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Donnerstag, 18. Januar 2024

Agora (10): Anton G. Leitner über Hans Schober, Studiendirektor des Wittelsbacher Gymnasiums

Meine alte Schule, das Wittelsbacher Gymnasium, war schon eine prägende – oder deformierende? – Anstalt. 1907 gegründet, von 1922 bis 1930 unter der Leitung von Gebhard Himmler, Vater von Heinrich Himmler und Protagonist von Alfred Anderschs „Der Vater eines Mörders“. Neben Andersch gingen hier auch Eugen Roth, Carl Orff, Gustl Bayrhammer, Dieter Kronzucker, Fritz & Elmar Wepper, Peter Sloterdijk, Ulrich Chaussy, Rainer Maria Schießler und Anton G. Leitner zur Schule. Und ab 1974 sogar Mädchen. Was alsbald zu einem ersten Verweis wegen Knutschens am Sportplatz führte. Verschärfend kam zum Tragen, dass es sich beim Partner der Schülerin um ein „schulfremdes Element“ gehandelt hatte. 

Zwischen Circus Krone, Spaten-Brauerei, Finanz- und Landeskriminalamt gelegen, war die Stimmung am Wittelsbacher eben streng-konservativ, was man seinerzeit gern als humanistisch verbrämte. Selbst wenn der Lehrer unaufmerksamen Schülern den Schlüsselbund an den Kopf warf. 

Anton G. Leitner, Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift „Das Gedicht“, war mit mir in einem Jahrgang, wenn auch im humanistischen Zweig mit Altgriechisch. Das lehrte Studiendirektor Hans Schober, Ständiger Erster Stellvertreter des Schulleiters. Uns Neusprachlern blieb er als Lehrer erspart, aber alle Schüler*innen fürchteten ihn als Höllenhund an der Schulpforte, der pünktlich zum Unterrichtsbeginn um 8.15 Uhr jedem auflauerte, der zu spät kam, um ihn aufzuschreiben. 

In den letztes Jahr veröffentlichten Erinnerungen „Vater, unser See wartet auf dich“, widmete Leitner unter der Überschrift „Die alte und neue Schule des Werdens“ eine Doppelseite auch Schober: 

»Mei, Donal, des wead schwea füa di, wei dei Vadda scho ois Bua bei mia an Homäa vom Blaadl weg üwasezzn hod kenna«, unkte unser Kondirektor Hans Schober schon vor meiner allerersten Altgriechischstunde bei ihm. Schober, jener holzgeschnitzte Steißtrommler, der selbst Hitlers Russlandfeldzug überstanden hatte, als junger Leutnant, unverwechselbar durch die rosazeageröteten Wangen und seine mit grauem Haarflor umkränzte, tagtäglich auf Hochglanz polierte Glatze, kurzum: die unbestrittene Koryphäe des Nachkriegs-Humanismus an den höheren Lehranstalten im Freistaat. 

Er war ein erklärter Gegner der Koedukation, versteht sich, Vertreter der ziemlich nassen Käsar-und-Kikero-Aussprache im Lateinischen. Damals beherrschte ich noch nicht einmal das griechische Alphabet. Weil Vater es sehr angebracht erschien, mich zu einem besseren Menschen erziehen zu lassen, hatte er meinen Wechsel ans humanistische Gymnasium fürs neunte Schuljahr veranlasst, ohne dabei zu bedenken, dass ja meine zukünftigen Leidensgenossen schon ihr ganzes achtes Schuljahr lang im Gegensatz zu mir zwei Stunden Altgriechisch pro Woche eingetrichtert bekommen hatten. »Des wead scho, Bua«, so sein altbewährtes Baldrian-Ersatz-Placebo, und im äußersten Notfall verabreichte er mir als naturbelassenes Allheilmittel eine Einzeldosis »Scheiß da nix!« 

Als mir Schober die erste Extemporale mit geschwungener roter Riesensechs plus Stern auf die Schulbank knallte und bemerkte: »Du bist vollkommen unbegabt!«, war ich noch nicht einmal fähig, seine Stegreifaufgabe zu lesen, geschweige denn zu lösen, und schiss mir fast in die Hose vor Angst. Jahre später klopfte mir der alte Schober nach einer Lesung im Lyrik Kabinett München jovial auf die Schulter und schlug mich nebenbei auch noch zum Ritter: »Des hädd i ma damois need dengd, dass aus dia aa no amoi wos wean kannd, awa a Hundling bisd ja oiwei scho gwen.« Spätestens da begann mir Vaters Panazee, sein metaphorischer Stein des Weisen »Das wird schon« einzuleuchten, weil das, was werden kann, auch wird. Vielleicht. Einmal.

Donnerstag, 23. November 2023

Agora (9): Nico Hofmann über Kritiker*innen

Am 21. November 2023 ist Samira El Ouassil für ihren Essay „Wie ich lernte, Barbie (nicht) zu lieben“ mit dem Michael-Althen-Preis für Kritik ausgezeichnet worden. Anläßlich der Preisverleihung im Deutschen Theater Berlin hielt der Filmproduzent und Regisseur Nico Hofmann eine „Suada“ über Filmkritiker*innen, um El Ouassil zu zitieren. Den Text hat Hofmann gemeinsam mit Thomas Laue entwickelt. (Mein Twitter-Thread von der Preisverleihung.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
lieber Claudius Seidl, liebe Familie Althen, 
liebe Jury, 
und natürlich liebe Preisträgerin: liebe Samira El Ouassil! 

Heute hier sprechen zu dürfen, bedeutet mir viel, und ich möchte Dir, lieber Claudius, sehr für diese Einladung danken. Zum einen, weil ich mich Michael Althen, dessen Namen der Preis trägt, sehr verbunden fühle. Ich weiß, wie schwer es ist, die Vergabe eines solchen Preises über so einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Man kann Engagement und Leidenschaft gar nicht stark genug würdigen. 

Zum anderen ist das, wofür dieser Preis und sein Namensgeber stehen, heute vielleicht so wichtig wie selten zuvor. 

Die Art von Kritik, für die wir Michael Althen bewundert und verehrt haben, und die bis über seinen viel zu frühen Tod hinauswirkt, war immer kostbar, und sie ist es heute mehr denn je:

Nicht selten beschränkt sich die öffentliche Beschreibung von Kunst – welcher Form auch immer – derzeit auf ein schnelles Urteil, eine plakative Meinung oder im schlimmsten Fall eine schlechtgelaunte, pointierte Vernichtung. Die Fähigkeit und auch die Geduld und der Mut zu einer neugierigen und dabei spürbar persönlichen Auseinandersetzung mit dem Gesehenen, zu einer nicht nur analytischen, sondern auch emotional klugen Befragung sind beängstigend rar geworden.

Und auch auf die Gefahr hin, mich hier dem Verdacht eines Kulturpessimismus auszusetzen, möchte ich hinzufügen: Möglicherweise ist diese Art kritischer Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur zurzeit auch nicht unbedingt überall so besonders gefragt.

In vielen deutschen Feuilletons wird der Platz für Film- oder Theaterkritik sukzessive zusammengestrichen. Zu wenig Leser, zu wenig Klicks, zu kompliziert in der Wahrnehmung.
Aber auch bei vielen Kunstschaffenden hat die Kritik derzeit einen schlechten Ruf. Man muss nicht unbedingt den vielzitierten Satz einer Hamburger Theaterintendantin heraufbeschwören, die Kritik sei „die Scheiße am Ärmel der Kunst“, um festzustellen, dass es mit dem Verhältnis zwischen Kreativen und ihren Rezensenten nicht zum Besten steht.

Um so wichtiger ist es, dass wir uns einmal mehr daran erinnern, was Kritik eigentlich zu leisten vermag. Für uns als Künstler. Aber prototypisch auch für unsere Gesellschaft an sich. Kritik im Sinne eines Michael Althen, der zweifelsohne einer der Genauesten und zugleich einer der liebevoll Subjektivsten seiner Zunft war – und dabei immer ein unermüdlich Suchender.

Ich bin Filmemacher und Produzent, meine Profession ist es seit nun fast vierzig Jahren, Geschichten in Worten und in Bildern zu erzählen, und dafür Figuren zu erschaffen, Schicksale abzubilden, Welten zu erfinden. Von der Idee für einen Film bis zu dem Moment, wo er in die Kinos kommt oder im Fernsehen zu sehen ist, vergehen viele viele Jahre.

Film ist seinem Wesen nach ein deutlich weniger schnelllebiges Geschäft, als man gemeinhin denkt. Es braucht viel Zeit und noch viel mehr Arbeit bis aus einer Idee ein Drehbuch entsteht. Es ist ein aufregender aber eben oft auch ein unendlich mühsamer Weg voller Hürden, Zweifel und Unwägbarkeiten – in jeder einzelnen Etappe ist man als Filmemacher dem Scheitern meist deutlich näher als dem ersehnten Erfolg.

Auch wenn an diesem Prozess auf einer langen Wegstrecke hunderte von Menschen beteiligt sind, bleiben der kreative Prozess und das, was wir am Ende so geheimnisvoll das „Filmemachen“ nennen, im Kern ein sehr intimer Prozess.
Ich selbst gehe dabei trotz jahrzehntelanger Erfahrung immer wieder durch alle Höhen und Tiefen sämtlicher emotionaler Zustände.

Euphorie und Leidenschaft liegen dabei oft ganz nah bei Verzweiflung und Depression, Schaffensmanie und Sendungsbewusstsein unmittelbar neben Angst und Ratlosigkeit, und nicht selten schlägt auch der unumstößliche Entschluss zur bedingungslosen Kapitulation in kürzester Zeit um in Paranoia und Größenwahn.

Wahrscheinlich braucht es in einem kreativen Prozess ein bisschen von all dem, damit am Ende der Film entsteht, den man machen will. Denn natürlich – wie könnte es anders sein – ist ein Film NIE fertig. NIE so, dass er aus der Sicht derer, die ihn machen, nicht noch ein bisschen besser sein könnte.
Mir selbst wird diese Vergeblichkeit des Strebens nach Perfektion jedes Mal wieder neu bewusst, wenn einer meiner Filme Premiere hat, wenn ein Saal voller bis dahin gänzlich Unbeteiligter meinen Film sieht. Oder schlimmer noch, wenn – für mich unsichtbar – Millionen Zuschauer zuhause den Fernseher einschalten.

Ich erlebe dann den ganzen langen Schaffensprozess noch einmal. Denn auch ich sehe nun meinen eigenen Film mit den Augen des Publikums – neu.

Und plötzlich fallen mir all die Stellen auf, die ich anders hätte schneiden müssen, die Wendungen, die wir so viel besser hätten erzählen können, oder im schlimmsten Fall die Bedeutungsebenen, die ich nicht gesehen habe, aber die doch so wichtig gewesen wären.

Es ist ein oft schmerzhafter aber auch ein befreiender Moment. Denn bei all der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit und des Zweifels, sehe ich noch etwas: Ich sehe, wieviel von all den Menschen, die diesen Film gemeinsam geschaffen haben, in ihm steckt. Wie viele Gedanken, wieviel Haltung, wieviel Leidenschaft – ein Stück von der Seele all derer, die daran beteiligt waren.

Und ich sehe, warum wir diesen Film gemacht haben: Weil wir etwas erzählen wollten, etwas mitteilen, uns an der Welt reiben, die wir da draußen vorfinden.

Und ich weiß in dem Moment, dass das Herstellen dieses Filmes jetzt zwar abgeschlossen ist, aber dass mein Prozess deshalb noch lange nicht vorbei ist. Denn nun beginnt das, wofür wir unsere Filme in die Welt setzen: Jetzt kommt die Reaktion, auf das, was wir zu erzählen haben.

Die Auseinandersetzung beginnt, die Debatte, und im besten Fall entsteht so etwas wie ein Dialog. Zwischen dem, was wir mit unserem Film über die Welt erzählen und dem, was diese Welt auf unseren Film zu erwidern hat. So wünsche ich mir, dass sich diese Gesellschaft mit dem auseinandersetzen möge, was wir ihr hier anbieten.

Und dafür braucht es die Kritik. Indem Sie beschreiben, was Sie gesehen haben, es einordnen, es beurteilen, es kritisieren. Indem Sie antworten. Film braucht diese Reaktionen, damit er lebt. Und ich persönlich brauche sie auch. Ich wünsche sie mir.

Und wenn ich ehrlich sein soll: Möglichst viel davon. Denn die Arbeit an und mit meinem Film geht ja weiter. In der Auseinandersetzung mit dem, was ich erzählen wollte und dem, was davon bei den Zuschauern ankommt, was es auslöst. Ich will wissen, ob ich verstanden worden bin, ob mein Film beglückt oder verstört, ob er Denkräume öffnet oder wütend macht. Oder, am schlimmsten: ob er den Menschen gleichgültig ist.

Dabei ist es oft die Vielstimmigkeit, aus der ich den größten Nutzen ziehen. Die Pluralität der Reaktionen und Meinungen führt wiederum bei mir zu der größten Reaktion. Zu einem Hinterfragen meiner eigenen Haltung, zu neuen Ideen, neuen Gedanken.

Natürlich ist dabei Kritik nicht gleich Kritik. Wobei wir wieder am Anfang wären. Denn unter all denen, die kritisieren, gibt es die, die herausstechen. Weil sie nicht nur urteilen, sondern sich einlassen. Weil sie nicht nur kalt beschreiben, sondern dabei sich selbst, ihre Haltung, ihr Denken, ihr Fühlen, zur Verfügung stellen. Weil sie neugierig sind. Weil sie nicht nur werten, sondern suchen.

Weil sie den Film abgleichen mit der Welt, in der sie leben, ihn auf diese Welt beziehen und dadurch auf sich selbst. Weil sie ihm Fragen stellen, und dabei in dem, was ich geschaffen habe, manchmal etwas entdecken, was ich selbst noch gar nicht gesehen haben. Und so Antworten geben auf neue Fragen, die ich mir vielleicht jetzt erst stelle.

