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Samstag, 29. Juni 2024

Die Bahn testet Unisex-Toiletten in der Münchner DB Lounge

Bei aller Dauerkritik setzt die Deutsche Bahn durchaus auch mal positive Zeichen, gerade wenn es um Diversität oder Nachhaltigkeit geht. Vor anderthalb Jahren stellte sie Lokführer*innen und Zugbegleiter*innen frei, ob sie in Rock oder Hose zum Dienst erscheinen. Im Bordbistro gab es einige Zeit lang ein sonst nicht erhältliches Bio-Bier von Spaten. Sie holten Münchens Zweite Bürgermeisterin Katrin Habenschaden als Leiterin Nachhaltigkeit und Umwelt in die Berliner DB-Konzernzentrale. Und neuerdings gibt es den Kaffee oder Tee to go im Zug nicht mehr mit Plastikdeckel, sondern einem Papierdeckel.

Eher unter dem Radar blieb dagegen, dass die Bahn bereits seit April in ihrer DB Lounge im Münchner Hauptbahnhof Unisex-Toiletten testet. Wo sonst wie beispielsweise in der DB Lounge des Berliner Hauptbahnhofs nach Damen und Herren unterschieden wird, prangen in München nurmehr genderneutrale Piktogramme für Urinal, Kloschüssel und Wickeltisch an den Türen.

Die Münchner Pressestelle der Deutschen Bahn findet das auf meine Anfrage hin nicht weiter spektakulär: „Wie Sie wissen, sind Unisex-Toiletten in den Zügen der Deutschen Bahn und anderer Bahngesellschaften seit Jahrzehnten Standard.“

Aber wenn die neuen geschlechtsneutralen Piktogramme tatsächlich kein großes Ding wären, wieso gibt es die Neuerung dann nur testweise im Münchner Hauptbahnhof, während sonst bundesweit weiter nach Damen und Herren unterschieden wird?

Sonntag, 9. Juni 2024

Schloss Suresnes oder Schloss Urin? Die Stadt will Wildbiesler mit Pee Back Liquid vertreiben

Einer von Schwabings verborgeneren Schätzen ist das Schloss Suresnes am Wedekindplatz, auch als Werneckschlössl bekannt. Kaum eine*e Münchner*in kennt es. Mitten in Altschwabing gelegen, wird es durch die Schlossmauer und Randbebauung vor neugierigen Blicken geschützt. Nur wer die Werneckstraße entlang flaniert, entdeckt das Lustschloss, in dem Paul Klee ein Atelier nutzte, Ernst Toller sich vor den Häschern versteckte und Reinhard Kardinal Marx übergangsweise residierte. Inzwischen nutzt die benachbarte Katholische Akademie den denkmalgeschützten Bau für Tagungen und Stipendiat*innen.

Weit bekannter, beliebter und vor allem ekelhafter ist dagegen die Schlossmauer von Schloss Urin mit ihren eindeutigen Flecken. Ob die nächtlichen Platznutzer vom Wedekindplatz, die Heimkehrenden aus dem Englischen Garten oder die Gäste der gegenüberliegenden Lokale: An der Wand oder im halbrund der Schlosseinfahrt erleichtern sich seit Jahren viele Männer, während sich die Frauen in den Lücken zwischen den in der Werneckstraße geparkten Autos niederkauern.

Als nun während der Corona-Lockdowns das nächtliche Geschehen im öffentlichen Raum explodierte und damit auch der Harndrang, reagierten der Bezirksausschuss Schwabing-Freimann und das für Hotspots im öffentlichen Raum und deren Probleme zuständige Allparteiliche Konfliktmanagement (AKIM) des Sozialreferats. Sie stellten erstmalig im Sommer 2020 und seitdem Sommer für Sommer am Wedekindplatz drei mobile Toiletten auf, nachdem die Einrichtung eines Toilettencontainers mit Licht und fließend Wasser an den Bedenkenträgern des Baureferats 2020, 2021, 2022, 2023 und offenbar auch 2024 scheiterte.

