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Donnerstag, 21. Mai 2020

Horror Picture Show: „Oliver Twist“ (1982) mit George C. Scott und Tim Curry

Ein Mädchen, blond und zart, kämpft sich voran, durch Sturm und Regen. Mit letzter Kraft erreicht die Hochschwangere ein düsteres Anwesen, das Armenhaus einer kleinen, englischen Gemeinde, wo sie ihrem Sohn das Leben schenkt und stirbt. Ein Gentleman ist geboren, Oliver Twist hat das Licht einer Welt erblickt, die ihm trotz schrecklicher asozialer Verhältnisse nichts anhaben können wird.
 Pünktlich zu Weihnachten kommt die x-te Verfilmung von Charles Dickens' Klassiker in die Kinos, „Oliver Twist“, nicht mehr singend oder in Schwarz-weiß, sondern als opulentes Farbspektakel mit drei aufregenden Schauspielern in den bösen Rollen: Altmime George C. Scott, Frank'nfurter Tim Curry und die „Excalibur“-Schönheit Cherie Lunghi verkörpern das Milieu der korrupten und korrumpierenden Existenz.
An diese drei gerät das Waisenkind Oliver, vor Armenhaus und Kinderarbeit flüchtend, auf dem Weg in die Hauptstadt. Doch in diesem London des angehenden 19. Jahrhunderts, im Pfuhl der Armut und des Verbrechens bleibt der Kleine rein und fein, nicht umsonst ist er von besserem Blut. Nach einer aufregenden Odyssee wird Oliver als Sohn und Erbe eines edlen Herrn anerkannt.
Diese deterministische Vorstellung von der Vererbbarkeit der Klassenunterschiede schwächt die Sozialkritik des Werkes bedenklich ab. Erträglich und wohl auch ertragreich bleibt dieser Familienfilm dennoch, nicht zuletzt dank der Schauspieler und Dekors, die der altbekannten Geschichte immer neue Höhepunkte verschaffen.

Diese Filmkritik erschien in der „Münchner Stadt-Zeitung“, Ausgabe 12/1982.

Sonntag, 7. Oktober 2018

Berliner Jahre: Nabelschau mit Catherine Flemming

Woche für Woche lag Mitte bis Ende der neunziger Jahre dem Berliner „Tagesspiegel“ das Kultursupplement „Ticket“ bei. Anfangs eine veritable Stadtzeitung, die auch eigenständig verkauft wurde, später dann nur noch ein recht reduziertes Programm-Magazin. Und wie viele Veranstaltungsbeilagen litt auch „Ticket“ unter den Sommerpausen der Theater und vieler anderer Veranstaltungsstätten. Um das Heft nicht allzusehr ausdünnen, kreierten wir 1997 daher die Sonderseite „Sommerloch“ mit Rubriken wie „Strandgeflüster“, „Absolut sonnenfrei“ oder „Zum Abhängen“.
Besonders stolz waren wir aber auf unsere Rubrik „Nabelschau“, in der wir den Bauchnabel mehr oder weniger bekannter Kulturgrößen wie Christoph Azone, Verona Feldbusch, Thomas Platt, Sharon Brauner oder Hilary Swank porträtierten und um ein Kurzinterview ergänzten. In Heft 33/1997 vom 14. August 1997 kam diese Ehre der gebürtigen Ostberlinerin Catherine Flemming zuteil, die in Dana Vávrovás Regiedebüt „Hunger – Sehnsucht nach Liebe“ eine bulimiekranke Managerin spielte.

Ticket: Hast du während der Dreharbeiten tatsächlich Unmengen verschlungen und wieder erbrochen. Oder hast du nur so getan?

Catherine Flemming: Alles ist echt, ich kotze live. Nur bei der Szene, wo ich mich damit einreibe, ist es Babyfood, sonst wäre es für den Dreh unerträglich gewesen. Ich habe das zweieinhalb Monate gelebt, unter ärztlicher Aufsicht. Ich wäre im falschen Beruf, wenn ich das einfach nur spielen würde.

Was ist das für ein Gefühl, Heißhungeranfälle zu haben und sich dann zu übergeben?

Du frißt Unmengen von Sachen in dich rein und bringst sie im selben Moment wieder raus. Danach bist du wie gereinigt, total relaxt. Es ist wie eine Droge, von der du nur psychisch abhängig bist.

Verdirbst du nicht mit deinen Kotzszenen den Zuschauern den Appetit?
In der Pressevorführung saß ein Mann, der immer die Augen schloß. Das war für mich ein Zeichen, daß er Probleme hat. Man kann Ekel empfinden, Abscheu, aber warum sich abgrenzen, sich nicht damit auseinandersetzen? Da frage ich mich schon, wovor er noch seine Augen verschließt?

Kannst du dich so einfach übergeben?

Das ist Training. Finger in den Hals und es geht. Wenn du es öfters machst, dann gibt's Halzschmerzen. Aber es war mir sehr viel wert, es glaubwürdig zu machen. Selbst wenn ich in die Toilette kotze, und du siehst nur mein Gesicht, habe ich es wirklich gemacht. Nur so spürt man die Anspannung, sieht es in den Augen.