Kritik, die sich auf diese Weise einlässt, kann treffen. Sie kann verletzen, sie kann Grenzen überschreiten, und sie kann verstören. Aber sie kann auch stärken, und sie kann überraschen. Und sie kann etwas bewegen. Ich höre sie, und ich nehme sie ernst. Denn sie kann Räume öffnen, die wiederum den künstlerischen Prozess verändern. Räume, in denen eine Diskussion geführt werden kann, eine Debatte. Solche Kritik kann beglücken. Und so kommt es vor, dass ich etwas lese und dabei denke: Möge es doch immer so sein.

Und dann hebe ich den Blick und stelle fest: Ist es natürlich nicht immer. Immer seltener in der journalistischen Beschreibung von Kultur, eher immer seltener im Diskurs des Feuilletons. Aber auch immer weniger – so muss man hinzufügen – in der gesellschaftlichen Diskussion. Denn so wie die offene, sich einlassende Auseinandersetzung mit Kultur kostbar geworden ist, so ist auch die die öffentliche Debatte mühsam geworden.

Es scheint, als hätten wir bisweilen auch in der Auseinandersetzung über unsere Gesellschaft und im Reden miteinander verlernt, uns mit unserem Gegenüber auseinanderzusetzen. Verlernt, uns auf einen anderen Standpunkt als den eigenen einzulassen. Zu befragen, was wir gesehen haben, in der Hoffnung, etwas zu entdecken oder zu verstehen, was wir noch nicht kannten oder wussten.

Es ist leicht geworden, eine Haltung zu haben und sie energisch zu vertreten. Am besten und am einfachsten in der eigenen Blase. Aber es scheint schwer für uns geworden zu sein, die eigene Haltung mit der von anderen abzugleichen, wenn sie sich von unserer eigenen unterscheidet. Und noch schwerer, uns selbst dabei in Zweifel zu ziehen, uns in einer Diskussion mit anderen mit all dem, was wir sind und denken, selbst zur Verfügung zu stellen.

Statt miteinander, reden wir übereinander, urteilen über die anderen und über die Welt, statt sie zu beschreiben oder zu befragen. Und manch einer weigert sich gar, die Welt, wie wir sie vorfinden, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Aber wie sollen wir fruchtbar unterschiedlicher Meinung sein, wenn wir uns nicht einmal darauf einigen können, worüber wir eigentlich gerade diskutieren?

Die Nominierten des Michael Althen Preises und nicht zuletzt die diesjährige Preisträgerin zeichnen sich dadurch aus, dass sie genau hinschauen, dass sie neugierig sind und dass sie nicht aufhören zu fragen und zu suchen. Sie sind oft radikal subjektiv und extrem meinungsstark – aber sie verlieren dabei trotzdem nie den Bezug zur Welt. Dabei spricht oft Zweifel an der Verfasstheit dieser Welt aus ihnen, aber nie Verachtung, sondern Empathie, manchmal sogar so etwas wie Liebe.

Ich bin mir sicher, das hätte Michael gefallen. Es ist gut, dass es diese Nominierten und ihre Texte gibt. Und es ist gut, dass es diesen Preis gibt. Denn auf nichts davon können wir gerade verzichten.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.

Update zum Feedback

Mittwoch, 26. Juli 2023

Agora (8): Amelie Frieds Laudatio auf Maren Kroymann

Am 25. Juli 2023 wurde Maren Kroymann im Alten Rathaus mit dem Dieter-Hildebrandt-Preis der Stadt München ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Amelie Fried:

Verehrte Anwesende, liebe Freunde und Freundinnen, Weggefährten- und Gefährtinnen der Preisträgerin, liebe Maren! 

Frauen sind nicht komisch. Also, sie sind...“komisch“. Aber nicht komisch. Das ist es, was uns lange eingeredet wurde, so ähnlich wie die Behauptung, dass Frauen angeblich nicht Spitzenköchinnen oder Dirigentinnen sein können. Zum Glück kommt immer irgendwann eine Frau und widerlegt solche Vorurteile. 

Was den Humor angeht, gehört Maren Kroymann in Deutschland zu den Künstlerinnen, die uns gezeigt haben: Humor kann weiblich sein, ohne dämlich zu sein, er kann sogar scharf und politisch sein, und er ist dann am besten, wenn er die Stereotype männlichen Humors auf den Kopf stellt und dadurch entlarvt. 

Denn tatsächlich galt Humor Jahrhunderte lang als männlich; sogar wissenschaftlich wollte man das festgestellt haben. Sam Shuster, ein emeritierter Professor der englischen University of East Anglia stellte die These auf, Humor sei eine Sache der Hormone, genauer gesagt eine Frage des Testosteronspiegels. Humor resultiere aus Aggressivität, die in eine verbale Äußerung kanalisiert würde und bestenfalls als Witz ende. Aus dem Faustschlag werde also gewissermaßen ein Scherz. Auch sprachlich passt das: Ein Witz muss genauso sitzen wie ein Schlag (punch) – Punch line ist der englische Begriff für Pointe. 

Nun hauen Männer bekanntlich humortechnisch gerne mal daneben, die Witze fallen dann derb oder sogar sexistisch aus, und lange nahm man das – auch als Frau – eben so hin. Nicht so Maren Kroymann. Sie verwendet eine Technik aus dem Judo: Den Schwung des Gegners auffangen und sich zunutze machen. Am Ende liegt er auf der Matte. „Keine Parodie misslingt ihr, nichts gerät ihr peinlich!“ schrieb die TAZ 2019, anlässlich ihres 70. Geburtstages. Und dieser Instinkt, diese Geschmackssicherheit ist es wohl auch, die sie durchgetragen hat durch eine 40-jährige Karriere auf der Bühne und vor der Kamera, die in Deutschland ihresgleichen sucht. 

Maren Kroymann wurde in ein bürgerlich-akademisches Elternhaus geboren, wuchs mit vier Brüdern im beschaulichen Tübingen auf und ihr erster Berufswunsch war: Englischlehrerin. Aber dann muss irgendwas passiert sein, das ihre andere, unbürgerliche Seite geweckt hat. Zum Glück, möchte man sagen.

 Seit 1982 steht sie auf der Bühne, zunächst als Sängerin, die das gängige Frauenbild anhand von Schlagern kritisch hinterfragt, und mit ihrem ersten Soloprogramm „Auf du und du mit dem Stöckelschuh“ liefert sie gewissermaßen den Soundtrack zur damaligen Debatte, ob enge Kleider und hohe Absätze der Emanzipation schaden, weil sie die Frau zum Objekt männlicher Begierde degradieren, oder ob sie – im Gegenteil – ein Ausdruck weiblichen Selbstbewusstseins sind. 

Über diese Frage ist übrigens bis heute kein Konsens erzielt worden, aber Maren Kroymann hat sich der Debatte früh entzogen, indem sie sehr entspannt unter Beweis gestellt hat, dass Eleganz und Intelligenz sich keineswegs ausschließen, ja, dass man sogar Feministin sein kann, ohne Sackkleider und Gesundheitsschuhe zu tragen und die Achselhaare wuchern zu lassen.

1985 war sie zum ersten Mal im Fernsehen – als Gast in Dieter Hildebrandts Sendung „Scheibenwischer“. Als Kabarettistin war sie eine neuartige Figur, an die das Publikum sich erst gewöhnen musste. Politisches Kabarett gab es hierzulande schon, Comedy war erst im Kommen, und Maren Kroymann verkörperte irgendwas dazwischen, ein eigenständiges Genre, das nicht den predigerhaften Charakter der amerikanischen Stand up Comedy hatte (die nicht zufällig aus dem Land der evangelikalen Prediger kommt), aber auch nicht die schwarz-weiß-moralischen Gewissheiten deutschen Polit-Kabaretts. Und so dauerte es etwas, bis sie sich ihren Platz in der Kabarett-Szene erobert hatte. 

Was vielen nicht bewusst ist: Maren Kroymann schrieb ihre Texte lange Zeit selbst und entwickelte ihre Figuren eigenständig; sie war als Kabarettistin nicht das Produkt männlicher Phantasien und männlich geprägter Produktionsfirmen – etwas, das sie von ihren wenigen Kolleginnen damals und vor allem von vielen weiblichen Comedy-Stars der jüngeren Zeit unterscheidet. 

Aber, wie sie selbst sagt, sie musste erst dazu überredet werden, etwas Eigenes zu machen, weil sie es sich – typisch Frau - selbst nicht zutraute. Übrigens wurde sie dazu von einem Mann überredet (Jürgen Breest, dem damaligen Unterhaltungschef von Radio Bremen), wie sie überhaupt – wie sie selbst sagt – durchaus auch Unterstützung von Männern bekam, aber eben nicht nur. Manche erklärten ihr auch, sie solle bitte nur singen und dabei mit dem Hintern wackeln. Sogar mit Tomaten wurde sie mal beworfen, so befremdlich fanden es offenbar manche, dass eine Frau nicht vorgefertigte Texte spricht, sondern eigene Gedanken auf die Bühne bringt.

Bis heute, wo Maren Kroymann mit einem Autor:innenteam arbeitet, ist es ihr wichtig, kein „Meinungskabarett“ zu machen, nicht vorzugeben, sie sei im Besitz der einzig richtigen Wahrheit, sondern eher dialektisch zu arbeiten, Anregungen zum Nachdenken zu geben und nicht auf die reflexhafte Zustimmung des Publikums zu setzen. 

Gehen wir nochmal zurück auf der Zeitachse: 1993 kam der Durchbruch mit ihrer ersten eigenen Sendung „Nachtschwester Kroymann“, in der sie vor allem ihr Talent zur Parodie unter Beweis stellen konnte. Kaum eine prominente Frau war vor ihr sicher, und ihre Imitationen konnten recht gnadenlos sein. Meine Lieblingsparodie war die von Regine Hildebrandt (übrigens nicht verwandt oder verschwägert mit dem Namensgeber dieses Preises), der SPD-Politikerin aus dem Osten, die eine fürchterliche Nervensäge sein konnte, dabei aber ungeheuer engagiert und in ihrer Schnoddrigkeit sehr liebenswert war – und genau diese Mischung war auch in der Parodie zu spüren. 

Parallel dazu entwickelte sich Maren Kroymanns Karriere als Schauspielerin. In „Oh Gott, Herr Pfarrer!“ war sie an der Seite von Robert Atzorn – wie sie es selbst formuliert – „die erste feministische Serienmutter“, und in der Serie „Vera Wesskamp“ spielte sie eine Frau, die nach dem Unfalltod ihres Mannes drei Kinder aufziehen und das Familienunternehmen retten soll. 

Die Liste ihrer Film- und Fernsehrollen ist schier endlos, und es waren fast immer starke Frauen, die sie gespielt hat, auf jeden Fall Frauen, die gegen Konventionen verstoßen und auch mal Tabus brechen. Ein Film, der ihr besonders am Herzen liegt, ist der Kinofilm „Verfolgt“ von Angelina Maccarone, die Geschichte einer sado-masochistischen Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem sehr jungen Mann, gespielt von Kostja Ullmann. Der Film, in kunstvollem schwarz-weiß gedreht, erhielt 2006 den Goldenen Leoparden beim Filmfestival in Locarno. 

1993 geschah etwas, dessen Auswirkungen – so kann man sagen – nicht nur für Maren Kroymann bis heute spürbar sind. Die Zeitschrift STERN hatte die Kampagnen „Ich habe abgetrieben“ und „Ich bin schwul“ publiziert – nun sollte „Ich bin lesbisch“ folgen. Maren Kroymann gibt zu, dass sie lange überlegt, sich dann aber entschlossen hat, mitzumachen, weil sie es wichtig fand und solidarisch sein wollte. Leider sagten kurz vorher alle anderen bekannten Frauen ab, und so war sie die einzige Prominente, die noch dabei war. Die Folge war, ich zitiere sie selbst: „Üble Reaktionen, Verrisse, ein Jahr lang kein Angebot zum Spielen.“ 

Maren Kroymann dachte damals, sie bereite den Weg für ihre queeren Kolleginnen und Kollegen – aber als die sahen, wie es ihr nach ihrem Outing erging, taten sie natürlich einen Teufel, ihrem Beispiel zu folgen. Es sollte noch Jahre dauern, bis viele Schauspieler:innen, Moderator:innen, Sportler:innen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sich nicht mehr gezwungen fühlten, ihre Homosexualität zu verstecken. Ganz allmählich hat man den Eindruck, dass es hierzulande kaum eine Rolle mehr spielt, welche sexuellen Präferenzen eine Person hat. Und wenn es irgendwann hoffentlich ganz egal geworden ist, wird unsere Preisträgerin einen nicht unerheblichen Anteil daran haben. 

Sie selbst sagt heute im Rückblick auf diese Zeit, die Erfahrung habe sie gestärkt. Sie habe gelernt, sich unabhängig zu machen und Gegenwind auszuhalten – und das sei das Wichtigste für eine Kabarettistin. Sie geht sogar noch weiter und sagt, als weiße alte Frau wäre sie doch wahrscheinlich längst weg vom Fenster, da sei es nicht von Nachteil, einer diskriminierten Randgruppe anzugehören. „Meine Queerness schützt mich“, so ihre Worte. 

Ob das wirklich stimmt, oder ob es mehr mit ihrem Können, ihrer Vielseitigkeit und ihrer Coolness zu tun hat, dass auch junge Leute sie toll finden, lasse ich jetzt mal dahingestellt. Tatsache ist, dass Maren Kroymann in einem Alter, in dem andere über ihre Zipperlein klagen und höchstens noch Butterfahrten ins Emsland planen, einen Karriereschub erlebt hat, der wirklich außergewöhnlich ist. Seit zehn Jahren wird sie mit Preisen und Auszeichnungen regelrecht überhäuft, seit 2017 ist sie mit dem TV-Format „Kroymann“ wieder regelmäßig auf Sendung, und darüber hinaus dreht sie unaufhörlich Filme. 

Man kann sagen, je älter sie wird, desto erfolgreicher wird sie, und auch darin ist sie ein wunderbares Role Model für uns Frauen, die wir ja dazu neigen, uns ab einem gewissen Alter nicht nur unsichtbar zu fühlen, sondern auch unsichtbar zu machen. Maren Kroymann zeigt uns, dass es auch anders geht. 