Es ist heute keine zwei Wochen her, dass sich die Leiterin von AKIM gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ dafür rühmte, dass sie mit den öffentlichen Toiletten Veränderungen am Platz erreicht hätten, „die jetzt wirkten“.

Unerwähnt blieb, dass heuer erstmalig keine mobilen Toiletten mehr am Wedekindplatz installiert werden. Lars Mentrup (SPD) in seiner Doppelfunktion als Stadtrat und stellvertretender Vorsitzender des Bezirksausschusses Schwabing-Freimann sieht keinen Bedarf mehr dafür, da es ja die Toiletten der zahlreichen umliegenden Lokale gäbe. Abgesehen davon, dass die Wirt*innen ihre Klos lieber den eigenen Gästen vorbehalten, lehrten die letzten Jahre, dass es durchaus auch umgekehrt ist: die Gäste vom Goldkätzchen in der Occamstraße oder der Landstreicher-Bar am Wedekindplatz nutzten erfahrungsgemäß oft die gegenüberliegenden mobilen Toiletten, wenn sie eh schon zum Rauchen draußen waren. Und wenn es während einer Fußballübertragung in der Hopfendolde knallvoll ist, bieseln deren Gäste lieber schnell gegenüber an der Schlossmauer, statt sich durch die Kneipe bis aufs Klo zu kämpfen.

Immerhin setzte der Bezirksausschuss in den Corona-Jahren durch, dass die öffentliche Toilette im U-Bahnhof Münchner Freiheit nicht nur kostenlos wurde, sondern auch – shocking news – nicht mehr um Mitternacht schloss. (Auch so eine Merkwürdigkeit der Landeshauptstadt: die öffentlichen U-Bahntoiletten an nächtlichen Hotspots wie der Münchner Freiheit und dem Ostbahnhof bleiben nachts geschlossen.) 

Es war schnell zu beobachten, dass nicht nur die Platznutzer vom Wedekindplatz und der Münchner Freiheit das Angebot nutzten. Gerade viele Frauen, die nachts in der Leopoldstraße und Umgebung unterwegs waren, suchten gerne die saubere wie sichere U-Bahntoilette auf. Leider längst vergangene Zeiten. Inzwischen kostet die U-Bahntoilette nicht mehr nur, sondern schließt auch wieder um Mitternacht. Was nicht zuletzt zu Lasten des großen Spielplatzes an der Münchner Freiheit geht, dessen Büsche zu den beliebtesten Toiletten im Viertel zählt. 

Ähnlich wie am Josephsplatz, wo man für Millionen eine Parkgarage samt Spielplatz errichtet hat, ohne an die Notdurft der Kinder und Eltern zu denken. Dass die benachbarte U-Bahntoilette dort seit Jahren wegen Umbaus geschlossen ist, rundet das Versagen ab.

Im Parkhaus an der Occamstraße befände sich übrigens Altschwabings einzige öffentliche, kostenlose und theoretisch nachts geöffnete Toilette. Nur kennt die kaum jemand und es fühlt sich auch nicht jede*r wohl, nachts den Hinterhofabort aufzusuchen. Ganz abgesehen davon, dass gerade die Damentoilette der Occam-Garage die letzten beiden Jahre abends geschlossen war.

Nun kann man der Landeshauptstadt aber sicher nicht vorwerfen, untätig zu bleiben. Fast neun Jahre nach St. Pauli hat man auch im Münchner Sozialreferat den neuesten heißen Scheiß entdeckt: Das Pee Back Liquid, das Mauerflächen nicht nur imprägniert, sondern laut der geschickten Werbung und PR des Herstellers sozusagen zurückbieselt. 