Wie war es für dich, zum ersten Mal mit einer Frau als Regisseurin zu arbeiten?

Ganz anders, das liegt aber auch daran, daß Dana Vávrová selber Schauspielerin ist. Sie hat einiges aus mir rausgeholt.

Samstag, 6. Oktober 2018

Gewürge: Dana Vávrovás Regiedebüt „Hunger – Sehnsucht nach Liebe“

Karriere für das Ego, Jogging für den Körper und Schlingen für die Sehnsucht. Wohlgemerkt: Schlingen und nicht etwa Schlemmen, Essen oder Fressen. Wenn Supergirl Laura (Catherine Flemming) Kummer oder Heißhunger überkommt, dann würgt sie Bonbons, Würstchen, Mayonnaise, Torten und noch mehr in sich hinein und erbricht es umgehend wieder. Ein Leben zum Kotzen, das Leben einer Karrierefrau – Bulimie.
Die Schauspielerin Dana Vávrová hat sich für ihr Regiedebüt ein ernstes Thema ausgesucht, es gut gemeint und schlecht gemacht. Wenn jaulende Rockmusik und schräge Inneneinrichtung Wahnsinn ausdrücken, fühlt man sich an frühe „Derrick“-Folgen erinnert. Andere Stilmittel wie das gleißende Monsterlicht aus dem Kühlschrank und die Traumsequenzen mit römischen Tempelbädern sind Peinlichkeiten von ganz eigener Qualität.
Hinter viel Bilderwirrwarr und Gehampel versteckt sich ein oberflächliches Nichts an dramaturgischer Entwicklung – und selbst das steht eher als Behauptung im Raum, als daß man es den Darstellern abnähme: Zum Schluß schafft es das Supergirl, die Bulimie vor den Augen des zurückgewonnenen Freundes Simon (Kai Wiesinger) auszukosten, und er hält es aus, diese Krankheit wahrzunehmen.
Der Weg dahin ist ein Leidensweg für den Zuschauer, dem Lebenssprengel vorgesetzt werden, Kindheitserinnerungen, Arbeitssituationen, Urlaubsimpressionen, die sich keinen Moment lang zu einem argumentativen Fluß oder ausdrucksstarken Entwurf zusammenfügen, sondern Realität als einen Zustand abbilden, in dem ein Schauspieler namens Kai Wiesinger mit der mimischen Vielfalt eines Lichtdoubles ein männliches Etwas verkörpert, das zugleich als jugendlicher Graffitikünstler und arrivierter Juwelier sein Geld verdient. Das ist kein Fall von Persönlichkeitsspaltung mehr, sondern schlicht Unsinn.
Die Magie des Faktischen, die Faszination eines Schicksals wahrt allein Catherine Flemming, die mit Inbrunst bis zur Selbstverleugnung spielt oder vielmehr den Hunger, die Sehnsucht, das Leiden verkörpert, die Krankheit lebt und es selbst in den unappetitlichsten Szenen schafft, dem Zuschauer die Gefühle und Leidenschaft beim Schlingen, Würgen, Kotzen zu vergegenwärtigen. Die Krankheit Bulimie, die sonst im emotionalen Intimbereich verborgen bleibt, wird hier zu einer sinnlichen Erfahrung, zu einem Spiel mit der Lust, bei dem Schweiß, Tränen, Gallensaft und das Erbrochene Körpersäfte wie andere auch sind.
Für diese Szenen hat Dana Vávrovás Kraft und Phantasie gereicht, aber leider auch nur für diese Solitäre, deren Wert die drumherum geschlampte Inszenierung gewaltig schmälert.

Update: Kurzinterview mit Catherine Flemming zu ihrer Rolle in „Hunger“.


Diese Filmkritik erschien am 4. September 1997 in „Ticket“, dem Supplement des Berliner „Tagesspiegel“, Ausgabe 36/1997.

Sonntag, 9. September 2018

Wenn Engel morden: „God's Army“

Wenn Engel morden, wird selbst der Himmel auf Erden zum Inferno. Gregory Widens brillanter Thriller vom erbitterten Kampf unter den himmlischen Heerscharen bildet den Höhepunkt der Retrospektive, mit der sich das Fantasy Filmfest zum Jubiläum selber feiert. Zumal es das souverän mit den Genres spielende Meisterwerk bei uns nur bis in die Videotheken geschafft hat. Dabei muß man Dialogwitz, Phantasiereichtum und die Schauspieler dieses teuflich guten Mordfalls auf der großen Leinwand erlebt haben.

Diese Kurzkritik erschien im Rahmen meiner Titelgeschichte über das Fantasy Filmfest in „Ticket“, dem Supplement des Berliner „Tagesspiegel“, Ausgabe 32/1996.