An dieser Stelle würde ich gern eine ganz persönliche Beobachtung einflechten. Man sagt uns Frauen ja gerne nach, wir seien „stutenbissig“, konkurrierten untereinander und ließen uns gern mal abfällig über unsere Geschlechtsgenossinen aus. Und wenn wir jetzt mal ehrlich sind, ja, sowas kommt vor, und gar nicht selten. 

Seit ich Maren Kroymann kenne, und ich kenne sie auch persönlich, habe ich noch nie erlebt, dass sie sich hämisch oder herablassend über Kolleginnen geäußert hätte. Es ist, als fühle sie so etwas wie eine Grundsolidarität mit Frauen und insbesondere mit Frauen aus der Film- und Fernsehbranche – weil sie weiß, wie schwer es denen oft gemacht wird, gegen wie viel Ignoranz und Voreingenommenheit sie sich wehren müssen. Auch wenn sie vielleicht persönlich nicht alles gut findet, was eine Kollegin beruflich macht, Maren würde sich immer hinter sie stellen und sie unterstützen. Sie hat es einfach nicht nötig, sich auf Kosten anderer zu profilieren oder ihnen gar schaden zu wollen. Und das ist – ich spreche aus eigener Erfahrung – in dieser Branche alles andere als selbstverständlich. 

Gerade sagte ich, dass auch junge Leute sie toll finden. Und das liegt daran, dass sie nicht versucht, mit Gewalt jung zu bleiben oder jung auszusehen, sondern dass sie selbstbewusst und selbstironisch mit dem Thema Alter umgeht. Ich empfehle Ihnen dringend, sich das Musikvideo „Wir sind die Alten“ anzusehen – es hat inzwischen über eine Million Klicks auf Facebook und zeigt all denen sehr humorvoll den Mittelfinger, die glauben, Jugend sei ein Verdienst und Alter eine Schande. Auch in ihr Bühnenprogramm „In my Sixties“ kommen immer mehr junge Leute, denen die Mischung aus selbstbewusster Weiblichkeit, Haltung, Humor und Professionalität gefällt. 

Außerdem – und auch das ist übrigens nicht selbstverständlich - geht Maren Kroymann als Künstlerin mit der Zeit und ist nicht nur in Fernsehen und Kino präsent, sondern auch auf sozialen Medien, wodurch sie sich neue Publikumsschichten erschließt. Das ist „in unseren Kreisen“ und in unserer Generation ja oft noch verpönt, und viele (mich eingeschlossen) nehmen nur höchst widerwillig zu Kenntnis, dass man ohne diese Medien heute eigentlich nichts mehr verkaufen kann, keine Meinungen, keine Bücher, keine Kunst. Aber das ist ein anderes Thema. 

Maren Kroymann ist auch eine politische Künstlerin, aber nicht nur. Sie ist aber durch und durch eine politische Frau, und als solche zeigt sie Haltung, wenn sie es für notwendig hält. Für sehr notwendig hielt sie es, sich bei der Verleihung des Deutschen Comedy Preises 2021 zum Thema Metoo und dem Umgang der Branche damit zu Wort zu melden. Nachdem sie den Preis für ihr Lebenswerk entgegengenommen hatte, sagte sie unter anderem: „Ich werde jetzt dafür ausgezeichnet, dass ich lustige Geschichten erzähle. Und es gibt Frauen, die eben Geschichten erzählen, die ihre Geschichten sind, die nicht lustig sind. Und sie werden nicht so gerne gehört. (...) Ich würde mir wünschen, dass ihre Geschichte gehört wird. Dass diese Frauen ernst genommen werden. Dass sie respektiert werden. Dass man ihnen glaubt.“ 

Für diese Rede wurde Maren Kroymann von der Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen mit dem Preis für die Rede des Jahres ausgezeichnet. Und ich glaube, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, dass ihr diese Auszeichnung eine der wertvollsten ist. Sie kann eigentlich nur noch durch eine einzige andere Auszeichnung getoppt werden ;-) 

Liebe Maren, die Jury des Dieter-Hildebrandt-Preises wundert sich in ihrer eigenen Jury-Begründung, warum du den Dieter-Hildebrandt-Preis eigentlich noch nicht hast. Nun bekommst du ihn, und eines steht fest: Dieter Hildebrandt hätte sich darüber unglaublich gefreut! 

Herzlichen Glückwunsch! 

Donnerstag, 27. Februar 2020

Agora (7): Kristof Magnussons Laudatio auf Dana von Suffrin anläßlich des Ernst-Hoferichter-Preises

Am 30. Januar wurden Dana von Suffrin und Rudi Hurzlmeier im Literaturhaus mit dem Ernst-Hoferichter-Preis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. Während Gerhard Polts Lobrede auf Rudi Hurzlmeier mit einem „Rudi…, Respekt!“ zusammenzufassen ist, war Kristof Magnussons Laudatio auf Dana von Suffrin ein elaboriertes Juwel: 

Liebe Dana von Suffrin, verehrte Anwesende!

Wir sind heute hier, um „Otto“ zu feiern, den großartigen Debutroman von Dana von Suffrin.

Das Wort „Debut“ ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig, schließlich ist das DER große Moment im Leben einer jeden Schriftstellerin und eines jeden Schriftstellers.

Zuvor hat man ja eigentlich nur vor sich hingelebt, wahrscheinlich auch schon länger vor sich hin geschrieben, doch dann kommt dieser Moment, den es in jedem Autorinnenleben nur ein Mal gibt, und ich frage mich manchmal, ob dieser Moment im deutschen Literaturbetrieb seiner Tragweite angemessen gewürdigt wird. In Island, zum Beispiel, ist es eine Zeitungsmeldung wert, wenn sich das Debut angesehener Autorinnen zum zwanzigsten oder vierzigsten Mal jährt. Da heißt es dann: „Wir gratulieren zum Schriftstellergeburtstag“.

Mein Schriftstellergeburtstag jährt sich dieses Jahr zum fünfzehnten Mal. Kurz vor Erscheinen meines ersten Romans saß ich in einem Münchener Restaurant, mit meiner Verlegerin Antje Kunstmann und ein paar anderen Leuten, darunter der britische Autor Tim Parks. Als Tim Parks mich fragte, wer ich eigentlich sei, erzählte ich ihm stolz, dass im Kunstmann-Verlag demnächst mein erster Roman erscheine. Daraufhin fragte er: „Und? Geht es um Familie?“

Der Inhalt meines ersten Romans tut hier nichts zur Sache, aber eins ist klar. Tim Parks hatte Recht. 
„Ja, es geht um Familie“, sagte ich. „Woher wussten Sie das?“
„In Debutromanen geht es immer um Familie“, sagte Tim Parks.

Diese These finde ich immer wieder bestätigt. Machen Sie sich mal den Spaß und achten Sie darauf. Von Thomas Manns „Buddenbrooks“ über Jonathan Franzens „Die 27ste Stadt“ bis zu „Die Straße in die Stadt“ von Natalia Ginzburg und „Vienna“ von Eva Menasse…es gibt eine erstaunliche Häufung von Familiengeschichten in ersten Büchern.

Ist ja auch irgendwie logisch. Wir alle sind von unseren Familien geprägt, diesen verschiedensten Menschen, die eine Mischung aus Liebe und Zufall zusammengewürfelt hat. Wer wünscht sich nicht, in diesen uns so nahe gehenden und letztendlich doch nie verstehbaren Flohzirkus ein bisschen Ordnung hineinzubringen, indem wir daraus eine Geschichte machen, die ordentlich zwischen zwei Buchdeckel passt?

Dana von Suffrins Debutroman ist ein Familienroman, wobei diese Familie hauptsächlich aus einem Vater besteht. Es geht um OTTO.

Auf den ersten Seiten des Buches könnte man noch glauben, es handele sich um eine Liebesgeschichte. Die Erzählerin erzählt von ihrem zweiten „Mann“, Tann, den sie kennenlernt, als sie beide im Krankenhaus alte Menschen besuchen, Tann seine Tante. Und Timna eben ihren Vater. Otto.

Doch dann drängt Otto sich mit brachialer Kraft in die Geschichte hinein und lässt sie nicht wieder los. So hinfällig er auch im Laufe seines sechsmonatigen Krankenhausaufenthalts geworden ist – seine Tochter Timna hat er im Griff, und ihre Schwester Babi ebenso. Otto war schon immer ein Tyrann gewesen. Die Bedürfnisse anderer Leute sind ihm nicht nur egal, er scheint sie nicht einmal wahrzunehmen, selbst wenn es um seine eigenen Töchter geht.
Er hat gleich mehreren Ehefrauen das Leben zur Hölle gemacht und dann über jede einen Aktenordner angelegt, die er bei sich im Keller aufbewahrt, zusammen mit Dingen, die er auf der Arbeit geklaut hat. Wenn seine Töchter früher einmal schlechte Schulnoten mit nach Hause brachten, hat er sie als „dumm“ beschimpft, und beim Essen ist sein liebstes Gesprächsthema: sein Urin.
Und nun, wo Otto im Krankenhaus zum ersten Mal Schwäche zeigen muss, setzt er auch diese Schwäche als Waffe ein. Er betont bei jeder Gelegenheit die Wichtigkeit von Familie, wobei diese Familie natürlich in erster Linie eins ist: Er selbst. La famille, c’est moi. Wie ein genialer Regisseur benutzt Otto seine Hinfälligkeit, um seine Töchter nach seiner Pfeife tanzen zu lassen: Er stirbt, dann stirbt er wieder nicht, dann stirbt er wieder, dann wieder nicht. Selbst im Wachkoma scheint er seine Töchter noch vorwurfsvoll anzusehen.

Es gibt Gründe, warum Otto so ist, wie er ist. 1938 als Siebenbürger Jude in Kronstadt geboren, entkam er nur knapp der Vernichtung durch die Deutschen. Der Großteil seiner Familie hatte dieses Glück nicht.
Im kommunistischen Rumänien war Otto als Sohn einer jüdischen Unternehmerfamilie Anfeindungen ausgesetzt, nach seiner Auswanderung nach Israel kämpfte er dort gleich in VIER Kriegen. In den Sechzigerjahren geht Otto nach Deutschland und hat es auch hier alles andere als leicht. Umso wichtiger, eben: Die Familie.

Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, stehen hinter jeder Seite dieses Romans. Ottos Verfolgungs-Erfahrungen sind immer da, jahrelang hatte er eine Tasche mit den Ausweisen seiner Töchter bei sich, um vorbereitet zu sein, falls sie doch einmal deportiert würden. Ottos Traumata sind der sprichwörtliche Elefant im Wohnzimmer – und da Otto wiederum der Elefant im Wohnzimmer seiner Töchter ist, werden auch die immer wieder eingeholt von der Geschichte. SEINER Geschichte.

Wenn Timna gemütlich mit ihrem Love Interest auf dem Sofa liegt, muss Otto nur anrufen und sie springt auf und fährt ins Krankenhaus. Selbst als Timnas Schwester Babi einen Selbstmordversuch begeht und danach wochenlang in der Psychiatrie behandelt wird, nutzt sie ihre wenigen Ausgeh-Stunden, um zu Otto zu fahren, einen Menschen, der sie häufig mit „Arschloch“ anredet.

All das muss man aushalten, wenn man „Otto“ liest. Nein. Ich korrigiere mich. Das WILL man aushalten. Denn Dana von Suffrin ist es auf kaum mehr als zweihundert Seiten gelungen, mit großer Tiefe davon zu erzählen, wie Erfahrungen der Eltern in den Kindern fortwirken. Sie beschönigt nichts, nicht das Leid, das durch Nazideutschland über die Welt kam, und auch nicht die Folgen, die es haben kann, einen Egomanen zum Vater zu haben. Dennoch ist „Otto“ keine selbstmitleidig im Schmutz wühlende Anklageschrift, sondern ein großes Lesevergnügen.

Wie ist Dana von Suffrin das gelungen? Die Gründe dafür lassen sich auf allen Ebenen des Erzählens finden: In der Geschichte. In der Art, wie die Erzählerin Timna die Welt sieht. Und in der Sprache, mit der sie davon erzählt.

Dana von Suffrin verzichtet dankenswerter Weise darauf, einen klassischen Roman mit einem großen, auf einen Höhepunkt zulaufenden Bogen zu schreiben. Stattdessen erzählt sie in Episoden davon, wie Timna und ihre Schwester versuchen, sich in der Gegenwart zurechtzufinden, wie sie Ottos Pflege, ihr brüchiges Liebesleben und ihre nicht weniger brüchigen Karrieren organisieren. Und sie springt immer wieder in vergangene Jahrzehnte, in Geschichten aus ihrer Kindheit, vom Aufwachsen mit Otto und der alkoholkranken Mutter, von Urlauben im sparsamen Wohnwagen, Reisen nach Haifa zum Grab der Oma, erzählt davon wie Timna und ihre Schwester – Otto als Vorbild – anfingen zu klauen,. Und kombiniert das mit dem, was sie von Otto aus der Vergangenheit weiß: Die Migrationsgeschichte von Otto und seinen Vorfahren, aus dem Stetl in Galizien über Wien nach Siebenbürgen, nach Israel und schließlich nach München.

So wirft Dana von Suffrin, wenn Sie mir das etwas drollige Bild verzeihen, mit jeder Episode einen Dartpfeil auf den Elefanten im Wohnzimmer. Diese Dartpfeile treffen ihn nie, das wäre übererklärt. Aber sie sind so präzise geworfen, dass dessen Umrisse am Schluss des Buches erkennbar sind.