Rechtzeitig zu Fronleichnam, wenn sich eh das ganze katholische München aufbrezelt, sollte die Mauer von Schloss Suresnes damit imprägniert werden. Auf Kosten und im Auftrag der Stadtverwaltung, die mit diesem Angebot auf die Katholische Akademie zukam. Und die Kirche lässt sie gewähren. Ob zuvor die fleckige Schlossmauer auf Kosten der Stadt frisch gestrichen wird, wollten weder die Katholische Akademie noch das Sozialreferat verraten.

Wetterbedingt wurde der Gegenangriff auf die Wildbiesler aber auf sommerlichere Tage verschoben. Und wie das Sozialreferat bestätigte, soll nicht nur die Ecke an der Feilitzsch-/Werneckstraße mit Pee Back präpariert werden. Man hätte in München auch noch weitere urinverseuchte Hotspots im Visier.

Update: „Alles schien fein und ausgemacht – und blieb dann in der Schublade liegen. Bis letzte Woche der Münchner Autor Dorin Popa mit seinem ,Nice Bastard Blog' nachhakte.“
„Abendzeitung“ vom 13. Juni 2024

Dienstag, 11. Juli 2023

Der letzte Mann – Akko, Kloreiniger in der Münchner Milchbar

„Allah est au contrôle“, salopp übersetzt: Gott hat’s im Griff. Akkos Credo in seinem WhatsApp-Profil. Ist es ein Glaubensbekenntnis? Sein Lebensmotto? Oder vielleicht die Geheimformel, wie man eine Nacht, viele Nächte, jede Nacht im Münchner Partyleben übersteht, ausfüllt, das Beste draus macht. Nicht als Gast. Nicht als Türsteher, Barcrew oder DJ, um deren Gunst alle buhlen. Sondern dort, wo’s ernst wird, auf den Toiletten. Viermal die Woche arbeitet Akko als Klomann in der Milchbar. Ab 22 Uhr. Bis in den Vormittag hinein. 
„Der letzte Mann“, so betitelte Regiegenie Friedrich Wilhelm Murnau („Nosferatu“) 1924 sein Meisterwerk (vollständig auf YouTube zu sehen), in dem Stummfilmstar Emil Jannings einen Hotelportier spielte, der aus Altersgründen zum Toilettenmann degradiert wird. Damals eine Demütigung, die so groß war, dass der Ort des Geschehens, die Hoteltoiletten, als „Stätte seiner Schmach“ überhaupt erst in der Mitte des Films gezeigt wurden. Und selbst dann wagte sich die Kamera nur bis zum Waschraum. Der Rest blieb tabu. 
Akko ist der letzte Mann, aber auch der erste Mann. Von Schmach keine Spur. Wenn die Milchbar aufsperrt und noch nicht mal die Barcrew vollzählig ist, faltet er schon die ersten seiner bis zu 500 Handtücher, die er jede Nacht bereit legt. Es sind noch nicht viele Gäste da, aber die meisten von ihnen statten Akko als erstes einen Besuch ab. Ein schnelles Hallo, die Begleitung kurz vorstellen, die Hände waschen, sich aus Akkos Schatzkammer ein Parfüm reichen lassen, um sich einzunebeln. Noch kann man bei ihm den besten Eindruck hinterlassen. Noch sind die Gäste nüchtern. Im Laufe der nächsten Stunden wird sich das ändern. 
Natürlich bepissen sich im Nachtleben manche volltrunkene Gäste auch am Tresen oder kotzen vor der Tür. Dort ist es ihnen aber peinlich, und sie lassen sich selbst als Stammgäste dann vielleicht ein paar Wochen nicht mehr blicken. Auf den Clubtoiletten geht alles. (Nur Sex und Drogen sind in der Milchbar tabu, weshalb an jeder Klotür mit drohendem Hausverbot davor gewarnt wird, die Kabinen zu zweit zu betreten.) Auf dem Klo entleert sich jede Körperöffnung wie selbstverständlich. Blut, Schweiß und Tränen sind Alltag. Niemand macht viel Aufhebens drum. Man kann so viel Körperlichkeit eklig finden oder aber auch intim. So nah wie das Toilettenpersonal waren einem sonst höchstens die Eltern, als man noch Kleinkind war, oder werden die Pfleger*innen sein, sobald man inkontinent ist. Akko ist ganz nah dran.
