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Sonntag, 4. Mai 2025

Trauer muss man sich leisten können

Meine erste Leiche war Frau Ritter. Ich war im Grundschulalter und sie war die Besitzerin des Mehrfamilienhauses in der Wilhelm-Düll-Straße, bei mir um die Ecke. Im ersten Stock mit der Terrasse lebte sie. Im zweiten Stock wohnte eine Polizistenfamilie, deren Sohn damals mein bester Freund war. Das Erdgeschoss hatten meine Eltern mal gemietet. Als erste Wohnung meiner großen Brüder. Später kam dann auch mein Vater kurze Zeit mal dort unter. Nach ihrem Tod wurde Frau Ritter im offenen Sarg aufgebahrt. Meine erste Leiche.

Dann kam fast zwei Jahrzehnte lang keine Leiche. Nur der Tod. Mein Vater Iani Popa starb am 28. Oktober 1982. Ich war 21 und der letzte, der ihn lebend sah. Meine Brüder waren ausgezogen, meine Mutter zu Besuch in Paris. Am Morgen hatte mein Vater mir Frühstück gemacht, dann war ich auch nach Paris geflogen. Dort ereilte uns die Nachricht, dass er gestorben sei. Wir brachen den Urlaub ab. Für meine Mutter hatte einer meiner Brüder ein Flugticket hinterlegt. Ich fuhr mit zum Flughafen. Mit der naiven Vorstellung, ich könnte das Bodenpersonal überreden, mein Flugticket für eine Woche später aufgrund des Todesfalles auf einen sofortigen Rückflug umzubuchen. Ging natürlich nicht. Und so flog meine Mutter allein zurück, während ich die Woche in Paris blieb und erst mit meinem ursprünglich geplanten Flug nach München zurückkehrte. Ich selbst hätte mir kein neues Flugticket leisten können. Und von meiner Familie sah wohl keiner die Notwendigkeit, mich auch sofort zurückzuholen. Und so kehrte ich erst gerade rechtzeitig für die Trauerfeier heim. Ohne meinen toten Vater wiedergesehen zu haben. 

Die erste Leiche, die ich als Erwachsener zu sehen bekam, war ein Fremder. Ein Bruder meines Vaters. Da mein Vater 1945 bei Nacht und Nebel und wohl eher aus einer spontanen Laune heraus aus dem kommunistischen Rumänien geflohen war, wo er Frau und Tochter zurückließ, und später dann auch noch für das regimekritische Radio Freies Europa gearbeitet hatte, gab es nahezu keinen Kontakt zu unseren Verwandten väterlicherseits. Meine Halbschwester und ihre Familie besuchten uns in München und irgendwie schaffte es mein Vater auch, alle vier legal aus Ceaușescus Reich loszueisen und illegal nach Deutschland zu bringen. Von seinen Geschwistern hatten mit Ausnahme seiner Vasilica aber alle anderen den Kontakt abgebrochen, um es sich nicht mit dem kommunistischen Regime zu verderben. 

Nach der Revolution konnte ich nun aber endlich auch nach Rumänien reisen. Weggefährten und Verwandte meiner Eltern kennenlernen. Und einen Bruder meines Vaters. Oder zumindest dessen Leiche. Er war während eines meiner Aufenthalte in Bukarest gestorben und ein gemeinsamer Cousin nahm mich selbstverständlich zum Trauern mit. Der Leichnam war auf der Couch im Wohnzimmer aufgebahrt. Die Wohnung war voll mit Verwandten, Kollegen und Klageweibern. Denn wir Verwandte mussten still sein, durften nicht lauthals trauern. Das übernahmen die Klageweiber.

Dann wurde der Leichnam in einen offenen Sarg gelegt. Die Sargträger hatten Handtücher auf der Schulter, die anschließend an den Außenspiegeln der Autos in der Trauerkolonne gebunden wurden. Der Sarg selbst lag offen auf der Ladefläche eines Transporters. Der Korso fuhr durch die Stadt an sämtlichen Stationen seines Lebens vorbei, an den Filialen seiner Bäckerei, hin zum Friedhof, wo die Sargträger wieder die Handtücher von den Autos losbanden, auf die Schulter legten und darauf den Sarg zum Grab trugen, wo neben den Trauernden auch bereits viele Arme warteten. Denn bei jeder Beerdigung wird Essen mit ihnen geteilt.