Dort heißt es: „Meine Gedanken waren kein Monument, meine Familie war nicht bedeutend, und meine Geschichte war es nicht. Nichts davon verdiente eine Gedenkstätte. Meine Gedanken waren nur so lange da wie ich, und sie waren Gedanken des Hasses und der Liebe.“

Gedanken des Hasses und der Liebe. Ohne diese Gemengelage würde der Roman nicht funktionieren. Es gibt nicht viele Szenen, die Otto als liebevollen Vater darstellen. Und doch ist diese Liebe von Timna zu ihm da. Sonst würde man sich ja dauernd fragen, warum sie sich von ihm manipulieren lässt. Aber das, auch eine große Kunst dieses Romans, fragt man sich nie. Woher kommt also diese Liebe, die wir selbst für Familienmitglieder empfinden, die nicht gut zu uns sind?

Am Anfang des Romans heißt es dazu: „Diese Liebe ist einfach da. Eine Liebe, die durch alle Tümpel der Lächerlichkeit watet.“

Ich spüre diese Liebe dadurch, wie Timna auf Otto mit allen seinen Fehlern sieht. Sie ist empört, wütend, ergriffen, amüsiert, doch eins tut sie nie: sie begibt sich nie in eine überlegene Position, um Otto dann, von oben herab, zu richten. Timna ist nie in der der moralischen Pole Position.
Vielmehr muss ich gestehen, dass ich irgendwann angefangen habe, diesen Otto zu bewundern. Sicher, ein schlimmer Vater. Aber der Einfallsreichtum, mit dem er alle manipuliert – das hat schon was. Und dann diese beeindruckende Beharrlichkeit, mit der er im höchsten Alter weiterhin Auto fährt mit der Begründung, er habe einen Panzerführerschein von der rumänischen Armee. Und die Hybris, mit der er sich als großer Patriarch aufspielt, obwohl er nicht einmal eine Frau hat, sondern nur, wie es im Roman heißt, „Herr über ein Reihenhaus und zwei unglückliche Töchter ist.“
Otto lässt sich von nichts vereinnahmen, erst Recht nicht von der Realität. Und seine Töchter sind ihm in dieser Realitätsverweigerung gar nicht so unähnlich. Timna weiß ja, dass es nicht gut für sie ist, für Otto alles stehen und liegen zu lassen. Aber sie tut es trotzdem, sie folgt dem alten Familienprogramm mit derselben Beharrlichkeit, mit der Otto durch sein Leben gegangen ist.

Doch machtlos ausgeliefert ist sie dieser Dynamik nicht, denn sie kann davon erzählen!

Wenn Timna beschreibt, wie Otto sie und ihre Schwester am Telefon tyrannisiert, erzählt sie auch die Geschichte, wie er immer wieder aus Versehen den ADAC anruft, weil der im Telefonbuch seines Handys direkt über ihrer Schwester Babi steht. Und in der extrem belastenden Situation, als Otto zu Hause allein nicht mehr zurechtkommt, zelebriert sie geradezu den Moment, in dem sie verzweifelt Ottos alte Siebenbürger Freunde auf der Suche nach einer Pflegekraft um Hilfe bittet:

„Binnen zwei Stunden formierte sich ein Bataillon aus duftenden alten Herren mit pomadisierten welligen Haaren, das wie im Wahn Wählschreiben drehte und auf Faxgeräten herumdrückte, das in Telefonhörer sprach, altmodische Vornamen und endlos lange Telefonnummern aufschrieb und sich erst wieder zu einem Gläschen Bier niedersetzte, als es erfolgreich gewesen war.“

Von der, Timnas Kindheit schwer beschädigenden Alkoholkrankheit der Mutter erfahren wir quasi nebenbei. Timna beschreibt eigentlich den Geruch ihres Freundes Tann, der viel Parfüm benutzt, und mitten in dieser Beschreibung kommt auf einmal, IN KLAMMERN folgendes:

„(Das erinnerte mich ein bisschen an meine Mutter, die, wie fast alle Alkoholikerinnen, nach Shalimar, Spirituosen und Zigarettenrauch gerochen hatte.)“

Und wenn Timna von der größten Katastrophe erzählt, klingt das so:

„Dann kamen die Jahre nach 1941, in denen Gott nahm und die Juden wie Gänseblümchen von der Erdoberfläche pflückte. Fast alle unsere Verwandten kamen um, denn sie blieben in Ungarn zurück. (Die Grenze zwischen Rumänien und Ungarn war im Norden, heute gibt es dort kein Rumänien mehr, sondern Ukraine und Ruthenien und Weißderteufelwas, sagte mein Vater, Länder, von denen wir Schwestern nur dank des Eurovision Song Contest eine Vorstellung hatten.)“

Wer erzählt, hat die Wahl, kann sich von den Problemen seiner Figuren überwältigen lassen oder eben nicht. Timna tut das nicht. Sie holt sich durch die Wahl ihrer Worte die Souveränität zurück. Ihr Erzählen ist ein dauerhafter Akt der Selbstermächtigung. Dadurch entfaltet diese Prosa ihre enorme Kraft.

Und daher rührt auch der Humor dieses Buches. Es ist kein Humor der Pointenfrequenz. Kein parodistisches Zerrbild eines „alten Sacks“, sondern ein Humor, der sich einlässt auf die Beschädigungen dieser Welt und ihrer Menschen.

„Wir waren eine Familie von Negativisten, wie mein Vater sagt. Wenn ich in ein Flugzeug stieg, schaltete mein Vater viertelstündlich zum Videotext, um zu überprüfen, ob ich schon abgestürzt war. Kurze und kürzeste Verspätungen konnten wir uns nur damit erklären, dass jemand überfahren oder ausgeraubt worden war. Wenn wir einen Krankenwagen hörten, scharrten wir nervös mit den Füßen, denn sicherlich brannte gerade unser Wohnhaus; wenn der Sanka in die entgegengesetzte Richtung fuhr, dann hatte er sich eben verfahren; kein Grund ruhig zu bleiben.“

Und es ist ein Humor, der sich immer wieder mit Schwermut mischt, wie zum Beispiel bei der Beschreibung von Ottos ungarischer Pflegerin Valli:

„Valli trug in ihren Turnschuhen sehr bunte, weiche Socken aus reinem Polyester und hatte ein großes, merkwürdiges Gesicht: Augen, Augenbrauen und Mund waren ein wenig nach innen gerutscht und nahe an die Nase herangerückt, so blieb eine flächige hohe Stirn, die Valli das Aussehen einer mittelalterlichen Madonna verlieh, nur noch trauriger.“

Valli wird im Laufe ihres Aufenthalts bei Otto immer dicker. Darüber heißt es:

„Einerseits tat uns Vallis Übergewicht sehr leid, andererseits ging es uns hier wie mit den meisten Dingen des Lebens: Wir fanden die Entwicklung von Vallis Körper unendlich traurig und gleichzeitig sensationell komisch und beobachteten verzückt, wie sie sich kiloweise gebratene Geflügelschenkel in den Rachen stopfte, als sei sie ein Vogel, der sein Küken füttert, nur war sie gleichzeitig der Vogel und das Küken.“ 

„Unendlich traurig und gleichzeitig sensationell komisch.“ So ist „Otto“ von Dana von Suffrin. Ein Buch darüber, wie wenig die Vergangenheit vergangen ist, weil sie in unseren Familien weiterlebt. Oder, um ein letztes Mal aus dem Buch zu zitieren: „Wir bleiben Kinder von Kindern.“

Darin liegt eine immense Tragik. Idealerweise sollten wir Menschen nicht so sein. Doch dann kommt zum Glück das Komische und zeigt uns, wie wir als die Menschen leben können, die wir nun einmal sind. „Kinder von Kindern.“

Am Schluss des Buches ist Otto tot. Wir haben einen weiteren Zeitzeugen verloren aus der Zeit, die bis heute – ich hoffe, Sie finden das jetzt nicht anmaßend – der Elefant in unser aller Wohnzimmer ist, auf mehr oder weniger traumatisierende Weise. Einige Jahre noch, dann wird kein Zeitzeuge mehr da sein. Doch das Erzählen geht weiter, denn zum Glück gibt es die Literatur. Zum Glück gibt es solche Literatur wie „Otto“ von Dana von Suffrin.

Das wollen wir heute feiern. Liebe Dana, ich gratuliere Dir von ganzem Herzen zu diesem Buch und zum Ernst-Hoferichter-Preis 2020.

(Foto von Dana von Suffrin mit Kulturreferent Anton Biebl und Laudator Kristof Magnusson: Amrei-Marie)

Montag, 11. Dezember 2017

Heinz van Nouhuys: Barkunde (1996)

Als deutsche Trinkkultur sich noch auf Wein und Bier beschränkte, und Charles Schuhmann gerade mal begann, mit seiner American Bar die Kunst der Cocktails und Spirituosen in München und damit in Deutschland zu etablieren, saß im Schumann's an der Maximilianstraße nahezu unvermeidlich Heinz van Nouhuys (14.12.1929-20.12.2005), einer der ersten und – soweit ich mich erinnern kann – treuesten Stammgäste. Ein Niederländer, der es im deutschen Journalismus weit gebracht hatte und dem deutschen Journalismus entscheidende Impulse verschaffte. 
Er war Chefredakteur der „Quick“ gewesen. Brachte für den Bauer-Verlag den „Playboy“ sowie später in Eigenregie dessen feinsinnigeres, frecheres französisches Pendant: „lui“ nach Deutschland. Schließlich gründete Nouhuys die Intellektuellen-Postille „Transatlantik“, die nicht ewig währte, aber bis heute als heiliger Gral in der Kulturszene verehrt wird. Nach der Wende und Einstellung von „Transatlantik“ zog Nouhuys, übrigens auch ein ehemaliger Doppelagent, ins wiedervereinigte Berlin. 
Dort schrieb er für uns als Gastautor eine kleine Einführung in die Barkunde. Von Mixologen hat damals noch niemand etwas geahnt, und auch sonst durchweht den Text der glücklicherweise überstandene misogyne Hauch der Bar als Männerbund. Aber ich habe den kleinen Beitrag dennoch gern wieder gelesen, als er mir dieser Tage aus einer Ablage entgegenfiel. 
Der Text erschein im Juli 1996 in „Ticket“, dem Kultursupplement des Berliner „Tagesspiegel“.

Der dumme Spruch – Bars hießen so, weil man in ihnen besonders viel Bargeld loswird – stimmt so natürlich nicht. Die Bezeichnung kommt aus dem Amerikanischen und hat einen Ursprung, wie es seriöser nicht mehr geht: Bar heißt dort das Möbelstück, durch das sich das Gericht Distanz zum Verhandlungssaal verschafft. Ein Anwalt, der vor der Bar plädiert, heißt heute noch Barrister. Steht eine solche Bar in einer Berliner Kneipe, nennt sie der Einheimische Tresen.
Anders als in Berliner Gerichten stehen hinter jeder Bar, die sich hier so nennt, eine Menge Flaschen. Die Flaschen kauft der Wirt im Großhandel. Ihnen, dem Gast, schenkt er den Inhalt mit durchschnittlich 300 Prozent Gewinnmarge aus. Nimmt er 400 Prozent, ist das bei teuren Mieten und feudaler Ausstattung noch durchaus im Rahmen. Nimmt er nur 200 Prozent, sollten Sie nachschauen, ob die Gläser gespült sind.
Wenn bei der Inneneinrichtung richtig zugelangt wurde, nennt sich eine Bar gerne Club; bei rustikalen Holzmöbeln und einer Schwingtür Saloon. In einer Nightbar beträgt der Aufschlag auf billigen Sekt 1000 Prozent; in einem Nightclub gilt das gleiche für Champagner. In beiden Fällen gehört der Schlüssel, den Ihnen die Barfrau („Ich komme dann gleich nach“) gegeben hat, entweder zu einem Trummergrundstück oder einem Beamtensilo des Berliner Senats. Lokale, in denen Kuh-Sekrete am Tresen ausgeschenkt werden, nennen sich Milchbar. Wurde die Kuh ermordet und verbrennt man ihr Fleisch auf glühender Holzkohle, heißt das BAR-B-QUE.
Jede Bar ist so gut (oder schlecht) wie ihre Stammgäste. Kommen Sie als Neuer rein, kennen Sie die Stammgäste natürlich nicht. Woran erkennen Sie, ob es sich um eine gute Bar mit guten Gästen handelt? 1. Hinter der Bar steht (mindestens) ein Mann. 2. Er benutzt keinen Meßbecher, sondern schenkt freihändig ein. 3. Hinter ihm im Regal stehen mindestens zehn Whisky-Marken, darunter mindestens drei Pure Single Malts; beim Gin sind drei Marken Minimum, einer davon mit 42 Prozent Alkohol und darüber; beim Cognac drei Marken. 4. Nach spätestens zwei Kippen wird der Aschenbecher geleert. 5. Der Barkeeper fängt von sich aus kein Gespräch mit seinen Gästen an, und er verweigert Ihnen den letzten Drink, wenn Sie ihn nicht mehr vertragen. 6. Mit Sex läuft in einer guten Bar nichts. (Alte amerikanische Weisheit: Frauen lenken zu sehr vom Trinken ab.)
Da Berlin noch immer mehr Kneipen als Kräne hat, und wir hier keinen Platz für ein Branchenadreßbuch haben, nenne ich Ihnen nur eine kleine Auswahl empfehlenswerter Bars. Alle Bars großer Hotels; am fröhlichsten Harry's New-York Bar im Esplanade; am distinguiertesten die Bar im Savoy, wo bereits das sorglose Umblättern der „FAZ“ als Ruhestörung empfunden wird.
Die Bar am Lützowplatz, mit 31 Metern die längste Theke der Stadt. Dort, wie im Esplanade um die Ecke, Sommerdrinks satt. Als Promitreff das Botticelli, Dahlmanstraße, wohin tout Berlin von der Hundekehle und dem Landhaus Bott nachgezogen ist. Die Galerie Bremer, Fasanenstraße, wo Sie tagsüber Gemälde kaufen und nachts mit den Malern und deren „Kunden“ trinken können – seit über 40 Jahren bedient und unterhalten vom schwarzen Charmebolzen Rudi, der bald hundert wird. Ein Stück weiter oben in der Straße die Bar 47 des Junggastronomen Frankie, der mit hundert Spitzenspirituosen und weiteren hundert Jazz-CDs vom Feinsten schnell den Anschluß an die großen Berliner Traditionsbars geknüpft hat.
Am Schrulligsten das kleine Wiener Stüber'l in der Uhlandstraße, ein Theater- und Medientreff, wo der Wirt jeden Neuen anraunzt: „Erzähl' mir bloß koane G'schichten, i kenn sie alle.“
Zum Schluß eine Bar, die alles hat, was man von einer optimalen Bar erwartet: bestes Publikum, erlesene Getränke, höfliche Bedienung, anregendes Ambiente, durchaus angemessene Preise. Ihr Name: Paris Bar. Aber das ist leider keine Bar, sondern nur ein Restaurant.