„Am schlimmsten sind die Frauen“, weiß er und bestätigt damit, was auch sonst viele Gastroprofis erzählen. So schrecklich die daneben zielenden Stehpinkler unter den Kerlen auch sein mögen. Hardcore geht’s in der Frauentoilette zu, und sei es auch nur, weil viele Frauen Alkohol schlechter vertragen und sich dann abrupt wieder davon trennen. Dann übergeben sie sich beileibe nicht nur ins Waschbecken oder in die Kloschüssel, sondern auch auf den Boden, an die Wände oder quer durch die Klokabine. Das wegzuputzen, immer wieder, ist nicht jedermanns Sache. 
Es gibt im Nachtleben mürrische Kloleute und schüchterne. Manche drohen mit dem Wischfeudel, wenn man nicht nah genug am Pissoir steht, oder lassen einen erst aus dem Klo, wenn man sich die Hände gewaschen hat. Es gibt unter ihnen Selbständige, Minijobber, Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte. Manche arbeiten die eine Nacht in einer Clubtoilette und sonst im Münchner BMW-Werk. Andere tags als Kinderbetreuer, Altenpfleger und nachts unter Ravern. Sie sind katholisch, muslimisch oder Atheisten. Manche recken einem ostentativ die Trinkgeldschüssel entgegen, andere sind so schüchtern, dass man ihnen hinterherhasten muss, um ihnen etwas Geld in die Hand zu drücken. 
In einem Punkt gleichen sie sich aber fast alle: Kaum eine*r von ihnen will mit Foto und Namen gezeigt werden. Während ihre Arbeitgeber*innen, die Clubbesitzer*innen, keine Angst vor möglichen Enthüllungen über die vermeintlichen Schattenseiten des Nachtlebens haben, sondern sich vielmehr wünschen, dass die „Toiletten-Fee“, „die wenig beachteten Personen der Nacht“ endlich die Aufmerksamkeit erhielten, die sie verdienten. 
Akko dagegen steht zu seiner Arbeit. Man darf ihn sich als glücklichen Klomann vorstellen, nicht schicksalsergeben, sondern einer, der Nacht um Nacht sein Schicksal packt, annimmt und und mit einem ansteckenden Lachen das Beste daraus macht. 1962 im westafrikanischen Benin geboren (die sechzig Jahre sieht man ihm nicht an), handelte er zuletzt mit Handys, bevor er schließlich nach Deutschland migrierte. Auf welchem Weg? Das ist das einzige, worüber er nicht reden mag. Erst Magdeburg, dann die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber in Halberstadt und schließlich, eher zufällig, München. Seine damalige Frau, eine Togolesin, arbeitete als Klofrau in der alten Milchbar, auf der anderen Seite der Sonnenstraße. Akko half manchmal aus, und als sie den Job aufgab, übernahm er 2010 die Position. Und gründete sein Reich. 
In einem Club gibt es fast so viele Reiche wie in „Game of Thrones“. Das Reich der Barleute hinter dem Tresen. Das Reich der DJs in ihrer Kanzel. Das Reich der Garderobieren in ihrem Kabuff. Das Reich der Türsteher mit den unsichtbaren Mauern ihrer Autorität. Akkos Reich ist offen, jede*r ist willkommen. Und seit dem Umzug der Milchbar 2013 über die Straße nicht mehr irgendwo versteckt in einer Sackgasse, sondern unmittelbar an der Tanzfläche. 