Mittwoch, 1. August 2018

Artur „Atze“ Brauner – Wenn der Filmmogul zum kleinen Jungen wird (1997)

Das Mikrofon klebt an seinen Lippen, der Ton dröhnt übersteuert. Trotzdem glimmt im Probenraum Magie auf, bei den jiddischen, russischen und rumänischen Weisen. Wenn jede Note schöne und schmerzvolle Erinnerungen eines Lebens widerspiegelt, dann besitzt der Mann auf der Bühne plötzlich die Verletzlichkeit, Naivität und Anmut eines kleinen Jungen. Artur Brauner ist 78 – und steht vor seinem Debüt als Sänger.
Statt Filmproduzent wäre er gerne Schauspieler oder Sänger geworden. Doch von dem musikalischen Berufswunsch blieb nicht mehr als eine äußerst ertragreiche und ebenso banale Liste von ihm hergestellter Trallala-Filme sowie ein weißer Flügel im operettenhaft ausstaffierten Grunewalder Wohnzimmer.
Weit über 200 Kinofilme hat der dem Holocaust entkommene Selfmademan in den letzten fünfzig Jahren produziert. Wirtschaftlich erfolgreich, mit Kußmund und tiefbraunem Plüschblick gesellschaftlich präsent, kristallisierte sich erst mit dem Niedergang von Papas Kino ein anderer Artur Brauner heraus. Ein Artur Brauner, der seit 1947 Film um Film über die Opfer der Nazizeit ermöglicht, der als einer der ersten nach dem Krieg die Zusammenarbeit mit dem Osten sucht, mit Polen, Ungarn und Tschechen.
Dann, in einer Hotelbar, traf Artur Brauner eine Schlagersängerin, Susan Schubert, die sich als Siebenbürgerin entpuppte. Woraufhin ihr Brauner spontan ein Ständchen auf rumänisch vorsang. Er, der sonst höchstens mit seiner Nichte Sharon auf Familienfeiern singt, wird wohl etwas wiedergefunden haben, die Erinnerung an ein Europa vor dem Krieg, an Lebensfreude und ein selbstverständliches Miteinander, das man heute multikulturell nennen würde.
Hej, hej, hej. Die Virtuosen der russischen Band Rasputin unterstützen Artur Brauner, Sharon Brauner und Susan Schubert nicht nur mit Klavier, Akkordeon, Balaleika und Glöckchen, sondern feuern das Trio auch so an, wie es heute abend das Publikum in der Bar jeder Vernunft hoffentlich machen wird. Immer noch wird an der Liederfolge gefeilt. Sharon, die als feste Programmgröße des Spiegelzelts ihr Publikum kennt, würde den Zuschauern zur Auflockerung gern einen Begrüßungswodka aufdrängen. Artur kommt auch so in Wallung und fühlt sich beim Proben mit zwei schönen Frauen sichtlich wohl, bis ihn seine Nichte ermahnt: „Vergiß nicht, Deine Frau sitzt im Publikum.“ Um 20.30 Uhr geht's los. 

Dieser Text erschien anläßlich von Atze Brauners Debüt als Chanson-Sänger in der Berliner Bar jeder Vernunft zuerst in der „Berliner Morgenpost“ vom 16. Juni 1997.

Donnerstag, 4. Mai 2017

R.I.P. Sônia Bogner

Sonst druckten wir im „nachgefragt“ der „Shape“-Redaktion neben dem Selbstporträt und einem aktuellen Bild auch immer ein Kinderfoto ab. Als Sônia Bogner in der Ausgabe vom Juni 2004 bei unserer Rubrik mitmachte, konnte (oder wollte) sie keines zur Verfügung stellen. Brasilien lag doch zu weit zurück...

Sonntag, 28. August 2016

Das kleine schwarze Wunder – Klaus Füreders Arabella Buchhandlung

Für die August-Ausgabe des Branchenmagazins „BuchMarkt“ habe ich auf drei Seiten die Arabella Buchhandlung unter ihrem neuen Besitzer Klaus Füreder porträtiert. Hier die unredigierte Manuskript-Fassung meines Artikels.