Mittwoch, 16. Januar 2013

Agora (6): Sigi Zimmerschieds Laudatio auf Luise Kinseher beim Ernst-Hoferichter-Preis

Gestern abend wurden Luise Kinseher und Gerd Holzheimer im Literaturhaus mit dem Ernst-Hoferichter-Preis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. Die Laudatio auf Luise Kinseher hielt Sigi Zimmerschied:

Liebe Luise,
meine mehr oder weniger anwesenden Damen und Herren.
Was Laudatios so schwierig macht, ist die Tatsache, daß Preise einen Künstler immer im falschen Moment treffen.
Es wird ja eigentlich nie ein Künstler ausgezeichnet, sondern die Jury gratuliert sich in der Regel dazu, einen gefunden zu haben.
Und das gilt für alle.
Ich persönlich habe für meine besten Arbeiten nie einen Preis bekommen.
Sondern immer dann, wenn ein Juror gesagt hat:
Du, do gibt’s doch noch den...den mid der Nosn...wia hoaßt der denn... Und scho hob i´n ghobt.
Manchen Kollegen hat der Preis so früh getroffen, daß er zu der irrigen Überzeugung gelangt ist, er hätte bereits etwas geschaffen, und diese Position standhaft nie wieder verlassen hat.
Im schlimmsten Falle trifft er einen so spät, daß man sich gar nicht mehr erinnern kann, wofür man ihn bekommt.

Luise Kinseher hat dieser Preis in einer Phase erwischt, in der sie unübersehbar ist. Unübersehbar.
Als Künstlerin natürlich in erster Linie, als Kabarettistin, die mit einer Leichtigkeit und Souveränität ihr multiples Figurenensemble über die Bühne wirbelt, daß einem schwindlig wird.
Die jedem ihrer Geschöpfe ein Gesicht, eine Haltung, eine Sprache und eine so tragikomische, komplexe Seele gibt, daß sich der himmlische Schöpfer wahrscheinlich schon öfter angesichts der Kretins, mit denen er die Welt bevölkert hat, an der Stirn gekratzt haben dürfte und zu sich gesagt hat:
„Worum bring iatzt i sowos ned zam ?“

Unübersehbar.
Als Volksschauspielerin, die, wenn sie das will, jederzeit in die Fußstapfen der ganz Großen dieses Genres treten kann, die diese seltene Mischung hat aus gewinnender Natürlichkeit, tiefer Figurenliebe, waffenscheinpflichtiger Sinnlichkeit und gestaltendem Intellekt.
Einiges, was sich zur Zeit Quotenkönigin nennt, hat von den genannten Qualitäten allenfalls die Kommatas.
Unübersehbar.
Als Nockherbergkönigin, die Landtagskonfirmanden abwatscht, als hätte sie die beim Nasenbohren überrascht.
Mit dem verhängnisvollen Sprachduftwolkencharme eines anheimelnden Desingnerseifenstücks, mit dem die Machtpomeranzen glauben, sich die Hände waschen zu können und auf dem sie ausrutschen wie die Bummerl unter der Gemeinschaftsdusche im Nonneninternat.
Unübersehbar.
Multimedial.
Titelblätterfüllend.
Und zwar in ihrer Funktion als Kabarettistin mit einem Gastauftritt auf dem Nockherberg.
Normalerweise muß man da den Paulanerchef heiraten, damit man das schafft. Titelblatt.
Als Kabarettist und Frau.
Eigentlich unmöglich.
Für so etwas sind allenfalls die Gnadeneinspalter in den Münchner Feuilletons reserviert, und da muß man noch hoffen, daß sich Dieter Dorn nicht gerade einen Finger verstaucht, sonst sind diese 18 Zeilen auch noch weg.
Unübersehbar.
Selbst für eine Jury.
Das wollte sich der Preis nicht entgehen lassen.
Da hat wahrscheinlich der Preis zur Jury gesagt:
Machts ihr wos woits, i geh zur Luise.
Weil do sans olle.
Do is wos los.
Und do is sche.

Ist doch auch schön.
Wo ist das Problem mit der Laudatio?
Es liegt genau darin.
In einer Zeit, in der Kabarett verkommen ist zur medialen Ramschware, in dem theaterungebildete und sinnlichkeitsarme Quotenangsthasen definieren, was dieses Genre ausmacht, bedeutet jede Popularität auch eine Gefahr.
Weil all der Glanz und all die Aufregung es so schwer machen, das Wesentliche an einem Künstler zu entdecken.
Weil eine Frage immer schwerer zu beantworten ist, eine Frage, die für mich, solange ich selbst noch Juror war, immer die entscheidende war.
Muß der da oben das machen?
Oder?!
Macht er das das nur?

Die Medienverführung ist groß.
Selbst ich, der ich die jungen Kollegen oft als Kabarettmoralist und „talibanesque Spaßbremse“ vor den Medien gewarnt habe, finde mich in letzter Zeit manchmal in Produktionen wieder, bei denen ich mir sage:
„Des derfad iatzt de Luise ned wissen!!“

Aber andererseits.
Wer sucht, der irrt.
Und wer in der Medienwelt hofft, schon zweimal.
Entscheidend ist.
Sucht er weiter.
In sich.
Nach den Wurzeln.

Von ihrer Kindheit weiß ich nicht viel.
Aber wer eine Jugendzeit in Straubing so ungebrochen überlebt, der hat zumindest Kraft.
Kennengelernt habe ich sie im Fraunhofer.

Sehnsucht, Glück, Angst und Hoffnung.
Das sei der Kontext ihrer Figuren.
Und somit auch ihrer.
Denn in jeder wahrhaftig gespielten Figur steckt der Darsteller selbst.
So steht es in der Jurybegründung.
Das stimmt.
Wie sie vor nun ,mittlerweile“ über zwanzig Jahren als Bedienung im Fraunhofer einem ein Bier hingestellt hat, da schwang schon viel Sehnsucht mit.
Beobachtungslust.
Das Bier war eigentlich nur eine Tarnung.
Hinter dieser Schaumkrone stand bereits eine komplette Kinseher, eine Person, die einem mit einer unverschämten Freundlichkeit ins Visier nahm.
Ein Blick, der eine Mischung war aus Einladung zum Fensterln, angewandtem Geschlechterkampf und Begleitungsangebot auf dem Weg zu Schafott.
„I bring da scho no oane, a zwoa, wennstas vertrogts.”
Und sie brachte die zwei, auch die drei Biere in der Hoffnung, daß ihr da jemand gegenübersaß, der ihrem Spieltrieb gewachsen war.
Und es war ein Blick, in dem damals bereits, neben all den von der Jury erwähnten Eigenschaften noch etwas geschrieben stand.
Etwas noch viel Wesentlicheres.
Nämlich die Sucht.
Nach skurrilen Menschen.
Nach lustvollen Momenten.
Nach Lachen.
Und nach Gestalten.
Und sie stand da, nachdem die Fixierungsphase abgeschlossen war, mit diesem unwiderstehlichen, unausgesprochenen „Und, wia findst mi?!“
Er war also auch schon damals da.
Der unbedingte Begleiter jeder Bühnenexistenz.
Der Exihibitionismus.
Mitsamt seiner unangenehmen Begleitung.
Der Angst, nicht geliebt zu werden.

Dann schrieb sie ihre ersten beiden Programme.
Die mehr waren als Gehversuche in viel zu großen Schuhen, wie es uns eines ihrer ersten Plakate zeigte.
Dort konnte man eine Luise Kinseher erleben, die mit der Form kämpfte.
Ich lernte damals den Theatermenschen Luise kennen und schätzen.
Sie hat es sich und ihrem Publikum nicht immer leicht gemacht.
Sie hat auf verschiedenen Ebenen erzählt,
Walter Sedlmayr auf Rainer Werner Fassbinder sich treffen lassen.
Sie hat die Hölle geöffnet und die Ratlosigkeit.
Da hätte sie bereits den Preis verdient.
Als sie noch nicht unübersehbar und so unendlich vieles zu entdecken war.
Ich jedenfalls empfand es als Geschenk wieder jemanden in unserer Kabarettfamilie zu haben, mit dem man anstelle über Quoten, Besucherzahlen und Familienplanung wieder über Struktur, Form und Inhalte reden konnte.

Es ist nämlich nicht so, daß unser Kabarettgenre überreich gesegnet ist mit Kollegen, die über den halben Meter zur nächsten Pointe hinausdenken.
Luise Kinseher ist in der Lage kilometerweit zu denken.
So weit, daß ihr am Ende wohl oft selbst die Füße weh taten, wenn sie ihr Ziel wieder einmal erreicht hatte.
Das ist anstrengend.
Und dann hat man das Recht sich auch einmal eine Verschnaufpause zu geben.
Den Akku wieder aufladen.
Das Korsett mit der Manege vertauschen, die Figuren laufen lassen und das Publikum in den Arm nehmen.
Dem Affen Zucker und sich selbst ein Schuhbeck Gewürzemenue zu genehmigen.

Und nun bewegt sie sich in der Manege der großen Öffentlichkeit.
Sitzt Moderatoren gegenüber, die ihr nicht das Wasser reichen können.
Bleibt souverän.
Insistiert auf Inhalte.
Verleiht sogar dem Banalen Charme und Glanz und entlarvt es dadurch.
Auch das ist Kunst.

Also?!
Muß die Luise Kinseher das machen?
Oder macht sie es bloß?
Ist da was, was diesen Menschen antreibt, nicht losläßt bis an sein Lebensende.
Etwas Unverwechselbares.
Etwas Unauslöschbares.
Ein Defekt.
Diese Inkompatibilität mit dem Gewöhnlichen.


Meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich kann sie und vor allem mich in dieser Frage beruhigen.
Luise Kinseher ist nicht richtig im Kopf.
Luise Kinseher hat diesen Defekt.
Und der wird sie weitertreiben.
Diese originäre Kraft wird uns noch vieles schenken, da bin ich mir sicher.
Wenn sich die formale Gestaltungsenergie ihrer ersten Phase wiedertrifft mit der Spielfulminanz der zweiten und der Öffentlichkeitssouveränität der dritten...dann Gnade uns Gott.
Was heißt Gnade.
Stolz wird er sein, der Herrgott.
Er wird, wenn er dann frustriert auf die restliche, mittlerweile völlig verblödete Schar von Fernsehhumoristen schaut, mit der ihm eigenen Schöpfereitelkeit nur sagen.
Schau her, de Luise.
Manchmoi bring i doch no wos zam.

Und deshalb.
Weil da eigentlich jemand trotz aller Unübersehbarkeit erst aufbricht, noch lange nicht am Ende ist, weil das Fragen und Fühlen, das Leben und das Gestaltenwollen in diesem Prachtweib nie enden wird und weil jede Ermutigung dazu uns immer wieder gut tut.
Deshalb hat es jetzt doch einen Sinn gemacht, eine Laudatio zu halten.

Liebe Luise, ich gratuliere dir....zu dir.

Vielen Dank.

(Foto: @DoSchu)

Dienstag, 19. Juni 2012

Agora (5): Radio-Nachrichten auf dem Prüfstand von Christoph Ebner

Im Rahmen der 9. Tutzinger Radiotage hat gestern Christoph Ebner, Redaktionsleiter des multimedialen Newsrooms beim Südwestrundfunk in Baden-Baden, sich über das Geschwurbel deutscher Hörfunknachrichten ausgelassen.

Hamburg. Die internationalen Mineralölkonzerne haben erneut an der Preisschraube gedreht. Preisfrage: Haben Sie eine Preisschraube an Ihrem Wagen? Ich bin Opel-Fahrer und daher Mitleid gewöhnt. Aber nicht mal Opel bietet Preisschrauben als Zubehör an.
Preisschrauben gibt es nur in der geschraubten Sprache schlecht formulierter Nachrichten. Die Nachricht heißt also besser: Sprit ist teurer geworden. Und die Spitzmarke Hamburg hilft uns auch nicht weiter.
Denn: Hand aufs Herz – wann haben Sie zuletzt in Hamburg getankt? – Hamburg als Spitzmarke? Eher Humbug.

Die Welt ist kompliziert. Keine Frage. Und mit Sätzen, mit Meldungen, mit Sendungen, die sich unwahrscheinlich kompetent-kompliziert anhören, machen wir sie noch schwieriger. Wer hingegen einfach formuliert, muss Mut haben und Mut zeigen. Denn er läuft Gefahr, dass ihm vorgeworfen wird, primitiv zu formulieren – vor allem von den eigenen Kolleginnen und Kollegen.
Und: Wir wollen Informationen richtig wiedergeben. Das macht es noch schwieriger, einfach zu formulieren.
Wer sich diesen Gefahren nicht aussetzen will, nimmt einfach einige Begriffe, die jeden Tag durchs Land geistern: Der Fiskalpakt, der Vertrag von Maastricht, die Schuldenbremse, der Vermittlungsausschuss, die Kommunalverfassung, die Fünf-Prozent-Hürde, das Quorum – beliebig ergänzbar.
Oder er lässt in einer Meldung Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut mit Dirk Meyer von der Helmut-Schmidt-Universität darüber streiten wie sinnig oder unsinnig Eurobonds sind. Dann weiß der Hörer eines: Dass er nichts weiß.