In meinem Alter verbringe ich inzwischen mehr Zeit am Friedhof denn im Nachtleben. Das allgegenwärtige Sterben begann mit den Vorbildern, Mentoren, Tanten und Onkeln. Schließlich die Eltern. Dann erwischte es die eigene Generation: Schulkameraden, Kolleg*innen, Freund*innen, Geschwister. Aber trotz all dieser Gelegenheiten habe ich bis heute nicht verstanden, welche Regeln greifen. Wer wo sitzt. Ob der Leichenschmaus Pflicht ist und wer dazu einlädt. Jede Trauerfeier, jede Beerdigung oder Einäscherung unterscheidet sich von den anderen. Je nach Nationalität oder Glaubensgemeinschaft. Je nachdem, ob Hinterbliebene, die Nachbarn oder die Stadt die letzten Dinge geregelt hat.

Als meine Mutter Rica Popa nach jahrelanger Pflege daheim starb, fand ich die Vorstellung, für sie eine Trauerfeier abzuhalten, absurd. Die letzten neun Jahre hatte außer uns drei Söhnen niemand sie mehr besucht. Ich hatte sie noch schwer schnaufen gehört, als ich die Einkäufe in der Küche abgestellt hatte. War dann in der Burda-Bar nebenan frühstücken gewesen und als ich wieder kam, um sie zu wecken und ihr Frühstück zu machen, lag sie tot im Bett. Zumindest wirkte sie tot. Und es war ein absurdes, nahezu slapstickhaftes Unterfangen, festzustellen, ob sie es tatsächlich war. Soll man da nicht den Puls fühlen? Sie zwiscken oder piksen? Einen Spiegel vor den Mund halten? 

Meine Mutter hatte sich immer gewünscht, eingeäschert und im Meer verstreut zu werden. Mein Frankfurter Bruder und ich wollten keine Trauerfeier, mein Münchner Bruder hat trotzdem eine bestellt und bezahlt. Florica Popa, Hausfrau, stand in der Tageszeitung bei den Traueranzeigen. Zur Trauerfeier ist wohl niemand erschienen, auch nicht derjenige, der sie bestellt hat. Ich hätte die Asche im Schwarzen Meer verstreut, wo meine Mutter ihre schönsten Kindheits- und Jugenderinnerungen hatte. Auch als Rückkehr in ihre Heimat. Mein Bruder bestand auf die Côte d'Azur, wo sie als Erwachsene schöne Erlebnisse hatte. Ich hätte ihn dorthin begleiten können, aber ich meide meinen Bruder und ich denke, dass das alles für meine tote Mutter auch keine Rolle mehr spielt, Trauerfeiern den Lebenden Trost spenden sollen, wo das noch möglich ist.

Der Bruder meiner Mutter, Jean „Ţuţi“ Dragesco, ebenfalls ein Kind des Exils, starb in den Corona-Jahren in seiner französischen Wahlheimat. Bei Montpellier. Und ich wäre gern hingefahren. Aber meine Cousins und Cousinen verständigten mich leider recht kurzfristig von der Trauerfeier. Ich hätte ein, zwei Tage Zeit gehabt, um von München dorthin zukommen. Angesichts der Reisebeschränkungen während der Pandemie kaum machbar und so kurzfristig wohl für mich auch nicht finanzierbar.

Wenn ich andere Expats und Familien im Exil erlebe, bin ich immer erstaunt, wie sie durch die Welt reisen. Ob zu Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen. Bei uns war das immer anders, und ich weiß nicht, ob das an der Zurückgezogenheit meines Vaters lag, der zu Zeiten von Radio Freies Europa den Kontakt zu den meisten Menschen abgebrochen hatte, oder ob es daran lag, dass meine Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg mittellos waren und lange auf jeden Pfennig achten mussten. Vielleicht strahlte die Dysfunktionalität meiner Familie auch nur auf den Umgang mit weiteren Verwandten aus.

Dann erwischte es meinen Frankfurter Bruder Dinu Popa. Creutzfeldt-Jacob. Als die Diagnose kam und die Krankheit so wild wie schnell voranschritt, reiste ich kurzfristig zu ihm ins Krankenhaus nach Mainz, um ihn zumindest noch halbwegs so zu erleben, wie ich ihn in Erinnerung behalten will. Und wahrscheinlich spricht man über solche Banalitäten nicht, aber einfach von heute auf morgen die hundert Euro für die Zugfahrt morgens hin und abends zurück zu organisieren, war nur mit Anstrengung und einigen Problemen in den darauf folgenden Wochen möglich.