Während man in den anderen Reichen dazugehören, wahrgenommen, Stammgast sein will, erübrigen sich die Spielchen der Coolness bei Akko. Denn er spielt sie auch nicht. „Um auf dem Klo zu arbeiten, musst Du mit dem Herzen dabei sein. Ohne Herz geht es nicht.“ Und diese Herzlichkeit zeichnet ihn aus. Sein Lachen. Seine Lebensfreude. Seine Freundlichkeit. Seine offene Art. Ohne je unterwürfig zu werden. Es ist sein Reich, er macht die Regeln, und wer sich respektlos benimmt, wie etwa manche junge Kerle, und eigentlich auch nur junge Kerle, der bekommt es mit den Türstehern zu tun. Akko könnte das auch selbst erledigen, er trainiert jeden Tag daheim, aber diese Schmutzarbeit überlässt er den Profis. 
Rausschmeißen kann jeder. Aber die Gäste pampern, mit einer unwiderstehlichen Freundlichkeit anstecken und dabei die lange Nacht hindurch die Toiletten makellos sauber zu halten, immer wieder aufs Neue, das ist eine Sisyphosarbeit. Alle fünf Minuten wischt er die Toiletten, selbst wenn nichts los ist. Und wenn der Laden voll ist, ist es für Akko zwar die „Katastrophe“, Stress pur. Aber er freut sich für seine Chefs, dass der Laden voll ist, wünscht es ihnen so oft wie möglich, und macht dann eben das beste daraus. Herr seines Schicksals. Und immer am Wischen. „Wenn die Leute sehen, dass ich wische, gibt es Trinkgeld.“ 
Aber nicht von allen. Mit dem Trinkgeld ist es wie mit dem Zustand der Toiletten. Auch da unterscheiden sich Männer von Frauen. Die Kerle sind großzügig. Die Mädels streicheln, umarmen, knutschen, herzen Akko. Und sind mit dem Geld knauserig. Amore statt Euro. „Ohne Männer kein Trinkgeld“, sagt er. Dabei bessert er damit keineswegs sein Gehalt auf. Das ist auch so zu seiner vollsten Zufriedenheit. Ordentlicher Stundenlohn. Nachtzuschlag. Lange Schichten. Mit dem Trinkgeld füllt er seine Schatztruhe auf: Kaugummis, Lollis, Ohropax, Präservative, Tampons und was man als Herrscher der Toilette sonst noch als milde Gaben kostenlos verteilt. 
Die Milchbar ist mehr als nur ein Arbeitsplatz, sie scheint für Akko alles zu sein: Die Schule, in der er Deutsch gelernt hat. Seine neue Heimat. Sein Leben. Sein Unterhaltungsprogramm. Seine Wahlverwandtschaft. Die meisten Gäste kennt er, und sie grüßen ihn wie einen Freund und meinen das nicht nur im Vorübergehen, bevor und nachdem sie sich erleichtert haben. Sie geben sich verbindlich, stecken ihm ihre Visitenkarte zu, laden Akko ein, sie zu besuchen. Was er nie machen wird. „Ich gehe nie aus, die Arbeit ist mein Vergnügen, ich amüsiere mich mit den Gästen.“ 
Aber auch nur während der Arbeit, nur in seinem nächtlichen Reich. Wenn er vormittags die Milchbar verlässt, seine Schicht vorbei ist, geht es in den Münchner Osten, nach Hause. Er betet, isst, legt sich schlafen, trainiert nach dem Aufstehen mit seinen Hanteln. Es gibt dann noch etwas Liebe, wie er mit einem Grinsen erzählt. Aber im Grunde erholt er sich tagsüber von den langen, sich ständig wiederholenden Nächten in der Milchbar. Bereitet sich auf die nächsten Schichten vor. 
Und das noch weitere sieben Jahre. Bis zur Rente. Wichtige Jahre, in denen er nicht nur für sich sorgt. Denn daheim, in Benin, hat Akko noch seine echte Familie. Seine Mutter, eine Schwester, eine Tochter, Verwandte, denen er regelmäßig Geld schickt und die er jeden November besucht, wenn München herbsttrüb am ungemütlichsten ist. Aber davon bekäme Akko eh nicht viel mit, in einem Leben, das nachts in der Milchbar abläuft und tags überwiegend in seinen vier Wänden. Und dennoch muss man ihn sich als glücklichen und dankbaren Menschen vorstellen. Jeden Tag und jede Nacht aufs Neue.