Manchmal sucht man eine neue Herausforderung. Manchmal findet sie einen. Letztes Jahr war Klaus Füreder aus Berlin in seine Münchner Heimat zurückgekehrt, weil seine Frau Katharina Ilgen vom Ullstein Verlag als Presseleiterin zu Droemer Knaur wechselte. Sie war es auch, die ihn auf eine Branchenanzeige hinwies: „Eingeführte Buchhandlung in Münchner Innenstadtlage zu verkaufen.“
Innenstadtlage ist nun eher mutig formuliert, denn hinter der Chiffreanzeige verbarg sich die vor über dreißig Jahren gegründete Arabella Buchhandlung außerhalb des Mittleren Rings im Münchner Osten. Annonciert hatte ein Berater, aber nach der ersten Kontaktaufnahme stellte sich schnell heraus, dass Füreder nicht nur persönlich bereits im Laden gewesen war, sondern sogar mit zwei der wechselnden Inhabern eine gemeinsame Geschichte hatte. „Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, Buchhändler zu werden. Aber je mehr ich mich mit dem Gedanken beschäftigte, desto mehr Gefallen fand ich daran und jetzt fühle ich mich sehr gut damit.“
Füreder, bis 2010 Geschäftsführer Marketing und Vertrieb bei Ullstein, kennt man gemeinhin als Meister der Zahlen und Paragraphen, als Spezialisten für Marketing & Vertrieb sowie Rechte & Lizenzen. Sein Studium der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität finanzierte er aber, indem er im Sortiment, bei Hugendubel arbeitete. Unter den Kollegen damals: Isabell Sollberger, die später zeitweise auch mal die Arabella Buchhandlung betrieb und über die er dann auch schon den Laden kennengelernt hatte. Sowie Hans-Jürgen Tröger, dem inzwischen seit 2005 die Arabella-Buchhandlung gehörte und der aus persönlichen Gründen die Chiffre-Anzeige aufgegeben hatte. „Es ist halt doch eine kleine Welt“, so Füreder.
Der Arabellapark wird aber von vielen Münchnern als ganz eigener Planet für sich empfunden. Das in den achtziger Jahren entstandene Neubaugebiet zwischen dem namengebenden Arabella-Hochhaus und dem Klinikum Bogenhausen ist auf den ersten Blick ein ganz eigener Mikrokosmos mit 10.000 Einwohnern und weiteren 18.000, die dort etwa beim Burda-Verlag, der HypoVereinsbank oder BayWa arbeiten. Mit zwei Kinosälen, der Volkshochschule, Stadtteilbibliothek, U-Bahnstation, mehreren Hotels, einem Gymnasium, zahlreichen Kindergärten, vielen Restaurants und Geschäften ist der Arabellapark aber auch ein pulsierender Knotenpunkt, dessen Attraktivität über Bogenhausen hinaus weit in die anderen Stadtteile und Münchner Vororte rechts der Isar wirkt. „Das Geheimnis des Erfolgs liegt in der Kompetenz meiner Mitarbeiterinnen und in unserem Einzugsgebiet. Wenn sich nichts Gravierendes an den Rahmenbedingungen unserer Branche ändert, werde ich viele Jahre Spaß haben“, freut sich Füreder.
Die Buchhandlung war bereits vor dem Inhaberwechsel profitabel, aber sie war als eines der ältesten Geschäfte am Rosenkavalierplatz auch in die Jahre gekommen. Wechselnde Besitzer und Firmierungen, mal Arabella Buchhandlung, mal Arabella Bücher, hatten das Profil nicht unbedingt geschärft. „Nach 15 Jahren haben wir den alten Schriftzug wieder zum Leuchten gebracht!“, freut sich Klaus Füreder und meint im Grunde nicht nur die Außenreklame.
Zum 1. April 2016 hat er die Buchhandlung übernommen. Oder vielmehr ist der Verlag Eder & Bach der Käufer, den Füreder 2014 in Berlin mit dem Literaturagenten Felix Grisebach als Belletristikverlag gegründet hatte. Inzwischen gehört die GmbH Füreder allein und konzentriert sich von München aus auf Sondereditionen wie die ZEIT-Bibliothek der verschwundenen Bücher. Die natürlich auf der überdachten Außenfläche vor dem Laden auf einem Sondertisch präsentiert wird. Hundert Prozent Rabatt für den Buchhändler sind auch mal schön.
Ende Mai wurde der 156 qm große Laden bereits radikal umgebaut. Schluß mit dem pflegeleichten wie unaufregenden Kirschholzimitat und Laminat. Mit Hilfe des Ladenbauers Matthias Franz und von Maier Shop Design, Heborn, schuf man für einen mittleren fünfstelligen Betrag ein kleines schwarzes Wunder: Eine anthrazitfarbene Lesehöhle, die dank geschickt gesetztem Licht eben doch nicht düster, sondern gemütlich-elegant wirkt, zugleich sehr clean wie übersichtlich ist und den Kunden erst im Teppichboden und dann in Literatur versinken läßt.
„Ich habe lange mit mir gehadert“, gibt Füreder zu, sich dann aber eben doch für den Teppichboden entschieden, der in der Anschaffung wie in der Pflege mehr Aufwand bedeutet, aber eben fürs Auge wie auch mit jedem Schritt Kontemplation schafft.