Dem Hörer kommen die Tränen. Nicht weil er am Radio verzweifelt. Weil er Zwiebel schneidet! Das ist eine keineswegs unübliche Beschäftigung beim Radiohören. Denn die Radiogemeinde versammelt sich nicht nach der Lektüre mehrere Tageszeitung zur weiteren Informationsaufnahme an den Geräten. Sie schneidet Zwiebeln, kocht Spaghetti, schaltet vom vierten in den fünften Gang, portioniert Tabletten für Herz-Patienten oder versucht mühevoll, die Zahn-Zwischenräume zu reinigen. Und in der Kulturmeldung höre ich zur selben Zeit, wie ein Herr Friedmann nach “hellbraunen Assoziationen” im neuen Werk von Thilo Sarrazin sucht. Und ich höre, wie die fünf Tore im Sonntagsspiel der Fußball-Bundesliga fallen. Eigentlich in 90 Minuten. In den Nachrichten aber in einem Satz. Jeweils ausgestattet mit Name, Vorname und geographischer Herkunft der glücklichen Torschützen.
In der Regionalmeldung höre ich, dass der Glan Hochwasser führt. Bisher wusste ich nicht,dass der Glan überhaupt Wasser führt, geschweige denn wohin.

Deshalb: Weniger voraussetzen, Meldung nicht mit Inhalten überfrachten, mehr erklären. Das geht nur sprachlich.

Ich werde gefragt: „Machen Sie nur Nachrichten?“ Antwort: „Wenn Sie ‘nur’ im Sinne von ‘ausschließlich’ verstehen? Ja.“ Radionachrichten, die ins Ohr gehen, machen Mühe. Denn sie setzen sich komplett von dem ab, was uns als Ausgangsmaterial vorliegt. Sprachlich nicht inhaltlich.

Montag, 24. Oktober 2011

Agora (4): „Revolutionsplattform Facebook? Wie das Internet politische Umbrüche beeinflusst“ von Thomas Krüger

Natürlich ist es immer ein äußerst subjektiver Eindruck, aber wenn ich auf die Münchner Medientage 2011 zurückblicke, bleiben die politischen Panels am positivsten in Erinnerung. Denn die Consultants und Berater übten sich meist nur in Kremlastrologie bei dem Bemühen, über Trends und Verbraucherverhalten den nächsten Dekaden zu spekulieren. Und der Schwanzvergleich der Techniker und Praktiker endete meist in einem geheimniskrämerischen „Meine Entwicklung ist besser als Deine, aber so geheim, daß ich nicht näher darauf eingehen kann.“
Wie erfrischend dagegen meine drei Favoriten heuer, die Gesprächsrunden zu „Die arabische Welt in den Medien“, „Polit-Talks: Zwischen Information und Inszenierung“ und der – den dreitägigen Kongress abschließende – „Content-Gipfel - Meinungsbildung heute: Wer setzt die Themen auf die politische Agenda?“ Natürlich saßen auch in diesen Veranstaltungen nicht nur Sympathen auf den Podien, Heiner Geißler etwa entpuppte sich als altersstarrer Journalistenhasser, aber es waren aufschlußreiche Zirkel, in denen aus dem Nähkästchen geplaudert wurde und hervorragende Moderatoren gute Arbeit leisteten.
(Wie gesagt, ein subjektiver Eindruck. Harald Staun sah das etwa in Sachen „Polit-Talk“ ganz anders und lästerte gestern in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ kurz und heftig darüber ab.)
Mein abolutes Highlight war Thomas Krügers Keynote zum Content-Gipfel. Die Manuskriptfassung der Rede des Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung dokumentiere ich hier vollständig. Es existiert aber auch eine Videoaufzeichnung des Content-Gipfels – schließlich „gilt das gesprochene Wort“. Dorin Popa

Teil I: Digitale Revolution?

Wir haben in den letzten Monaten viel von „Facebook-Protesten“, „Twitter-Bewegungen“, „Handy-Revolutionen“ oder „Blackberry-Aufständen“ gelesen. Den digitalen Graswurzelmedien wird bei den Protestbewegungen in Teheran, Kairo, Stuttgart, London, New York oder neuerdings Frankfurt eine zentrale Rolle zugeschrieben. Zwei Grundannahmen, die gerne auch für den digitalen Wandel in anderen Teilen der Gesellschaft genutzt werden, sind dabei sehr beliebt: Entweder wird impliziert, dass da etwas ganz Neues gekommen sei und alles Alte ersetze, so nach dem Motto: „Im Zeitalter von Facebook und YouTube braucht es Zeitungen und Fernsehen gar nicht mehr.“ Oder es wird davon ausgegangen, dass das Alte durch etwas Neues ergänzt werde, quasi als „Add-On“, als Anbau an das Bestehende. Beide Grundannahmen sind falsch: Im digitalen Wandel wird das Bestehende nicht ersetzt oder ergänzt. Das Neue verändert das Bestehende. Wir kennen das aus der Mediengeschichte bereits. Schauen Sie sich die Entwicklung von Kinofilm und Fernsehen an. Aber das macht eben den digitalen Wandel viel gewichtiger und komplexer, als es manche Diskussionen vermuten lassen.
Schauen wir uns einmal um: Die Akteure des Wandels in Ägypten sprechen nicht von einer Facebook-Revolution. Der Kairoer Blogger Basem Fathy meint, „es war mehr eine Revolution der Füße als der Sozialen Netzwerke.“ Natürlich verändert die Nutzung von Social Media die Kommunikation, die Organisation, die Struktur, vor allem auch die Geschwindigkeit und die Öffentlichkeit von Protesten. Aber der Einsatz von Facebook & Co für soziale Bewegungen ist heute nicht mehr der Sonder-, sondern der Normalfall. Spätestens seit sich auch die Tea Party in den USA mithilfe des Internets organisiert hat, dürfte auch den letzten strukturkonservativen Netzmuffeln klar geworden sein, dass die Social Media im Mainstream angekommen sind. Dadurch werden aber die bisher wichtigen Elemente von Protest oder Revolution weder ersetzt noch überflüssig. Weiterhin bedarf es der Präsenz auf der Straße. Verabredungen wurden im Iran, in London, Kairo und Stuttgart online getroffen und die digitale Vernetzung wirkte bisweilen wie ein Brandbeschleuniger. Aber ihre Kraft entfalteten die Proteste auf den Dächern von Teheran, auf den Straßen von Tottenham, auf dem Tahrir-Platz in Kairo und eben im Schlossgarten.
Außer der Straße braucht Protest auch immer noch Öffentlichkeit durch die Massenmedien. Im Arabischen Frühling reichten die Handy-Videos auf YouTube allein nicht aus, um eine so große Wirkung zu erzielen. Entscheidend war vielmehr, dass Al-Jazeera oder Al-Arabia die YouTube-Videos über das Satelliten-TV zu den Offlinern und in den Rest der Welt gebracht haben. Wenn wir uns Al-Jazeeras Arbeit, die Symbiose zwischen Publikum und Sender anschauen, sehen wir, dass der digitale Wandel die Arbeit des Fernsehens weder ersetzt noch einfach ergänzt, sondern grundlegend verändert.
Unser Blick von außen (also vor allem der der Medien) reicht meist nur bis zu der Frage nach der Rolle von Social Media für einen Umsturz. Spannend ist aber erst recht, was nach dem Beginn der Umbrüche passiert. In den Tagen und Wochen nach der Revolution in Ägypten haben sich sehr schnell auch Ministerien und Politiker bis hin zum Militärrat Facebook-Accounts angelegt, so dass dort für Ägypten ganz neue Formen der Diskussion zwischen Bürger und Staat stattfinden. Eine Statusmeldung des ägyptischen Militärrats kann auf Facebook schon mal zu mehr als 100.000 Kommentaren führen. Das alles ändert aber nichts daran, dass gleichzeitig Blogger wie Maikel Nabil Sanad für ihre Kritik an der Militärführung in den Knast gesteckt werden.
Auch andernorts hat der Arabische Frühling vielversprechende Projekte hervorgebracht, etwa in Marokko, wo z.B. auf der Crowdsourcing-Website www.reforme.ma Änderungsvorschläge zur Verfassungsreform zusammen getragen wurden.
Von Revolutionen und Verfassungsreformen sind wir in Deutschland 22 Jahre nach dem Mauerfall wieder weit entfernt. Wir verfügen über etablierte Institutionen und Prozesse, was wir als Hinweise für eine stabile Demokratie deuten dürfen. Andererseits sind die Zeichen der Unzufriedenheit und der Unzulänglichkeit des politischen Prozederes nicht zu übersehen und mit Händen zu greifen. Transparenz, Partizipation, Internet – mit diesem Dreiklang gelang einer bis vor kurzem noch belächelten Partei gerade der größte Wahlerfolg, den Deutschland in den letzten Jahren gesehen hat.
Partizipation mithilfe des Internets erfolgt in Deutschland, wenn überhaupt, noch nach alten Mustern: Der Staat ruft, die Bürgerinnen und Bürger dürfen mitmachen. Meist handelt es sich bei solchen Beteiligungsformen nur um die „Digitalisierung“ von bewährten Partizipationsformaten wie Bürgerhaushalt oder Konsultationsverfahren. Bei diesen Formen der Partizipation 1.0 gibt es analog zum Web 1.0 ein klares Oben und Unten, eine Trennung in Initiator und Teilnehmer. Auch hier finden wir wieder das einleitend angesprochene Muster: Der digitale Wandel wird als Add-On an bestehende Institutionen und Prozesse angedockt, ergänzt und optimiert ein bisschen, aber verändert nicht grundlegend.
Da ist die Zivilgesellschaft schon weiter. Ihre Akteure verstehen sich auf Partizipation 2.0, also Beteiligung, die nicht von oben initiiert wird, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern ausgeht und auf den Staat oder direkt in die Gesellschaft zielt. Die Parallelen zum Web 2.0 bedeuten: Jeder ist gleichzeitig Konsument und Produzent, jeder kann auch senden, initiieren, sich engagieren, einmischen und Gehör verschaffen, ohne dass er darauf wartet, gefragt zu werden. Aus der repräsentativen Demokratie wird eine Mitmachdemokratie, eine diskursive Demokratie, die Repräsentanten nicht ersetzt, sondern verändert.
Mit neuen Formen der demokratischen Entscheidungsfindung, die unter dem Begriff Partizipation 3.0 zirkulieren, experimentiert zum Beispiel die Piratenpartei. Mit Liquid Feedback, Delegated Voting und Liquid Democracy werden – nicht ohne heftige innere Kontroverse – Formen zwischen direkter und repräsentativer Demokratie erprobt: Parteimitglieder können über eine speziell entwickelte Liquid Feedback-Software eigene Anträge einbringen, zur Diskussionen stellen und bei ausreichender Unterstützung zur Abstimmung bringen. Zu dem Konzept gehört aber nicht nur die Möglichkeit, sich direkt einzubringen, sondern vor allem auch, seine Stimme zu delegieren, wenn man jemand anderes in einer Frage für kompetenter hält. Damit fließen – daher „liquid“ – direkte und repräsentative Demokratie ineinander. Der periodische Wahlakt auf der Basis umfangreicher Gesamtprogramme wird hier zugunsten eines ständigen, öffentlichen Diskurses mit themenspezifischen Abstimmungen überwunden. Schließlich soll sich in einer Liquid Democracy jeder flexibel an Entscheidungen beteiligen können und Mehrheiten organisieren.
Das ist nun im Prinzip nichts Neues, sondern die digitalisierte Version der alten basisdemokratischen Idee – eine diskursive Aushandlung von Positionen im (so weit wie möglich) herrschaftsfreien Raum. Das Volk gibt sich dabei seine Regeln unmittelbar selbst. Dieses Rousseau'sche Demokratieverständnis haben zuletzt die Grünen in den 80er Jahren für die politische Praxis wiederbelebt. Was dieses Mal aber – nicht nur bei den Piraten, sondern generell – den entscheidenden Unterschied für den Erfolg ausmachen könnte, ist, dass die technischen Möglichkeiten potenziell den Zugang und die Reichweite dieses Aushandlungsprozesses vereinfachen. Bisher konnten Skeptiker gewichtige praktisch-logistische Gegenargumente ins Feld führen – heute geht es vor allem um die Frage, ob wir das alles wirklich wollen oder nicht.
Das Netz bietet zweifellos nicht nur für die politische, sondern auch für die kulturelle Teilhabe großartige Möglichkeiten jenseits der etablierten Formen und Institutionen. Allerdings scheint mir dieses „jenseits“ oder „abseits“ bisweilen eher zwangsläufig als selbstgewählt. Öffentlicher Raum, der für unser Verständnis von Kultur konstitutiv ist, bedeutet im Internet 2011 meistens die von Apple, Google, Facebook oder Twitter kontrollierte Öffentlichkeit. Hier gewinnen Quasi-Monopole die Oberhand mit einem Geschäftsmodell, das darauf setzt, sich möglichst umfangreich die Daten von möglichst vielen Nutzern und deren Kontakten einzuverleiben und diese mit möglichst wenig Transparenz und Beeinflussbarkeit zu verarbeiten und möglichst teuer weiterzugeben. Wir füttern also den global agierenden, den globalen Gesetzen der Märkte folgenden und auf den Bermuda- und Fidschiinseln steuerzahlungsverweigernden Datenfresser. Anstatt uns um die Rückgewinnung unserer digitalen Mündigkeit zu kümmern, verlieren wir uns in Deutschland in Gefechten zwischen privaten Medienunternehmen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wobei es nicht um demokratische Öffentlichkeit, sondern in erster Linie um Profite und Quoten geht.
Zurück zu den Möglichkeiten, die der digitale Wandel für unsere Kultur bedeuten könnte: Mir scheint, dass die Akteure der öffentlich-rechtlichen Institutionen sich hierzulande in bewahrpädagogischer Duldungsstarre üben. Hier und da ein wenig digitales Add-On ist zwar inzwischen schick und angesagt, die anstehende Neujustierung des Bildungs- und kulturpolitischen Raums bleibt jedoch aus. Dabei steht die Öffnung der öffentlichen (der Name sagt es doch schon!) Institutionen gleich in dreifacher Hinsicht an: Sie müssen sich 1. für die digitalen Medienwelten, 2. für ihre Nutzer und 3. für eine gesellschaftliche Debatte über den öffentlichen Raum im 21. Jahrhundert öffnen. Wie lautet im digitalen Raum eigentlich die Begründung dafür, dass öffentliche Archive und Depots noch verschlossen bleiben? Warum stehen öffentlich finanzierte Inhalte nicht frei zugänglich im Netz? Mehr noch: Wie kann man gar auf den grotesken Gedanken kommen, dass öffentlich finanzierte Inhalte sogar wieder de-publiziert, der Allgemeinheit, die sie bezahlt hat, wieder genommen werden müssen? Und wenn Apple eine schöne neue Welt der cloud (Datenwolke) baut, und Google und wer sonst auch immer – wo ist eigentlich die deutsche, europäische oder weltweite nicht kommerzielle, freie Datenwolke der Bildung und Kultur? Wer baut daran? Und wer warum nicht?
Der digitale Wandel bietet die Chance, wenn nicht sogar die Notwendigkeit für eine Renaissance der öffentlichen Kultur, die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk beginnt und bei Forschungsdaten, Museen, Musik und Literatur noch nicht endet. Es geht um die Sicherung von Gemeingütern und nicht um ihre Verramschung. Erste Versuche wie die Europeana und die Deutsche Digitale Bibliothek sind lobenswert, aber marginal. Der Etat für den Aufbau der Deutschen Digitalen Bibliothek, in der die Inhalte von 30.000 deutschen Bibliotheken, Museen und Archiven vernetzt und zugänglich gemacht werden sollen, beträgt pro Jahr 2,6 Millionen Euro. Übrigens: Dieser Etat entspricht den Werbeeinnahmen, die Google in einer Stunde umsetzt, oder einem Viertel des Budgets, welches die ARD dem Vernehmen nach pro Jahr für Günter Jauchs Talkshow ausgibt.