Wenige Wochen später dann sein Tod und die Trauerfeier. Und wieder keine Ahnung, wie so etwas abläuft und wie man sich zu verhalten hat. In der Traueranzeige, auf der Trauerkarte und auf einem Kranz stand mein Name, ohne dass jemand mit mir darüber gesprochen hätte. Und wer entscheidet darüber, wer allein genannt wird und wer mit Partner*in oder Familie? Zum Leichenschmaus hatte mich niemand eingeladen. Aber vielleicht muss man dafür auch nur einfach nach der Trauerfeier vor der Kirche rumstehen, bis einen jemand mitnimmt. Die Urnenbeisetzung sollte laut Traueranzeige „zum späteren Zeitpunkt im engsten Kreis der Familie“ stattfinden. Ich erfuhr davon erst im Nachhinein durch ein Foto vom Grab. Auf welchem Friedhof das ist, weiß ich bis heute nicht.

Montag, 6. Januar 2025

Wochenplan (Updates)

Pressekonferenz zum Wahlkampfschwerpunkt der bayerischen SPD mit Ronja Endres und Carsten Träger / Café Magali; Gedenkveranstaltungen zum 41. Jahrestag des rechtsterroristischen Brandanschlags auf die Diskothek Liverpool / Schillerstraße 11 a & Köşk; Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des terroristischen Anschlags auf „Charlie Hebdo“ / Rationaltheater; Gastrosilvester / P1; Vorbesichtigung der Online-Auktion Udo – The Personal Collection / Sotheby's; „Es geht um uns“ – Programmpräsentation der ARGEkultur Salzburg; Jour Fixe mit Gabriela de la Punte („The White Pube“, „Poor Artists“) / Akademie der Bildenden Künste; Jimmy Carter's State Funeral / C-Span; Vernissage „The Road Will Still Be There“ der Projektklasse Curtis Talwst Santiago / AkademieGalerie; Trauerfeier für den Buchhändler und Verleger Dinu Popa (Foto) / Nazarethkirche Frankfurt-Eckenheim; Kundgebung für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel / Marienplatz; Artist Talk mit Janina Roider / Lohaus Sominsky; Neujahrsempfang der Mohr-Villa„Aufbau nach dem Untergang“ – Vortrag von Ellen Presser zum Neuanfang der Israelitischen Kultusgemeinde München nach 1945 / Synagoge Ohel Jakob 

Montag, 9. Dezember 2024

Agora (10): Die Übersetzerin Christel Hildebrandt erinnert an den Verleger und Buchhändler Dinu Popa

Christel Hildebrandt, die für den Popa-Verlag Lars Saabye Christensens Roman „Yesterday“ übersetzt hat, erinnert an den letzte Woche verstorbenen Verleger und Buchhändler Dinu Popa. 

Die Nachricht kam wie ein Schock. 

Dinu Popa ist gestorben. Das kann doch nicht sein. Hatte er mir doch als treuer Freund noch vorgeschlagen, dass er Karten für die Buchmesse für mich hat, sozusagen als seine Mitarbeiterin. 
Und wir trafen uns doch immer dort, meistens zum Essen beim Gastland, ich weiß gar nicht mehr, seit wie vielen Jahren. 

Begonnen hat unsere Freundschaft in Oslo, auf der Frauenbuchmesse, das muss 1986 oder 1987 gewesen sein. 

Denn 1988 durfte ich für ihn ein wunderbares norwegisches Buch übersetzen, Beatles auf Norwegisch, Yesterday auf Deutsch, für seinen Ein-Mann-Verlag, den Popa-Verlag. Ein Buch über vier Jungs in Oslo, Beatles-Fans und Nacheiferer, die sich bei jeder neuen Platte ihrer Helden treffen, über ihre Jugend in den 60er- und 70er-Jahren. Ein Buch, das anderen, großen Verlagen zu dick für ein Buch aus Norwegen war, aber Dinu fragte nur: „Findest du das wirklich so gut?“ Und ich konnte bestätigen, dass ich es einfach fantastisch fand. 

Also unterstützte er mich beim Kauf meines ersten Computers, und bei Problemen mit ihm konnte ich jederzeit in München anrufen, damals noch ziemlich kostspielig von Hamburg aus. 

Das Buch von Lars Saabye Christensen wurde nicht nur beim Popa-Verlag ein Erfolg (die Auflage von 3.000 Stück wurde restlos verkauft), es ist heute noch bei Random-House zu kaufen. 