Den einladend gemütlichen Mittelpunkt des Ladens bildet eine Couch, die Füreder während eines nächtlichen Spaziergangs im Schaufenster eines Antiquitätenladens am Viktualienmarkt entdeckte und jetzt nicht nur als Inneneinrichtung, sondern auch als key visual nutzt. Sie war 3.500 Euro teuer, sorgt aber für einen unbezahlbaren Ruhepol im Geschäft. Und eine Sitzgelegenheit für die oft betagtere Klientel.
„Wir sind eine Boulevardbuchhandlung für eine Art ZDF-Publikum. Unsere Kunden sind älter, gut situiert, eher konservativ und anspruchsvoll.“ Und zu sechzig Prozent Stammkunden, weshalb Füreder vor seiner Kaufentscheidung das Gespräch mit den Mitarbeiterinnen suchte, um sicher zu stellen, dass sie auch nach einem Inhaberwechsel da bleiben. Zwei Vollzeit- und eine Teilzeitangestellte arbeiten für ihn: Christin Schütze und Alexandra Bönisch sind in dieser Buchhandlung bereits ausgebildet worden und betreuen nun seit über zehn Jahre die Kunden. Hanne Hornik hat bei Hugendubel am Marienplatz gelernt, dann als Mutter eine Auszeit genommen und ist nun auch bereits über sechs Jahre in der Arabella Buchhandlung dabei.
Gemeinsam mit dem Inhaber kuratieren die Angestellten auch „Arabella’s All-Time-Favorites“, einen Sondertisch zwischen Couch und Kasse, der ausschließlich mit Backlist bestückt wird und gut angenommen wird: Fünf bis sieben Bücher werden täglich darüber verkauft, wie auch sonst die Zahlen vielversprechend sind: Im Juni erzielte die Buchhandlung gegenüber dem Vorjahr 15 Prozent mehr Umsatz. Bei der Lagerware sogar ein Plus von 23 Prozent. Und der bei Libri angedockte und von einer neuen freien Mitarbeiterin betreute Onlineversand bewegt sich zwar auf einem niedrigen Niveau, wuchs aber dafür im Juni sogar um 80 Prozent. So hofft Füreder seine Investition in zwei, bis drei Jahren wieder hereingeholt zu haben.
Es wurde aber nicht nur an der Einrichtung gearbeitet. Beim 4000 Titel starken Sortiment konzentriert man sich jetzt mehr auf die Kernkompetenz: die Abteilungen für Kinderbücher, Spannung, Belletristik und Reise hat man ausgebaut. Für die zahlreichen Hotelgäste und Medizintouristen in der Nachbarschaft gibt es Englischsprachiges. Dagegen trennte man sich von den Musik-CDs und DVDs zugunsten der Hörbücher. Verlagsvertreter werden empfangen, aber aufgrund eines Rahmenabkommens wird das meiste über Libri bestellt.
Bei den Nonbooks dienen jetzt sieben Kartenständer vor dem Laden als Frequenzbringer. Innen wurde die Papeterie um zwei Meter erweitert. Die kunterbunte, von einem Rackjobber betreute Auswahl setzt nicht nur einen markanten Farbakzent, sondern bringt auch Neukunden. Wie für den ganzen Laden gilt auch hier: Das gab’s auch früher, macht jetzt aber mehr her!
Im Untergeschoß schlummern noch weitere 100 qm Ladenfläche, die einst über eine Wendeltreppe erreichbar waren und zur Buchhandlung gehörten. Der Bereich wurde aber bereits vor Jahren vom Laden abgetrennt und dient auch nach dem Umbau weiterhin nur als Lager und Aufenthaltsraum. „Heutzutage würde kein Kunde mehr hinabsteigen“, ist Füreder überzeugt.
Dafür sucht er aber verstärkt den Kontakt zu den Kunden hoch oben in den Konzernzentralen der Nachbarschaft. Mit ihnen soll das Rechnungsgeschäft ausgebaut werden. An die BayWa hat er so gleich schon mal 350 Ancelottis verkauft. Die Konzernzentrale ist zwar noch im Umbau und verwaist, aber Füreder war mit einem BayWa-Vorstand auf der Schule. Es ist eben eine kleine Welt und man kennt sich.
Wer nicht als Großabnehmer in Frage kommt, eignet sich vielleicht für Kooperationen: Füreder denkt über eine gemeinsame Kundenkarte der Lokale und Läden am Rosenkavalierplatz nach. Mit einer sehr gut besuchten Lesung des Bestsellerautors (und alten Bekannten aus SZ-Tagen) Jan Weiler hat sich die Buchhandlung bereits als Besuchermagnet im Viertel bewährt. Weitere Buchpräsentationen, etwa mit Droemer-Knaur-Autor Andreas Föhr oder der Münchner Fotografin Sabina Tuscany („Pampa“ bei seltmann+söhne) sollen folgen. Und dann auch via Facebook präsentiert werden, um neue, jüngere Zielgruppen zu erschließen. Ebenso will die Buchhandlung ihre Werbung intensivieren. Einen Claim hat man schon: „lese.freude.schenken.“ Wem das bekannt vorkommt: Als Füreder von 2003 bis 2007 bei der Süddeutschen Zeitung die legendäre wie erfolgreiche SZ-Bibliothek mitkreierte und betreute, schuf er den Slogan „Lese.Freude.Sammeln“. Und wie es aussieht, könnte sein neuestes Projekt ebenso einschlagen.