Teil II: Die gesellschaftlichen Akteure im digitalen Wandel

Werfen Sie mit mir einen Blick auf die gesellschaftlichen Akteure, die an der Debatte über den digitalen Wandel beteiligt sind.
Der digitale Wandel hat inzwischen die allermeisten gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Die Geschäfte von Musikindustrie und Buchhandel, die Arbeit der Journalistin und des Politikers, die Anbahnung von Partnerschaften und sogar unser Verständnis des Wortes „Freund“. Aber eine für unsere Gesellschaft ganz entscheidende Sphäre beginnt gerade erst, den digitalen Wandel zu erfassen bzw. von ihm erfasst zu werden: der Bildungsbereich. Erlauben Sie mir darum bitte einen kurzen Exkurs in eigener Sache:

Die politische Bildung ist vom digitalen Wandel gleich in dreifacher Hinsicht betroffen:

1. Auch wir suchen Wege, der sich verändernden Kultur der Mediennutzung zu begegnen.

Wie sehen unsere Publikationen und unsere Veranstaltungen in Zukunft aus? Werden wir vom Produktherausgeber zum Serviceanbieter? Steht statt reinen Informationsangeboten künftig mehr Interaktion im Mittelpunkt? Wie gestalten wir das Verhältnis zu unseren Zielgruppen, wenn sie nicht mehr nur Kunden, sondern Mitwirkende sein können? Hinter all dem erproben wir uns an der Frage: „Wie wollen wir die Kommunikationsräume unserer Gesellschaft gestalten?“
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb ist auf Facebook und Twitter aktiv. Nicht, weil wir Facebook für ein besonders unterstützenswertes Unternehmen halten. Aber die politische Bildung beansprucht für sich, zu den Menschen zu kommen, sich mitten im Leben abzuspielen. Und das Leben findet nun mal für deutlich mehr Menschen auf Facebook statt, als in Tagungshäusern und Seminarräumen, im Rathaus oder auch im politischen Feuilleton. Neben der Nutzung der derzeit vorherrschenden Netzwerke kommt es darauf an, dass wir unsere eigenen solitären Angebote zu attraktiven Plattformen für Debatten, Beteiligungen und sozialen Aktivitäten ausbauen. Wir können dabei mit offenen Standards, mit klarem Daten- und Persönlichkeitsschutz, mit Transparenz und demokratischer Kontrolle wirkliche soziale Medien schaffen.

2. Die Befähigung zur Partizipation ist zentrale Aufgabe unserer Arbeit.

Sie alle kennen Brechts Radiotheorie, die sich heute, 80 Jahre nach ihrer Niederschrift, liest wie eine Beschreibung des Internets. Brechts Forderung „Hörer sollen zum Mitspieler werden“ könnte sich auch die politische Bildung zu eigen machen: Bürger sollen mitreden und mitmachen! Gleichzeitig sind mit dem Internet die Möglichkeiten größer als je zuvor. „Medienkompetenz“ heißt für die politische Bildung: mittels Medien die Gesellschaft verstehen und selber gestalten können.

3. Die Debatte über den Wandel braucht öffentliche Räume jenseits der Massenmedien.

Der digital getriebene Wandel greift in alle Bereiche des beruflichen, des privaten und des öffentlichen Lebens ein. Eine aufgeklärte und demokratische Gesellschaft darf nicht von der Technik getrieben werden. Sie darf sich auch nicht in dem Versuch aufreiben, alle neuen Entwicklungen mit tradierten Regeln und Verfahrensweisen fassen zu wollen. Das betrifft das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Staat und Individuum, zwischen Beteiligung und Ausschluss, um nur einige Stichworte zu nennen. Gesellschaftliche Veränderungen brauchen gesellschaftliche Debatten. Wer, wenn nicht die politische Bildung, sollte Plattformen für Debatten bieten, an der nicht nur die Meinungsführer, sondern der Souverän, also die Bürgerinnen und Bürger selber teilnehmen?
Werfen wir jetzt aber einen Blick auf eine für unsere Demokratie existentielle Frage: Wo konstituiert sich eigentlich „öffentliche Meinung“? Die agora der polis spielt dabei wohl nur noch eine untergeordnete Rolle. Agenda-Setting erfolgt von oben und zwar durch ein schmales und miteinander verwobenes Geflecht der Elite. Ein Thema, das wir später im Panel noch diskutieren werden. Selbstmedialisierung ist in diesem Zusammenhang zur zentralen Strategie politischen Handelns geworden. Journalisten, Politiker, Lobbyisten, Wissenschaftler … – wir alle sind Profis darin, die Diskursthemen für die übrigen 99 Prozent der Bevölkerung vorzugeben.
2011 haben die meisten Journalisten das Internet verstanden. Auf ihre Produkte hat das aber meist nur Konsequenzen in dem Sinne, dass der bisherige Modus optimiert und erweitert wird. Die klassischen Medien präsentieren stolz den Hausblogger auf der eigenen Website, den „Tweet des Tages“ in der Zeitung und die „Netzschau“ im Fernsehen. Aber sobald irgendwas im Internet nicht zum bisherigen Geschäftsmodell passt, wird es bejammert, verbannt, verschwiegen oder gleich einmal verklagt. Von Öffnung und Transparenz sehe ich bisher allenfalls einzelne Vorzeigeprojekte – und die nicht in Deutschland.
Ganz anders versteht sich die Netzwelt. Auf Blogs, Twitter und Google+ ist man überzeugt, Avantgarde für die gesamte Gesellschaft zu sein. Dort betitelt man alles Gedruckte gerne als „die Holzmedien“. Fernsehen und Presse sind von gestern. Die gegenseitige Abgrenzung ist sehr beliebt und scheint der Identitätsbildung derjenigen förderlich, die offen, bunt und transparent, aber keine „Community“ sein wollen. Wenn man sich aber anschaut, welche Themen bei Twitter am liebsten diskutiert und verlinkt werden, so sind das merkwürdigerweise die Werke traditioneller Medienmacher: Fernsehen von Talkshow bis Tatort und Texte von Heise, Spiegel oder dem Zentralorgan der deutschen Nerds, der FAZ.
Dennoch gibt es erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Bloggern und Journalisten. Anerkennung wird am wechselseitigen Bezug aufeinander gemessen. Was dem Print-Journalisten sein PMG Presse-Monitor ist, sind dem Blogger Rivva oder die Blogcharts. Die Themenvielfalt der beliebtesten Blogs ist durchaus ausbaufähig. Auch in einer anderen Frage stehen die Onliner den Offlinern in nichts nach: Frauen haben in beiden Welten, vorsichtig gesagt, nicht gerade die Meinungsherrschaft inne. Gefühlt ist das so, als würde man bei Google den Suchbegriff „Chefredakteurin“ eingeben und würde sofort die Frage zurück gespielt bekommen: „Did you mean Chefredakteur?“
Nicht viel besser als den Journalisten geht es den Politikern. Man hat fast den Eindruck, das Netz hat gar keinen Bedarf mehr an ihnen. Wenn einzelne MdBs sich dann im Twittern versuchen oder Ministerien den Dialog online suchen, werden sie entweder ignoriert oder verhöhnt.
Mit der Netzcommunity sieht die Politik sich mit einer Gruppe von Menschen konfrontiert, die hervorragend die Klaviatur der öffentlichen Kommunikation 2.0 bespielen kann. So schnell wie die Crowd Argumente prüfen, Videos produzieren, Demonstrationen organisieren und Unterschriften sammeln kann, kann der schwerfällige Apparat in Parteizentralen und Ministerien gar nicht reagieren. Aber was rückt an ihre Stelle? Droht uns anstelle von Gleichheit, Transparenz und Meinungsvielfalt gar eine Diktatur der Gut-Vernetzten?
Auch die Wissenschaft scheint dem digitalen Wandel eher abwartend zu begegnen. Damit meine ich gar nicht die „Netzwissenschaftler“, sondern vor allem die Geisteswissenschaftler wie Literaturwissenschaftler, Politikwissenschaftler, Historiker oder Philosophen, deren Disziplinen sämtlich vom digitalen Wandel betroffen sind, die das aber offensichtlich kaltlässt. Entweder sie ignorieren den digitalen Wandel oder sie sehen ihn als „Sonderforschungsbereich“. Aber auch hier gilt: Der digitale Wandel ist kein „Add-On“, dessen Untersuchung den Netzwissenschaften überlassen werden kann. Findet denn im Netz keine Literatur, keine Politik, keine Identitätsbildung statt?
Mein Fazit: Das Digitale ist nicht Ergänzung oder Ersetzung des Bestehenden, es verändert die Grundlagen. Oder wie es Gunter Dueck von der IBM beschreibt: Das Internet wird zum Betriebssystem der Gesellschaft, auf dem alle Anwendungen aufsetzen müssen.

Sonntag, 12. Dezember 2010

Agora (3): „Kein Glasperlenspiel“ von Prof. Dr. Martin Balle

„Zukunft der Zeitung. Zeitung der Zukunft.“ Kein halbes Jahr nachdem die Akademie für Politische Bildung Tutzing bereits über „Medienumbrüche“ diskutiert hatte, brach man dieses Wochenende das Thema auf die Printpresse herunter und präsentierte mit Martin Balle, dem Verleger des „Straubinger Tagblatt“, einen Referenten, der quasi den Gegenentwurf zu Jochen Wegners sommerlichen 23 Thesen zur Zukunft der Medien vortrug. Gleich einem Don Alphonso der Old Media weckte Balles belesene, polemische, dem Bildungsbürgertum huldigende Replik bei mir erst einmal Widerspruch und Empörung, aber je länger ich ihm zuhörte, desto bedenkenswerter fand ich seinen Vortrag. Nicht, daß ich ihm zustimmen würde, aber Balle, der auch dem Vorstand des Bayerischen Verlegerverbands angehört, beleuchtete durchaus kritische Fragen der Produktion und Rezeption digitaler Inhalte. Einige Statements, etwa daß man sich online nicht mit Gedichten beschäftige oder die heile Welt des gedruckten Worts ein Gegengift zu den Bites und Byts sei, hatte ich live getwittert (Christian Jakubetz zitiert daraus in einem Blogeintrag). Leider gibt es nicht ein Manuskript des Gesamtvortrags, sondern mehrere Texte, aus denen er am Redepult eine Art Potpourri improvisierte. Die Passagen zum Thema Angst möchte er nicht online sehen, da er diese Ausführungen noch ein paar Mal vortragen will, dafür überließ er mir aber seine Festansprache anläßlich des 150-jährigen Jubiläums des „Straubinger Tagblatt“ zur Veröffentlichung. Hier die meines Erachtens in Tutzing benutzten Passagen. Der Gesamttext ist im Verlag Attenkofer erschienen.
Updates: Im Juni 2014 gehört Balle zu den Bietern für die insolvente Münchner „Abendzeitung“.
Am 17. Juni gibt der Insolvenzverwalter bekannt, daß Balle zusammen mit dem Münchner Anwalt und Unternehmer Dietrich von Boetticher die „Abendzeitung“ samt ihres Onlineauftritts übernimmt.