Eine Version dieses Artikels erschien in der 20. Ausgabe von „Mucbook“ im Juni 2023.

Donnerstag, 16. März 2023

Traumtagebuch (10)

Ich muss mit einer Schauspielerin eine Sexszene üben. Wir liegen in einem Bett, sie ist nackt, ich bin angezogen. Sie sitzt auf mir. Die Probe ist recht hitzig. Plötzlich betritt Elyas M'Barek, der sich nebenan offenbar langweilte, das Zimmer, sieht uns nicht zu, läuft aber im Raum herum. (Gestern lief sein Werbespot für Württembergische Versicherungsgruppe in der Pro-Sieben-Mediathek ständig.) Ich bitte ihn, wieder zu gehen, da er zu raumausfüllend wäre und ich mich dann nicht konzentrieren könnte. Er ist total geschmeichelt und will genauer wissen, was ich mit ausfüllend meine. Ich lüge irgendetwas, er geht und wir proben weiter.
Danach wollen die Schauspielerin und ich zu einer Haltestelle oder zu einem Bahnhof. Sie muss noch aufs Klo und ruft mir irgendetwas zu. Ich setze mich in eine Ecke und warte. Plötzlich kommt sie aus der Toilette, beachtet mich nicht und rast los. Jetzt fällt mir ein, was sie mir zugerufen hat: Ich solle vorausgehen.
Sie ist wahnsinnig schnell, ich kann sie gerade noch aus der Ferne beobachten. Um sie einzuholen, hebe ich ab und fliege über die Straße, Autoverkehr und Fußgänger, in der Stadt. (Flugträume habe ich immer wieder, früher, vor einigen Jahrzehnten, sogar jede Nacht.Beim Fliegen liege ich waagrecht in der Luft und schwebe, das heißt, ich komme voran, ohne Atme oder Beine zu bewegen, das aber nach Belieben schnell. Beim Fliegen stellt sich auch immer ein schönes, beruhigendes, entspanntes Gefühl ein.) So hole ich die Schauspielerin auf dem Weg ein, überfliege sie und lande vor ihr auf dem Bürgersteig.

Sonntag, 7. Oktober 2018

Berliner Jahre: Nabelschau mit Catherine Flemming

Woche für Woche lag Mitte bis Ende der neunziger Jahre dem Berliner „Tagesspiegel“ das Kultursupplement „Ticket“ bei. Anfangs eine veritable Stadtzeitung, die auch eigenständig verkauft wurde, später dann nur noch ein recht reduziertes Programm-Magazin. Und wie viele Veranstaltungsbeilagen litt auch „Ticket“ unter den Sommerpausen der Theater und vieler anderer Veranstaltungsstätten. Um das Heft nicht allzusehr ausdünnen, kreierten wir 1997 daher die Sonderseite „Sommerloch“ mit Rubriken wie „Strandgeflüster“, „Absolut sonnenfrei“ oder „Zum Abhängen“.
Besonders stolz waren wir aber auf unsere Rubrik „Nabelschau“, in der wir den Bauchnabel mehr oder weniger bekannter Kulturgrößen wie Christoph Azone, Verona Feldbusch, Thomas Platt, Sharon Brauner oder Hilary Swank porträtierten und um ein Kurzinterview ergänzten. In Heft 33/1997 vom 14. August 1997 kam diese Ehre der gebürtigen Ostberlinerin Catherine Flemming zuteil, die in Dana Vávrovás Regiedebüt „Hunger – Sehnsucht nach Liebe“ eine bulimiekranke Managerin spielte.

Ticket: Hast du während der Dreharbeiten tatsächlich Unmengen verschlungen und wieder erbrochen. Oder hast du nur so getan?