Und seitdem trafen wir uns nicht nur bei allen Veranstaltungen, wo sich unsere Wege kreuzten, nach seinem Umzug nach Frankfurt war meine feste Adresse bei jeder Buchmesse dort die Wohnung von Gisela und Dinu, ich bin geradezu mit ihnen umgezogen. Und Dinu führte mich in für mich als junge Übersetzerin aus dem Norwegischen exotische Kreise ein, seriöse Geschäftsleute, verrückte KünstlerInnen, sein Freundeskreis schien mir keine Grenzen zu haben. Und immer war ich willkommen, wie er auch mich auf den norwegischen Empfängen auf der Messe traf und mit jedem und jeder dort charmant plaudern konnte und mich immer wieder unterstützte. 

Überhaupt hatte ich das Gefühl, Dinu kennt sowieso jeden, zumindest nach zehn Minuten in einem Raum. Und immer schleppte er mich mit, ob zu russischen, französischen, schottischen, rumänischen FreundInnen und Bekannten, die sich sicher häufiger wunderten, was eine Übersetzerin aus der doch kleinen Sprache Norwegisch an ihrem Tisch zu suchen hatte, aber schließlich war Dinu neben mir, und damit war ich akzeptiert. 

Das letzte Mal trafen wir uns, Dinu, Gisela und ich, letztes Jahr in Leipzig auf der Messe, lauschten Texten aus Österreich (auf die Idee wäre ich allein nie gekommen) und speisten natürlich in Auerbachs Keller. So charmant, wie er nach einem Platz fragte, konnten wir gar nicht abgewiesen werden! Und ich habe mich schon auf ein Wiedersehen in Leipzig gefreut, denn auch bei mir wird die Arbeitswut weniger und damit die Motivation, auf Messen zu gehen, wenn es dort keine konkreten Aufgaben gibt. 

Ich sehe es noch vor mir, wie ihr zwei mir Ungläubigen euren Campingwagen von der S-Bahn aus gezeigt habt, nein, ihr wart nicht in einem schicken Hotel abgestiegen, sondern hattet euer Bett mitgebracht, ach ihr beide wart immer so herrlich verrückt und in keine Schublade zu packen. 

Und jetzt fehlt eine Hälfte. Der Bericht von dir, Dorin, hat mich ziemlich erschüttert, jemandem wie Dinu die Möglichkeit zu nehmen, sich auszudrücken, ist einfach eine schreckliche Vorstellung. 

Für mich war er, wenn wir uns trafen, immer so etwas wie ein großer Bruder (auch wenn er nur zwei Monate älter war als ich), den ich nie gehabt hatte, der für alles eine Lösung fand und ganz selbstverständlich dafür sorgte, dass ich Unterkunft und Eintritt zur Messe sowie interessante Kontakte hatte. Aber in erster Linie habe ich mich immer riesig gefreut, ihn (und auch dich, Gisela) zu treffen und mich von seinen Einfällen und Plänen verblüffen zu lassen. Dinu, du fehlst mir.

Samstag, 7. Dezember 2024

Der Tod zählt zur Familie

Irgendwann ist es mehr als genug. Irgendwann ist es zu viel. Aber irgendwann ist es auch vorbei. Selbst ein sich unbarmherzig wiederholendes Leid. 

Manchmal überfällt es einen überraschend schnell. Nach kurzer, schwerer Krankheit heißt es dann in den Nachrufen. Bei uns in der Familie war bisher eher das Gegenteil die Regel. Jahrelanges Siechtum. Stirb langsam. 

Als vorgestern mein Bruder Dinu im Alter von 72 Jahren verlosch, waren es dagegen nur wenige Wochen gewesen, zwei, drei Monate. „Nach kurzer, schwerer Krankheit“ schrieb ich in meiner Pressemeldung für die Branchenblätter und den Nachrichten für den Freundeskreis und die Angehörigen in Frankreich und Rumänien. Und dennoch war jeder Tag ein Tag zu viel gewesen. Denn an Creutzfeldt-Jakob stirbt man nicht, man krepiert. Diesen Sommer war es bei ihm ausgebrochen, wie es eben ausbricht. Ohne Anlass oder Ursache, aber dafür unbarmherzig tödlich. 

Das Hirn löst sich auf, man kann nicht mehr richtig sehen, stehen, gehen. Hat Wahnvorstellungen, Schwierigkeiten, sich zu artikulieren. Und zwischendurch immer wieder lichte Momente, was es nur grausamer macht, weil man den eigenen Untergang miterlebt. „Ich sterbe“, rief mein Bruder im Krankenhaus, als ein Verlagsvertreter auf Dinus Handy anrief und auf die Freisprecheinstellung geschaltet war. Und in diesem Satz war Dinu wieder ganz der Alte, extrovertiert, dramatisch, trotz der tödlichen Diagnose irgendwie übertreibend, aber nicht ohne Witz und Ironie. Selbst das Schlimmste, Persönlichste für eine Pointe nutzend.