In seinem zauberhaften Roman „Das Glasperlenspiel“ beschreibt der Schriftsteller Hermann Hesse in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine Welt, in der nicht nur alle Kunst und alle Wissenschaft abgelöst ist durch die jetzt einzige Kunst des Glasperlenspiels, sondern vor allem auch die Welt der Zeitungen, wie es der namenlose Erzähler, den Hermann Hesse sprechen lässt, uns im Rückblick auf das 20. Jahrhundert als auf die Welt des Feuilletons berichtet.
Denn in der Welt der Zeitungen, so schreibt es dieser Erzähler bei Hesse, „habe“, so wörtlich, „der Geist eine unerhörte und ihm selbst nicht mehr erträgliche Freiheit 'genossen', indem er die kirchliche Bevormundung vollkommen, die staatliche teilweise überwunden, ein echtes, von ihm selbst formuliertes und respektiertes Gesetz, eine echte neue Autorität und Legitimität aber noch immer nicht gefunden hatte.“ Ich darf jetzt ganz kurz etwas ausführlicher zitieren aus diesem wunderbaren Roman: „Wir müssen nämlich bekennen“, so schreibt er weiter, „dass wir außerstande sind, eine eindeutige Definition jener Erzeugnisse zu geben, nach welchen wir jene Zeit benennen, den 'Feuilletons', nämlich. Wie es scheint, wurden sie als ein besonders beliebter Teil im Stoff der Tagespresse zu Millionen erzeugt, bildeten die Hauptnahrung der bildungsbedürftigen Bürger, berichteten oder vielmehr 'plauderten' über tausenderlei Gegenstände des Wissens. Die Hersteller dieser Tändeleien gehörten teils den Redaktionen der Zeitungen an, teils waren sie 'freie" Schriftsteller, wurden oft sogar Dichter genannt, aber es scheinen auch sehr viele von ihnen dem Gelehrtenstande angehört zu haben, ja, Hochschullehrer von Ruf gewesen zu sein. Beliebte Inhalte solcher Aufsätze waren Anekdoten aus dem Leben berühmter Männer und Frauen oder deren Briefwechsel... Lesen wir die Titel solcher Plaudereien, so gilt unsere Befremdung weniger dem Umstand, dass es Menschen gab, welche sie als tägliche Lektüre verschlangen, als vielmehr der Tatsache, dass Autoren von Ruf und Rang und guter Vorbildung diesen Riesenverbrauch an nichtigen Interessantheiten 'bedienen' halfen. Zeitweise besonders beliebt waren die Befragungen bekannter Persönlichkeiten über Tagesfragen ... zum Beispiel namhafte Chemiker oder Klaviervirtuosen über Politik, beliebte Schauspieler, Tänzer, Turner, Flieger oder auch Dichter über Nutzen und Nachteile des Junggesellentums, über die mutmaßlichen Ursachen von Finanzkrisen und so weiter ...“
Das erinnert an Anne Will und Maybrit Illner, aber natürlich auch an so manche Feuilleton-Beiträge, die man sich vielleicht hätte schenken können. Ein letzter Satz aus Hesse: „Wechselte ein berühmtes Gemälde den Besitzer, wurde eine wertvolle Handschrift versteigert, brannte ein altes Schloss ab, fand sich der Träger eines altadeligen Namens in einen Skandal verwickelt, so erfuhren die Leser in vielen tausend Feuilletons nicht nur etwa diese Tatsachen, sondern bekamen schon am selben oder doch am nächsten Tage auch noch eine Menge von anekdotischem, historischem, psychologischem, erotischem und anderem Material ... Über jedes Tagesereignis ergoss sich eine Flut von eifrigem Geschreibe.“ Soweit Hermann Hesse. Und man kann zusammenfassen, weil die ganze Kultur einschließlich der Zeitungen als Firlefanz, als verzichtbar erscheint, wird jetzt bei Hesse in der einzigen Kunst des Glasperlenspiels, eines hochartifiziellen Spiels, das wie eine mathematische Ordnung alle traditionelle Kultur ersetzt, alle Kunst, alle Medienform und auch alle Wissenschaft eingebunden. Was ist das Glasperlenspiel bei Hesse also? Ich zitiere ihn wörtlich: „Ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur.“
In einem gleichsam neuplatonischen Reich aller Möglichkeiten des Schönen, also der Musik, der bildenden Kunst, der darstellenden Kunst, der Literatur, die alle übersetzt sind in die Welt des Glasperlenspiels, spielen die Menschen jetzt in einer neuen synthetischen Kultur miteinander und lassen die traditionelle Welt, wie sie sich über die Jahrhunderte entwickelte, einfach hinter sich. Wer heute diesen Roman liest, der kann kaum anders, als in diesem Glasperlenspiel, in dem immer alles gleichzeitig in eine einzige mathematische Sprache übersetzt ist, die heute wahr gewordene Welt des Internets sehen. Denn im Internet ist alle überlieferte Welt als herunterladbare Datei immer gleichzeitig und gleichförmig da. Es gibt keine Art mehr der Information, keine Art der Kommunikation, keine Kunstform, die nicht im Internet sich finden oder sogar kreieren lässt, um auf jede erdenklich Weise die User der Internetwelt zu bedienen. Alles ist vorhanden, jede Wissenschaft ist heute auf das Internet angewiesen. Künstler präsentieren sich und ihre Kunst im Medium des Internets, Musiker produzieren keine Schallplatten mehr, noch nicht einmal mehr CDs, die qualitativ bereits schlechter sind, sondern sie stellen ihre neuen Lieder einfach ins Netz und machen sie so für alle zu jeder Zeit verfügbar. Das Absetzen der Welt der Zeitung zugunsten des Glasperlenspiels Internet gipfelte vor wenigen Wochen für mich in dem Satz des Chefs der Internetredaktion des Focus, der wörtlich sagte: „In zehn Jahren wird es keine Printprodukte mehr geben, wozu auch, das macht doch in der Welt desInternets keinen Sinn mehr.“ Entscheidende Frage für uns, für unsere Zukunft: Stimmt das? Hermann Hesse gibt in seinem Roman eine ganz andere Antwort. Denn die Hauptfigur in diesem Entwicklungsroman, der auch noch Josef Knecht heißt, weil er sich völlig versklavt fühlt von dieser künstlichen, synthetischen Welt, der wird in der künstlichen Welt des Glasperlenspiels nicht glücklich und wendet sich am Ende von ihr ab, in der scheinbar völligen Freiheit des Glasperlenspiels entdeckt er mit zunehmender Dauer des Romans eine Weltfremdheit, eine Unnatürlichkeit, von der er sich lossagt. Die erste Ahnung aber, dass ein solches Glasperlenspiel, wie heute das Internet, der eigentlichen Natur des Menschen zuwiderläuft, überfällt Knecht im Gespräch mit einem zauberhaften Benediktinermönch. Denn dieser Mönch Pater Jakobus, der gibt dem Josef Knecht die entscheidende Eingebung, wenn er sagt, und das gilt ja für alle Internetuser auch: „Ihr Glasperlenspieler“, sagte der Mönch, „habt euch eine Weltgeschichte zurechtdestilliert. Ihr behandelt die Welt wie ein Mathematiker die Mathematik, wo es nur noch Gesetze und Formeln gibt, aber keine Wirklichkeit, kein Gut und Böse, keine Zeit, kein Gestern, kein Morgen, nur eine ewig flache, mathematische Gegenwart.“ Und wenn man an die ganzen User, die nächtelang vor den Schirmen sitzen, denkt, in ihrer flachen Bildschirmgegenwart, so scheint Hermann Hesse hier fast schon eine prophetische Aussicht gegeben zu haben. Es ist eben keine Wirklichkeit, sondern eine flache Gegenwart, was die Bildschirmwelt des Internets zu bieten hat. Eine Welt, die alle Lebensrhythmen, alle Tages- und Jahreszeiten in sich einzuschmelzen droht und die damit den Bedürfnissen von uns Menschen zuwiderläuft.
Vor Kurzem habe ich mit meinem Freund, dem Abt Marianus aus Niederaltaich, einen schönen Abend verbringen dürfen. Und der Vortrag, den Marianus damals gehalten hat, der war einer, der gesagt hat, unsere Zeit hat ein Tempo entwickelt, das keine Rhythmen, kein Atmen, kein Einatmen, kein Ausatmen mehr möglich macht und er hat es auch unter anderem mit dem Internet zusammengebracht und einen schönen Begriff geprägt, indem er gesagt hat: „Wir Menschen brauchen eigentlich eine gespannte Seele.“ Und der Begriff der gespannten Seele bedeutet, dass eine Seele ruhen darf, dass sie aufwachen darf, dass sie in der Früh die Morgenzeitung lesen darf und abends vielleicht sich bei einem guten Gespräch findet. Aber dass Menschen, die nur noch in den Bildschirm schauen, diese gespannte Seele eben verlieren, das wäre auch psychotherapeutisch ein Befund, den man als Therapeut stellen könnte.
Der Begriff der gespannten Seele trägt: Morgenlektüre oder auch ein Morgengebet, abends ein Glas Wein mit den Freunden oder ein gutes Buch; darum geht es und nicht um zeitloses Dauersurfen im Internet. Die Auflösung aller guter und gewohnter Lebensrhythmen in der digitalen Welt läuft doch unserem menschlichen Maß zuwider. Wir brauchen eher die berühmte Periodizität von Informationen, das heißt, die Zeitung erscheint eben sechs Mal die Woche, immer morgens um fünf Uhr liegt sie im Briefkasten und nicht um zehn Uhr schon wieder. Wir brauchen also eine Welt, in der wir vielleicht gar nicht beständig regelrecht überfallen werden von neuen Informationen, die am Ende sich für uns als gar nicht wichtig erweisen können. Von der Zeitung aber bis zu den Abendnachrichten, im BR oder im ZDF, müssen wir ja unserem Tag und unserem Leben einen Rhythmus, einen Atem geben, der uns dann dieses Leben, unser einziges Leben, wirklich spüren lässt. Die Allgegenwart von Kommunikation im Internet aber dient doch nicht so sehr einer echten Lebenserfahrung oder einem echten Gespräch von uns miteinander und untereinander und auch nicht der Selbstgewahrwerdung im Akt des Lesens, sondern sie bedient doch allzu häufig nur Muster der Selbstentfremdung, ja der Dauerablenkung von uns selbst. Mit einem wunderbaren Bild sprach deshalb vor wenigen Wochen der Feuilleton-Chef des nicht abgeschafften Feuilletons der FAZ, Frank Schirrmacher, vom Lesen der Zeitungen und Bücher als einer zunehmend „wichtigen Insel von therapeutischem Wert in einer zunehmend digitalisierten Welt“.
Zusammenfassend: Zeitungen, unsere Printkultur also, haben anthropologisch, also was das eigentliche Wesen des Menschen angeht, eine Bedeutung, die wir vielleicht nur deshalb nicht genügend schätzen, weil wir kulturell schon zu viel von dieser Bedeutung preisgegegeben haben.
Ein zweiter und letzter Punkt. Ich möchte einleiten mit einem kleinen, sehr liebenswürdigen Zitat aus einem frühen schönen Drama von Hugo von Hofmannsthal mit dem Titel „Gestern“. Und da sagt in diesem Drama der jugendliche Liebhaber Andrea: „Musst du mit Gestern stets das Heute stören, muss ich die Fessel immer klirren hören, die ewig dir am Fuß beengend hängt, wenn ich für mich sie tausendmal gesprengt. Das Gestern lügt, und nur das Heut' ist wahr, lass dich von jedem Augenblicke treiben, das ist der Weg, dir selber treu zu bleiben.“ Man soll es mit solchen Lebensführungen nicht unbedingt übertreiben, aber im Prinzip ist es ein Thema, das die Philosophie im Rahmen ihrer Bewusstseinsphilosophie sich genauso stellt. Die Philosophie stellt nämlich die Frage in Anbetracht der Länge unseres Lebens, wo sich alles erneuert, unsere Lebensverhältnisse, unser Körper, unsere Zellen alle sieben Jahre, die Frage, ob bei einem Menschen, bei dem wie bei einem Fahrrad erst die Kette gewechselt wird, dann das Blech, dann die Reifen, ob dieses Fahrrad am Ende noch dasselbe ist wie am Anfang. Ein Niederbayer würde sofort sagen, „so a Fahrrad gibt's gar net, des hau ma vorher weg, des Fahrrad is kaputt.“ Da zeigt sich, dass bestimmte Fragestellungen in der Philosophie kontraintuitiv sind, aber es gibt in der Philosophie auf diese Fragestellung trotzdem eine wunderbare Antwort. Die Philosophie sagt nämlich, in der Erinnerung seiner Selbst ist der Mensch in jedem Wandel, den er durchläuft, trotzdem in sich selbst in seiner Memoria für sich identisch. Er mag Tausend Personen, Tausend Rollen nach außen darstellen, weil er seiner Selbst ein Leben lang bewusst ist, kann er sich in seiner Erinnerung seiner Selbst versichern und bei allem Wandel seiner Selbst geht seine Identität auf diese Weise nicht verloren.
Wir brauchen also die Erinnerung. Wir brauchen aber diese Erinnerung, und das wissen wir auch aus der Psychologie, wir brauchen diese Erinnerung nicht nur individuell. Wir sind auch aufgerufen, uns gemeinsam zu erinnern, ein gemeinsames Bewusstsein unseres Heimatraumes, in dem wir leben, aufzubauen und zu bewahren. Ich gebe ein Beispiel: Ich war nicht wirklich in Südtirol, wo ich immer Urlaub mache, wenn ich nicht dort teilgenommen habe an der Selbstwahrnehmung der Südtiroler in ihrer zauberhaften Heimatzeitung „Dolomiten“. Wenn ich nicht einen Blick dort auf die Todesanzeigen, die zuletzt verunglückten Kletterer in den Südtiroler Bergen geworfen habe, das letzte Eishockeyergebnis der „Rittner Buam“ gesehen habe oder auch nur die Veranstaltungshinweise für die nächste Woche gelesen habe. Auch wenn ich nirgends hingehe, ein Heimatraum, in dem nicht unser aller Lebensweg von einer Heimatzeitung mitverfolgt und begleitet wird, der verliert buchstäblich an Raumqualität. Eine Heimatzeitung hilft den Raum zu spannen, den Heimat bildet. Sie bildet ihn eben nicht nur beschreibend und passiv ab.
Vom täglichen Stadtgeschehen bis zu den Heirats- und Todesanzeigen entstehen Räume, die als Heimat erlebt und erfahren werden. Heimatbewusstsein hat mit Heimatzeitungen zuinnerst zu tun. Und eine solche Chronistenpflicht, wo wir uns unserer selbst täglich gewahr werden, leistet die digitale Welt in keiner Weise. Wert und Würde des gedruckten Wortes sind eben nicht nur eine Floskel, sondern sie sind für ein funktionierendes Heimatgeschehen aus meiner Sicht unverzichtbar und unersetzbar. Digitale Todesanzeigen mögen ein interessantes Geschäftsmodell sein, der Nachricht in der Zeitung aber, dem erinnernden Nachruf, sind sie in keiner Weise ebenbürtig, denn sie fangen den Wert des gelebten Lebens nicht ein.

(Foto: Sebastian Haas/Akademie für Politische Bildung Tutzing)