Vermittlungsausschuss, die Kommunalverfassung, die Fünf-Prozent-Hürde, das Quorum – beliebig ergänzbar.
Oder er lässt in einer Meldung Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut mit Dirk Meyer von der Helmut-Schmidt-Universität darüber streiten wie sinnig oder unsinnig Eurobonds sind. Dann weiß der Hörer eines: Dass er nichts weiß.
Dem Hörer kommen die Tränen. Nicht weil er am Radio verzweifelt. Weil er Zwiebel schneidet! Das ist eine keineswegs unübliche Beschäftigung beim Radiohören. Denn die Radiogemeinde versammelt sich nicht nach der Lektüre mehrere Tageszeitung zur weiteren Informationsaufnahme an den Geräten. Sie schneidet Zwiebeln, kocht Spaghetti, schaltet vom vierten in den fünften Gang, portioniert Tabletten für Herz-Patienten oder versucht mühevoll, die Zahn-Zwischenräume zu reinigen. Und in der Kulturmeldung höre ich zur selben Zeit, wie ein Herr Friedmann nach “hellbraunen Assoziationen” im neuen Werk von Thilo Sarrazin sucht. Und ich höre, wie die fünf Tore im Sonntagsspiel der Fußball-Bundesliga fallen. Eigentlich in 90 Minuten. In den Nachrichten aber in einem Satz. Jeweils ausgestattet mit Name, Vorname und geographischer Herkunft der glücklichen Torschützen.
In der Regionalmeldung höre ich, dass der Glan Hochwasser führt. Bisher wusste ich nicht,dass der Glan überhaupt Wasser führt, geschweige denn wohin.
Deshalb: Weniger voraussetzen, Meldung nicht mit Inhalten überfrachten, mehr erklären. Das geht nur sprachlich.
Ich werde gefragt: „Machen Sie nur Nachrichten?“ Antwort: „Wenn Sie ‘nur’ im Sinne von ‘ausschließlich’ verstehen? Ja.“ Radionachrichten, die ins Ohr gehen, machen Mühe. Denn sie setzen sich komplett von dem ab, was uns als Ausgangsmaterial vorliegt. Sprachlich nicht inhaltlich.