Ausgerechnet Dinu, der intellektuellste oder eher einzige Intellektuelle von uns Söhnen, war im Hirn erkrankt. Eine meiner ältesten Erinnerungen an ihn ist, wie er in seiner ersten eigenen Wohnung in der Wilhelm-Düll-Straße 1 mit anderen zusammen auf dem Boden saß, „Das Kapital“ las und diskutierte. Die Marx-Engels-Lesegruppe. Jahrzehnte später lösten Dinu und ich für die slawistische Buchhandlung Kubon + Sagner ihr Warenlager in der Heßstraße auf und räumten meterweise Marx und Engels ab, in allen möglichen Sprachen. Die Bände lagern wohl immer noch in Dinus Lagerhalle in Frankfurt-Bockenheim.

Deutlich ältere Brüder zu haben, ist wunderbar, wenn man jung ist. Hat man doch als Kind schon Anteil an den Erfahrungen Reiferer. Als ich dagegen Dinu letztes Jahr im Sommer in Frankfurt besuchte, um gemeinsam Dario Argento im Deutschen Filminstitut zu erleben, hatte sich das Blatt gewendet. Jetzt sah ich vor mir, was mir in neun Jahren, vielleicht auch früher oder später, blüht: Einen alten Mann mit vielen Krankenhausaufenthalten hinter sich und einer unaufhörlichen Kette an Erkrankungen. Nichts lebensbedrohliches, aber doch das Leben bestimmendes. Ein Jahr später, als ihn Creutzfeldt-Jakob schon dahinzuraffen begann, lag er in einem Krankenhausbett mit der Modellbezeichnung Avant-Guard.

Doch im Sommer zuvor, nach Argentos Auftritt sind Dinu und ich um die Ecke Essen gegangen. Essen war in unserer Familie wichtig. Und kannte keine Grenzen. Markknochen, paniertes Hirn, blutige Steaks. Etwa als wir gemeinsam auf der BookExpo America in Chicago waren und keine Gelegenheit ausließen, gut zu speisen. 

Diese Erinnerungen bleiben, aber wenn man mich dieser Tage nach Dinus Lebenslauf fragt, muss ich passen und es fällt mir auf, wie wenig ich von seinem Leben weiß, eben auch weil er neun Jahre älter war und schon auszog, als ich noch ein Kind war.

Viele Jahre war er ein Hippie gewesen, langhaarig, mit Vollbart. Und ich weiß noch, wie ich eines Tages von der Schule nach Hause kam und mein Vater mich mit einem jungen, rasierten, kurzhaarigen Mann im Wohnzimmer erwartete und mir eröffnete, dass wir Besuch aus Rumänien hätten. Einen entfernten Cousin. Erst als beide schallend zu lachen begannen, begriff ich, dass das keineswegs ein entfernter Verwandter war, sondern mein Bruder, nur eben mit gestutzten Haaren.

Die letzten Jahre, in denen wir alle zusammen in der Tizianstraße wohnten, waren besonders eng gewesen. Nicht etwa nur die Eltern samt der drei Söhne in der Vier-Zimmer-Wohnung, die Radio Freies Europa für uns in München-Gern angemietet hatte. Denn eines Tages klingelte das Telefon. Meine Mutter ging ran, ich stand neben ihr. Ein Aufschrei. Ihre Mutter, meine Großmutter, Angela „Maia“ Dragu, war in Paris verunglückt. Sie hatte sich daheim hinsetzen wollen, war dabei unglücklich gestürzt und hatte sich so schwer am Kopf verletzt, dass sie fortan auf den Rollstuhl angewiesen war und kaum mehr sprechen konnte. Also zogen die Großeltern auch zu uns nach München. Meine Mutter hatte nun mehrere Jahre einen Sieben-Personen-Haushalt zu betreuen und ich erlebte Maias Siechtum aus nächster Nähe.

Bisher war ich der Meinung, das meine panische Angst vor Menschen, die sich schwer artikulieren können, deren Worte ich nicht verstehen kann, aus der Zeit stammt, als ich als Kleinkind in Deutschland lebte, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, weil wir daheim nur Rumänisch redeten. Inzwischen vermute ich, dass dieses Trauma eher mit meiner Großmutter zusammenhängt, deren Worte ich plötzlich nicht mehr verstehen konnte.