Freitag, 27. Mai 2016

Im Taxi mit Regina Ziegler (1996)

Heute abend bekommt Regina Ziegler in Berlin beim Deutschen Filmpreis den Ehrenpreis 2016 verliehen für herausragende Verdienste um den deutschen Film. Eine Krönung ihrer Arbeit als Filmproduzentin, aber noch keineswegs das Ende. Vor zwanzig Jahren behauptete sie mir gegenüber beim Interview für „Ticket“, die wöchentliche Kulturbeilage des „Tagesspiegel“, sie könne sogar „gut“ ohne Arbeit leben. „Das glaubt mir nur keiner. Damit bin ich fast im Zugzwang, es zu beweisen.“ Aber eben nur fast.

TICKET: Sie haben gar keinen Ihrer schönen Hüte auf? 
REGINA ZIEGLER: Der Hut hat Ausgang. Schließlich war ich heute morgen beim Friseur. 
Extra für uns? 
Nein, dienstags ist immer mein Friseurtag im Kempi. 
Welchen Hut setzen Sie sich beim Produzieren auf? 
Ich mache Nischengeschichten. Es hat ja keinen Zweck, wenn ich jetzt auch „Lehrer Specht“ oder die „Schwarzwaldklinik“ produziere. Ich mache lieber so etwas wie die „Erotic Tales“, das hat eben kein anderer auf der Palette.
Wenn man sich die Regisseure anschaut, die Sie produziert haben: Peter Stein, Hans Neuenfels oder Andrzej Wajda, dann ist das eine sehr illustre Runde. Verkörpern diese Namen eine vergangene Ära?
Das hat nichts mit Zeiten oder Entwicklungen zu tun. Das Wichtigste ist, daß der Regisseur eine Vision hat. Ein Regisseur ohne Vision ist auch kein guter Regisseur. Einfach zu sagen, die Kamera steht da, und du gehst jetzt von links nach rechts, das ist Handwerk, das muß ein Regisseur sowieso beherrschen. Wichtig ist die eigene Handschrift. Wie Peter Stein bei den „Sommergästen“. Wir hatten da mit Michael Ballhaus an der Kamera wirklich tolle Einstellungen, die dazu geführt haben, daß der Film ein Klassiker geworden ist. Und ich bin auch sehr stolz, ihn produziert zu haben. Wenn möglich, möchte ich mit den Besten arbeiten.
Zählt für Sie auch Detlev Buck dazu, der bei Ihren „Erotic Tales“ neben Weltstars wie Nicolas Roeg oder Ken Russell Regie führte?
Ich habe mit verschiedenen deutschen Regisseuren gesprochen, und Buck hatte einfach eine gute Idee. Bei den neuen Folgen will ich Volker Schlöndorff dabei haben.
Haben Sie keine Probleme damit, daß Schlöndorff jetzt in Babelsberg das Sagen hat, nachdem Sie vergeblich versucht haben, die DEFA zu übernehmen?
Das war eine Herausforderung, von der ich nicht weiß, wie sie ausgegangen wäre. Aber Volker und ich sind jetzt bester Dinge. Ich gucke immer nach vorne.
Machen Sie eine Mischkalkulation auf: Diese Filme produziere ich um der Kunst willen und jene, um Geld zuverdienen?
Nehmen Sie die Kinderserie „Sprechstunde bei Dr. Frankenstein“, wo Unterhaltung eine große Rolle spielt und wir zugleich etwas Ungewöhnliches umgesetzt haben, ohne daß es viel Geld gekostet hat. Da hat die Phantasie zugeschlagen. Wenn ich sage, der Regisseur muß eine Vision haben, dann muß er auch Phantasie haben. Genauso der Produzent. Wenn ein Produzent glaubt, daß das Filmgeschäft mit einer Nagelfabrik zu vergleichen wäre, ist er einfach falsch gewickelt.
Gibt es bei Ihnen eine Verlagerung von der Kino- zur Fernsehproduktion? 
Das ist gerade wieder am Umkippen. Wir haben schöne Kinostoffe entwickelt, wie „Solo für Klarinette“, ein Psycho-Erotic-Thriller, wo eine Single-Frau unheimliche Geschichten erlebt. Und ich habe auf mehrere Bestseller eine Option: Etwa „Suche impotenten Mann fürs Leben“ oder „Männer sind wie Schokolade“. Komödien, von denen ich glaube, daß sie im Kino eine gute Chance haben. Man darf nicht den Fehler machen, zu sagen, jeder Stoff ist gut fürs Kino. Nur zu sagen: Ich mach Kinofilme, was leider einige Kollegen tun‚ das reicht nicht. Das sind dann Filme, die meistens gar nicht bis ins Kino kommen.
Wie kamen Sie zum Kino? 
Ich habe 1973 das Debüt von Wolf Gremm, meinem Mann, produziert. Damals war ich noch Produktionsassistentin beim SFB, und Wolf hat mich bestärkt, mich selbständig zu machen. Ich hatte ja keine große Perspektive beim SFB. Ich glaube, es gibt dort heute noch immer keine Frau in einer bedeutenden Position.
Sie haben gedroht, bis zum Jahr 2000 so weit zu sein, daß Sie nicht mehr arbeiten müssen. Könnten Sie denn ohne Arbeit leben?
Das war Spaß, aber es wäre toll, wenn mir das gelange. Nur sieht es damit schlecht aus. Ich kann gut ohne Arbeit leben. Das glaubt mir nur keiner. Damit bin ich fast im Zugzwang, es zu beweisen.