Catherine Flemming: Alles ist echt, ich kotze live. Nur bei der Szene, wo ich mich damit einreibe, ist es Babyfood, sonst wäre es für den Dreh unerträglich gewesen. Ich habe das zweieinhalb Monate gelebt, unter ärztlicher Aufsicht. Ich wäre im falschen Beruf, wenn ich das einfach nur spielen würde.

Was ist das für ein Gefühl, Heißhungeranfälle zu haben und sich dann zu übergeben?

Du frißt Unmengen von Sachen in dich rein und bringst sie im selben Moment wieder raus. Danach bist du wie gereinigt, total relaxt. Es ist wie eine Droge, von der du nur psychisch abhängig bist.

Verdirbst du nicht mit deinen Kotzszenen den Zuschauern den Appetit?
In der Pressevorführung saß ein Mann, der immer die Augen schloß. Das war für mich ein Zeichen, daß er Probleme hat. Man kann Ekel empfinden, Abscheu, aber warum sich abgrenzen, sich nicht damit auseinandersetzen? Da frage ich mich schon, wovor er noch seine Augen verschließt?

Kannst du dich so einfach übergeben?

Das ist Training. Finger in den Hals und es geht. Wenn du es öfters machst, dann gibt's Halzschmerzen. Aber es war mir sehr viel wert, es glaubwürdig zu machen. Selbst wenn ich in die Toilette kotze, und du siehst nur mein Gesicht, habe ich es wirklich gemacht. Nur so spürt man die Anspannung, sieht es in den Augen.

Wie war es für dich, zum ersten Mal mit einer Frau als Regisseurin zu arbeiten?

Ganz anders, das liegt aber auch daran, daß Dana Vávrová selber Schauspielerin ist. Sie hat einiges aus mir rausgeholt.

Montag, 3. März 2008

Wahlbingo

Große Ratlosigkeit heute morgen beim Stimmenauszählen oder vielmehr davor. Da die Kiddies der Grundschule an der Türkenstraße heute wieder Wie- und Tunwörter büffeln dürfen, mußten wir alle Abstimmungsräume sprich: Klassenzimmer gestern abend räumen und die Urnen in der Turnhalle deponieren. Nur mit den paar Stühlen und Tischen dort war kein Auszählen möglich, also bye-bye Ihr Wahlbunnies aus den anderen Stimmkreisen und zurück mit meinem Wahlvorstand in einen flugs aufgetriebenen Gruppenraum.

Das Auszählen kumulierter, panaschierter oder ungültiger Stimmzahlen ist in etwa so aufregend wie ein Bingoabend unter komatösen Rentnern, andererseits war es schon erschreckend, mal nicht nur zu erleben, sondern teilzuhaben an diesem Vorgang, der sich Demokratie nennt. Gestern hat sich schon eine Wählerin empört, wieso man mit radierbaren Buntstiften abstimmen müsse. Ihr Wunsch nach einem Kugelschreiber wurde aber abgelehnt, da sonst das Wahlgeheimnis nicht gewährleistet gewesen wäre. Klar, wenn sie als einzige mit Kuli abstimmt.

Aber dann heute morgen zu erleben wie so eine Auszählung läuft, bei aller Liebe und dem wirklich vorbildlichen Engagement aller Beteiligten, ich möchte nicht wissen wie hoch die Fehlerquote wäre, wenn man alle Stimmen ein zweites Mal nachzählen würde. Denn während die OB-Wahl doppelt gecheckt wird, verlor sich heute bei den weit unübersichtlicheren Stadtratsstimmen jeder von uns allein in einem Stapel Stimmzettel.

Aber das sind wohl Luxusprobleme. Weit schockierender finde ich, daß wir in einer Welt leben, wo die Toiletten an einer Volksschule abgesperrt bleiben müssen, und man – zurecht – als Wahlhelfer nur die Personaltoilette des Hausmeister benutzen kann, weil die kleinen Kiddies traumatisiert werden würden, müßten sie einen Erwachsenen auf der Toilette treffen. Es ist schon eine Scheißwelt...