Irgendwann kehrten meine Großeltern wieder nach Paris zurück, aber die Wohnung blieb ein Hospiz. Nun war mein Vater dran, der an allerlei litt: Magengeschwüre und Prostatakrebs, Angina Pectoris und Migräne … Wobei letzteres mit das Schlimmste war, weil er dagegen Unmengen an Dolviran schluckte und sich damit regelrecht vergiftete. Wenn er mit der Trambahn zur Arbeit gefahren war, aber abends nicht nach Hause kam, machte ich mich als Kind auf den Weg, die Strecke nach ihm abzusuchen, ob er vielleicht irgendwo auf einer Parkbank vor sich hin dämmerte. Ich saß im Notarztwagen, als er nach einem seiner Herzinfarkte eingeliefert wurde. Und als er ein anderes Mal ausgerechnet in der Klinik des Leibarztes von Franz Josef Strauß in Kempfenhausen lag, fuhr ich allein immer mit der S-Bahn nach Starnberg und lief von dort zu Fuß zur Argirov-Klinik, um ihn zu besuchen. Denn Klinikaufenthalte waren für meinen Vater die Hölle, weil ihn die deutschen Ärzte und Krankenschwestern an seinen KZ-Aufenthalt erinnerten. Gestorben ist er dann mutterseelenallein im Bett daheim, als ich mit meiner Mutter zu Besuch in Paris war. Zu Lebzeiten hatte mein Vater immer gescherzt, dass meine Mutter sich anläßlich seiner Beerdigung sicher darüber beschweren würde, dass sie dafür so früh aufstehen muss. Und so war es dann auch tatsächlich.

Für meine Mutter, die zwischen den beiden Weltkriegen in einen Diplomatenhaushalt mit Domestiken und Haute-Couture hineingeboren wurde, aber später dann verarmt im Exil lebte, begann jetzt eine gute Zeit, in der sie nur noch für sich selbst sorgen musste. Nahezu dreißig schöne Jahre. Bis dann das Alter zuschlug. Sie war plötzlich auf einen Rollator angewiesen. Und sie, die nahezu jeden Tag in der Innenstadt einkaufen war, verließ plötzlich den Arabellapark nicht mehr. Im Rewe kaufte sie nur noch im Erdgeschoss ein und mied das Untergeschoss. Irgendwann verließ sie ihre Wohnung nicht mehr. Der Garten, den sie jahrzehntelang leidenschaftlich gepflegt hatte, wurde nicht mehr betreten. Dann fiel das Wohnzimmer weg. Und irgendwann verließ sie ihr Bett nicht mehr selbständig. 

Und so wie sich ihr Bewegungsfeld reduzierte, ließ auch ihre geistige Reichweite nach. Beginnende Demenz, die man als Sohn lange übersieht. Bis es dann nicht mehr ignoriert werden kann. Es beginnt mit dem schmutzigen Geschirr, das sich in der Spüle stapelt. Und dann findet man plötzlich, irgendwo versteckt, vollgeschissene Bettwäsche. Neun Jahre pflegten wir unsere Mutter daheim. Fütterten sie, wuschen sie, halfen ihr aufs Klo. Ein paar Jahre vor ihrem Tod stellte sie das Reden ein. Und wir kommunizierten nur noch über Blicke. Was soll man auch reden, wenn bei den intimsten Dingen plötzlich Mutter und Kind die Rollen tauschen. Und selbst mit Dritten zog eine Sprachlosigkeit ein, was meine Mutter betraf. Zu absurd war vieles. Etwa als die trockene Haut meiner Mutter immer mit Kokosnussöl eingerieben werden sollte. Ich zur gleichen Zeit eine Freundin hatte, die aufgrund ihrer Allergien Kokosnussöl als Gleitmittel nutzte. Und niemals zuvor oder danach ich etwas mit Kokosnussöl zu tun hatte, bis auf wenige Monate in dieser Konjunktion.

Sprachlosigkeit muss aber nicht zwingend schlecht sein. Mit meinem Bruder Dinu verstand ich mich auch ohne Worte. Wir sprachen kaum. Aber wir verstanden uns. Er war vielleicht der einzige, aber mit Sicherheit der letzte, dem ich mich nie erklären musste. Mit dem ich dieselbe Heimatlosigkeit teilte. Dabei waren wir grundverschieden. Er offen, freundlich, positiv. Ich verschlossen, misstrauisch, überkritisch. Wenn ich ihm eine böse Beobachtung zuraunte, plauderte er sie im nächsten Augenblick gegenüber dem Objekt meiner Kritik aus. Aber nicht etwa, um mich hinzuhängen, sondern um das Gespräch zu eröffnen. Und nie reagierte jemand böse auf meine weitergetragenen Bosheiten, weil die so entwaffnende Freundlichkeit meines Bruders selbst meiner Häme jede Schärfe nahm.