Montag, 11. Januar 2016

nachgefragt: Ildikó von Kürthy („Shape“ 2004)

Während meiner Zeit als fester Freier bei der „Cosmopolitan“ habe ich zwei Jahre lang auch bei „Shape“ mitgearbeitet und dort unter anderem einen Fragebogen entwickelt und betreut. Neben diversen Fragen gaben wir dem Promi jeweils auch noch die Möglichkeit, sich selbst zu zeichnen und uns einen Schnappschuß aus seiner Kindheit zu zeigen. Im Oktober 2004 war „nachgefragt“ Ildikó von Kürthy gewidmet, die sich als Weltmeister im Stubenhocken charakterisierte und als Geheimnis ihrer Figur Spaghetti, Schokolade, Chips aufzählte – „und davon viel“. „An meinen Körper mag ich meinen Magen. Da passt so viel rein.
Einem Motto wie „Was mich nicht umbringt, macht mich härter“ konnte sie nichts abgewinnen. Daß sie aber durchaus ihren inneren Schweinehund überwinden kann, bewies sie jetzt 2015 für ihr Buch „Neuland: Wie ich mich selber suchte und jemand ganz anderen fand“. Andere Outfits, blonde Haarfarbe, neue Figur: eine Rundumänderung. Sie war nicht wiederzuerkennen. „Plötzlich winken dir Idioten zu“, verriet sie dem „Stern“„Ich sah besser aus, aber fühlte mich nicht besser“. Denn: „Das Leben war wie ein Sofa ohne Kissen. Ungemütlich. Ich habe Freude vermisst“, weshalb sie längst wieder die alte von Kürthy ist.

Dienstag, 24. November 2015

Berliner Jahre: Nabelschau mit Christoph Azone

„To explore strange new worlds, to seek out new life and new civilizations, to boldly go where no man has gone before“. Als wir beim Berliner „Tagesspiegel“ die wöchentliche Kulturbeilage „Ticket“ produzierten, haben wir gern unsere Grenzen ausgelotet. Sei es, dass wir den eigenen Herausgeber, Hellmuth Karasek, umgegrätscht haben, das Sommerloch zu einer saisonalen Rubrik erkoren oder 1997 Interviewpartner wie Hilary Swank darum baten, ihren Bauchnabel fotografieren zu dürfen. Für letztere Nabelschau-Serie mußte man nicht wirklich prominent sein. Lokale Bedeutung reichte, wie bei dem Radiomoderator und Gelegenheitsrapper Christoph Azone aka Mallorca Joe.


Mittwoch, 8. Juli 2015

Déja-vu (1997): Publikumsbeschimpfung mit flotten 140 Silben pro Minute

Heute vor zwanzig Jahren veröffentlichten die Nepper Schlepper Schlechte Rapper ihren Kultsong „Sommer in Berlin“. Ich schrieb in den Neunzigern u.a. für die „Berliner Morgenpost“ über Transen, Tattoos, Althippies, Sexsekten und was sonst noch im Feulleton stattfand, ohne dem klassischen Kulturbegriff zu entsprechen. So eben auch in der Ausgabe vom 25. Juli 1997 über Christophe Azone, Ingo Wohlfeil, Stefan Rupp und Mitri Sirin von den Neppern, deren Song sich in den seit der Veröffentlichung vergangenen zwei Jahren zumindest lokal zum veritablen Ohrwurm entwickelt hatte.

Sprühsahne, Fesselspiele, Publikumsbeschimpfung – wenn Funkmaster Confetti, Mallorca Joe, Der Sturm und Sugar Macho Nova einen Auftritt planen, spielen die kleinen geplanten Attentate zwischen den Gesangsnummern eine wichtigere Rolle als das Liedgut an und für sich. Gerade weil die vier Berliner in ihren bürgerlichen Jobs als Radio-Anarchisten bei Kiss FM, Energy und RTL nur mit dem Mund Blödsinn machen können, inszenieren sie bei ihren gemeinsamen Liveauftritten als Nepper Schlepper Schlechte Rapper ein Spektakel, bei dem nicht nur Plattenspieler zertrümmert werden, sondern auch die Illusion vom politisch engagierten oder populistisch unterhaltenden Rap.

Nepper Schlepper Schlechte Rapper nehmen nichts ernst, das aber in einem Tempo von 140 Silben per Minute. Und wenn ihnen ein Hardcore-HipHopper „Verrat an der Szene“ vorwirft, schmieden diese fantastischen Vier umeghend eine Nummer daraus. Daß bei dieser Schlagfertigkeit ihr musikalisches Werkverzeichnis mit zwanzig Titeln in zwei Jahren eher übersichtlich blieb, liegt denn auch nicht an kreativem Unvermögen, sondern am eitel ausgelebten Selbstverständnis, die faulste Band der Welt zu sein.

