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Freitag, 5. November 2010

Popa pöbelt (2)

Das Internet vergisst nicht. Und während es sich früher versendet hätte, dass Nachrichtensprecherin Christiane Gerboth mitten in der Sendung ihren Stiftzahn verlor, sorgte eine Zuschauerin dafür, dass der Mitschnitt des dentalen Worst Case auf YouTube selbst vier Jahre später einen rätseln lässt, wie die Veränderung der Kauleisten und die des Body-Mass-Index in Relation stehen.
Doch das Web hat nicht nur das unerbittliche Gedächtnis eines böswilligen Pförtners, es ist auch genauso indiskret. Giovanni di Lorenzo kommt einem nicht mehr nur persönlich klein vor, an der entlarvenden Begegnung mit dem Tee trinkenden Nicht-Riesen im RL (Real Life) nimmt nun via Twitter die ganze Welt teil.
Und während früher in den Redaktionen und Agenturen jeder still vor sich hin während der Arbeitszeit mit den Freunden chatten, witzige Videos gucken, schicke Hotels recherchieren und Shopping-Reisen buchen konnte, kriegen es jetzt alle mit, was man so faved und liked.
Selbst das finale Dislike, die innere Kündigung, erfährt man längst nicht mehr vertraulich via Flurfunk, sondern fett und öffentlich im Xing-Profile unter „Ich suche“: Wer da alles trotz gemütlichen, ungekündigten Anstellungsverhältnisses unverschämt offen um neue Herausforderungen heischt, besitzt entweder viel Chuzpe oder die Gewissheit, dass auf den Chefetagen der Rechner immer noch reine Deko ist und selbst Mails weiterhin vom Chefsekretariat ausgedruckt und in die Vorlagenmappe gepackt werden. Dabei erfährt man aus Statusmeldungen inzwischen mehr als aus den einschlägigen Branchendiensten. Boris Hächler sucht neue Mitarbeiter, Eve Maren Büchner hat ein neues Start-up: Xing brachte es als erstes, obwohl das People-Portal immer noch eher den Charme der Ärmelschoner vom Arbeitsamt ausstrahlt, denn hippe Medienkompetenz.
Entsprechend klingen viele Einträge dort eher wie das einsame, höchstens selbstbefriedigende Quäken im Wald, während man sich auf den Flirtwiesen von Facebook und Twitter gern gemeinschaftlich verlustiert. BR-Late-Moderator Richard Gutjahr hat so nicht nur neue Kanäle eröffnet, um sich bei Chefredakteur Sigmund Gottlieb einzuschmeicheln, sondern kann jetzt auch jene Menschen anvisieren, die nicht um Mitternacht bayerische Regionalnachrichten gucken, also nahezu jeder von uns. Gutjahrs Social-Media-Hobby führte kurioserweise dazu, dass der juvenile Beau für die „Abendzeitung“ old-media-mäßig eine Printkolumne schreiben darf, wofür er sich prompt bedankte, indem er lautstark allen Zeitungen nur noch wenige Jahre zu leben prophezeite. Sind ja auch keine BR-Granden, der Rundfunk-Benjamin muß ihnen also nicht schöntun.
Beate Wedekind kann dagegen offenbar mit jedem gut und sich entsprechend vor Freunden kaum retten, 3479, nein, 3480 waren es bei Facebook, als ich diese Zeilen schrieb, und ich habe das Gefühl, dass der Andrang sich exponential vergrößert hat, seitdem es sich herumspricht, dass Wedekind an ihrer im Sommer 2011 erscheinenden Autobiografie sitzt.
An Freunden dürfte es dagegen Gustav Jandek eher mangeln. Nicht weil er bei schnellem Vorbeiblicken optische Gemeinsamkeiten mit einem von Luc Bessons Mangalores zu haben scheint, sondern weil der frühere „BILD“-Mann eine so eindringliche Art besitzt, Strippen zu ziehen, dass sich mancher lieber einen abgeschnittenen Pferdekopf im Bett wünscht als einen Anruf des Beraters und Klatschreporters.
Aber wer braucht schon Freunde, wenn er einen Feind wie das deutsche Finanzamt hat. Erst, so klatschte die Journaille*, waren es nur Steuerschulden, dann eine Anklage wegen Beleidigung seiner Sachbearbeiter. Inzwischen hat Jandeks Kampf mit dem „Fiskal-Terror“ episches Ausmaß, und da die Sender seine Idee von einer Fernsehserie zu dem Thema ablehnten („will keiner sehen“), hat der 57-Jährige seinen eigenen Kanal gefunden: das Internet. Sein Steuer-Wahnsinn.de strahlt zwar den unbeholfenen Charme einer digitalen „Bäckerblume“ aus, aber wenn selbst dieser Digital Naïve im binären Leben angekommen ist, ist das Internet in der bürgerlichen Mitte endgültig angekommen.

Diese Kolumne erschien zuerst im „Clap-Magazin“ #30 Oktober/November 2010
*Ich vermeide den von Goebbels mißbrauchten Ausdruck „Journaille“ sonst, aber die „Clap“-Redaktion hat ihn mir in die Kolumne hineinredigiert. Sorry.