Ich bin mir nicht sicher, ob er mich tatsächlich erkannt hat, als ich ihn Mitte Oktober im Krankenhaus besuchte. Halb dämmerte er mit geschlossenen Augen vor sich hin. Bekam aber immer wieder durchaus mit, was um ihn herum geschah und äußerte sich dann plötzlich geistesgegenwärtig, mit dem ihm eigenen Schalk, um gleich darauf wieder wegzudämmern. Mal ein Auge geöffnet, mal beide Augen. Die „Rosenheim-Cops“ im Krankenhausfernseher verfolgend, die auch immer bei meiner Mutter liefen, als sie bettlägerig war.

An jenem Nachmittag in Wiesbaden war Dinu teilweise noch recht agil. Saß er erstmal im Rollstuhl, wusste er sich zu bewegen. Und als meine Schwägerin und ich eingetroffen waren, um ihn zu besuchen, trafen wir ihn erst einmal gar nicht an. Er war weder in seinem Bett, noch in seinem Zimmer oder gar auf der Station. Er war im Rollstuhl ausgebüxt. Und wir mussten das halbe Gebäude nach ihm absuchen, bis wir ihn dann im Erdgeschoss rollend fanden.

Als wir ihn später am Nachmittag, kurz bevor wir gingen, ein bisschen herumschoben, vermeinte ich auch zu hören, wir er mir ein „Dorinel“, kleiner Dorin, nachrief. Aber so leise, dass ich mir nicht sicher sein kann, ob er es tatsächlich rief. Ob er mich wiedererkannt hatte, einzuordnen wusste, in der grassierenden Unordnung seines Hirns.

Gemeinsam aßen wir noch etwas. Das Schlucken fiel ihm sichtlich schwer. Die Station hatte eigentlich auch verboten, ihm noch feste Nahrung zu geben. Aber er aß mit dem alten Appetit. Selbst wenn er sich dabei ständig verschluckte.

Das waren unsere letzten gemeinsamen Momente. Er durfte dann aus dem Krankenhaus noch ein paar letzte Wochen nach Hause, bevor er schließlich in einem Hospiz seine letzten Tage verbrachte und friedlich, in Anwesenheit seiner Frau, für immer einschlief.

(Foto mit der Barbie-Puppe: Peter Eising; Rest privat)

Freitag, 14. Juli 2023

BillyBoy*: Barbie – Ihr Leben & ihre Welt

»Eine Schülerzeitung, das „Münchner Buchmagazin“, dann ein Ein-Mann-Verlag, der als erstes zweisprachig, zweibändig, die Gedichte von Emily Brontë verlegte und den inzwischen mit 40.000 Exemplaren verkauften Bildband „Quintessenz – Die schönen Dinge des Lebens“ – so fing es zu Beginn der 80er Jahre mit dem Popa Verlag an«, schrieb Marianne Menzel im „Börsenblatt des deutschen Buchhandels“ vom 1. Oktober 1991 leicht verkürzt.

»Bücher gehörten in der Familie Popa zu den schönen Dingen des Lebens, und so war auch der ältere Bruder des Jungverlegers Dorin Popa, Dinu Popa mit dabei, als man 1984 erstmals mit einem einzigen Buch auf die Frankfurter Buchmesse zog.« 

Und weiter: »Dinu Popa hat den Verlag 1986 von seinem Bruder übernommen.« Zwei Jahre später schloß Dinu an den Erfolg von „Quintessenz“ mit BillyBoy*s „Barbie – Ihr Leben & ihre Welt“ an. Wie „Quintessenz“ war auch „Barbie“ eine Lizenzausgabe des New Yorker Crown Verlags. Autor war der US-amerikanische, in Paris lebende Schmuckdesigner, Warhol-Freund und Barbie-Sammler BillyBoy*. (Schmuckdesigner war damals noch ein ehrbarer Beruf.) Übersetzt wurde das Buch von Hans Pfitzinger. (Auf dem Foto Pfitzinger links, Ivan Steiger vom Münchner Spielzeugmuseum, BillyBoy* in der Mitte, Dinu rechts. An den Namen der französischen Model-Legende aus BillyBoy*s Entourage kann ich mich leider nicht erinnern.)

Die Presse war begeistert. »Billy Boy hat der Puppe mit den Traummaßen ein sehr amüsantes Buch gewidmet«, schrieb Margit Mayo in der deutschen „Vogue“. »Billy Boys Buch ist eine Liebeserklärung«, befand Wolfgang Höbel, damals bei der „Süddeutschen Zeitung“ und noch nicht beim „Spiegel“. Und die „tz“ feierte das »Salut für eine Puppe«.

Es wäre aber kein Münchner Verlag gewesen, wenn nicht, gerade in der Zeit von Helmut Dietls „Kir Royal“ und Andreas Lukoschiks „Leo's“ nicht auch ein Stehrumchen für Medienresonanz gesorgt hätte.

»München liest! Und Barbie lebt. Dieses Motto hatte Verleger Dinu Popa für einen Champagner-Empfang gewählt. Die Veranstaltung wirkte jedoch eher für die Medien organisiert. Allen voran für den Bayerischen Rundfunk, der mit einem Fernsehteam und seinen Moderator von „Leo's“ es fertigbrachte, daß zweimal die Sicherungen durchknallten«, nölte die „Süddeutsche Zeitung“. »Daß Barbie keine gewöhnliche Puppe ist, erfuhren die Partygäste spätestens, als Parkcafé-Wirtin Inge Grandl mit einem gefleckten Hutkoffer auftauchte, in dem acht ihrer 50 Barbies waren. Der Autor des Buches, ein gewisser Billy Boy soll sogar 11.000 Exemplare besitzen.«

»Viele der 200 geladenen Gäste hatten sich trendgerecht auf Barbie gestylt und feierten, Prickelndes im Glas, den Geschenkband.«, beobachtete die „Abendzeitung“. »Zwischen Puppen-Poster und Accessoires gesehen: die Schauspielerinnen Nicole Boettcher (hat noch 30 Puppen aus ihrer eigenen Kindheit), Sabrina Diehl („Zockerexpress“), Maler Ugo Dossi, Hary Fürst („Open Gate“), Park-Café-Wirtin Inge Grandl (in ihrer Barbie-Sammlung befindet sich das für mehrere tausend Mark gehandelte Original von 1959), Nena-Entdecker Georg Seitz („Gib Gas, ich will Spaß“), Sängerin Nina Wachenfeld und Graphiker Dieter Zembsch.«

Später widmete Anja Malanowski in ihrer „AZ“-Serie über »Münchner Kleinverlage – die Lückenbüßer der Medienriesen? meinem Bruder noch ein Verlagsporträt: »Die Welt ein ästhetisches Phänomen. Der Blick fällt auf Luxus und die Kunstmäßigkeit eines Gegenstands, einer Erscheinung. In dieser Welt lebt und arbeitet Dinu Popa. Die sechs Lizenz-Ausgaben, die seit 1986 jährlich in seinem Kleinverlag erscheinen, sollen exklusive Freude bereiten. Und die fängt bei der Gestaltung der durchgestylten Bände an.« 

Kein Wunder, dass BillyBoy* und Dinu schließlich sogar von Gloria von Thurn und Taxis zu einer exklusiven Party aufs Schloß in Regensburg eingeladen worden sind. Ich dagegen habe während der Buchpräsentation von „Barbie“ auf der Münchner Avantgarde-Modemesse anläßlich des Todes von Franz Josef Strauß beinahe einen Eklat provoziert. 

Update vom 20. Juli 2023. Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt heute anläßlich des Filmstarts von Greta Gerwigs „Barbie“: »Kein Geringerer als Andy Warhol verewigte sie 1986 in einem Porträt, wobei er in ihrem großäugigen Gesicht zugleich seine Muse darstellen wollte – den damals 23-jährigen Schmuckdesigner und leidenschaftlichen Barbie-Sammler BillyBoy. In den folgenden Jahren allerdings verlangsamte sich der Aufstieg von Barbies Stern am Glamourhimmel deutlich. Zur wachsenden feministischen Kritik am Rollenbild des Mini-Models kamen Sorgen aus der Kinderpsychologie, die in ihren – auf menschliche Dimensionen übertragen – nicht lebensfähigen Körpermaßen eine Anleitung zur Magersucht befürchtete. Auch Konsumkritiker sahen in Barbies unstillbarer Liebe zu Luxus-Accessoires ein schlechtes Vorbild. Schließlich trug sogar BillyBoy seine geschenkte Warhol-Barbie zur Versteigerung bei Christie’s. „Ich glaube, Barbie berührt im Augenblick nicht gerade den Zeitgeist“, gab er 2014 zu verstehen. „Hätte ich eine Tochter, würde ich ihr keine Barbiepuppen schenken. Ich hätte es nicht gerne, wenn mein Kind davon besessen wäre, ständig etwas haben zu müssen, und dann diese Obsession mit High Heels und Klamotten.“«