Einen Manager und einen Produzenten haben sie mit diesem Phlegma schon verheizt. Die Plattenfirma hält ihnen noch mißtrauisch die Treue, obwohl die Gruppe bislang nur eine Single veröffentlicht hat. Vom ungemein geschmeidigen „Sommer in Berlin“ wurden in Berlin sogar 4500 CDs verkauft, auswärts nur weitere 500. Da das nun bereits ein Jahr her ist, haben die Vier ihrer Plattenfirma den gleichen Song als neuerliche Single-Veröffentlichung angeboten.

Dabei gäbe es genug weiteres Material. Zwar verfügt nur der Sommerhit über melodiöse Eleganz (und zahlreiche Textvarianten von „Winter in Berlin“ bis „Dienstags um halb fünf in Berlin“), doch inhaltlich deckt das übrige Repertoire der Sexmaniacs alle gesellschaftlich relevanten Bereiche wie Politik („Helmut Kohl – Sexsymbol“) und Völkerverständigung („Türkische Mädchen, worauf stehen sie?“) ab.

Heute abend um 21 Uhr werden Nepper Schlepper Schlechte Rapper mit fraulicher Unterstützung von Dani „Der Mund“ Schulze das Publikum des Soon-E-MC-Konzerts im Pfefferberg am Prenzlauer Berg anheizen.

Sonntag, 3. Mai 2015

Lüül: „Sie war Tarzan. Ich war Jane“

Mit seiner neuen Single „West-Berlin“ meldet sich Lüül 2015 wieder einmal mit einem Solo-Projekt zurück. 1997 traf ich den Berliner Liedermacher für ein Porträt in der „Berliner Morgenpost“ vom 20. September.
Update: Im Dezember 2021 kürt der „tip Berlin“ Lüül zu einem der 100 peinlichsten Berliner (Platz 65): „17 Hippies waren Banjo-Derwisch Lutz Lüül Graf-Ulbrich auf dem Gipfel seiner Verwirrung nicht mehr genug: Eine ganze Partei für verstrahlte Demeter-Dullis musste her!“ Er hätte die Querdenker-Partei Die Basis nicht nur auf deren Wahlplakaten unterstützt, sondern auch mit einer Basis Band. 


Krautrock, Neue Deutsche Welle und Pop-Fraktion – die Genealogie der leichten vaterländischen Muse und was sie mit der Love Parade, dem neuen deutschen Dancechart-Wunder und sonstigen Luftblasen unserer Plastikwelt zu tun hat, sorgt in den Feuilletons mal wieder für schwelenden Streit. Feinsäuberlich werden Trasher und Teutonen, Hardcore-Kämpen und Kryptofaschisten registriert, etikettiert und auseinanderdividiert. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, und die Zuordnung, wer „hü“ und wer „hott“ ist, kann zu schärferen Glaubenskriegen führen als die Frage aller Fragen: was gute Musik sei.

Man kann diese Sinnsuche existentiell finden, profan – oder schlichtweg über solchen Dingen stehen wie Lüül. Der Berliner Popveteran blickt auf eines dieser Leben zurück, das selbst den abgebrühtesten Journalisten noch ein Leuchten in die Augen zaubert: Kommune 1 und Tangerine Dream, Nico und New York, Drogensucht und Hitparade sind Schlagworte einer solchen Musikerbiografie. Agitation Free, Ash Ra Tempel, das Reineke Fuchs Theater, die 17 Hippies und zahlreiche Solo-Produktionen sind die Referenzen von Lutz „Lüül“ Ulbrichs Höhenflug zwischen Avantgarde und Kiezromantik („Mond von Moabit“).

Doch selbst ein altgedienter Pop-Arbeiter wie Lüül macht neue Erfahrungen: auf einem polnischen Frachter überquerte er den Atlantik und begab sich mit Freundin („Sie war Tarzan. Ich war Jane.“) und Gitarre auf eine neunmonatige Transamericana. Dabei lernte Lüül, der früher immer nur eigene Stücke spielen wollte, die verbindende Wirkung improvisierter Tongeplänkel und internationaler Gassenhauer wie „Guantanamera“ schätzen – insbesondere, da er kaum Spanisch spricht.

Der Trip von Venezuela in die USA geriet zu einer jener No-Budget-Höllentouren, die von flohverseuchten Unterkünften bis zu einem veritablen Zugüberfall alles enthalten, womit man sich als Überlebender daheim dann wieder brüsten könnte. Doch die unterwegs zwischen Hängematte und Strand entstandenen Texte und Kompositionen streifen das höchstens in einem peppig-amüsierten „Manos arriba – Hände hoch!“ wieder. Keine Spur von Weinerlichkeit: Ein überaus entspannter Lüül läßt einfach seine Seele baumeln.

Die neue Lust am Musizieren und der neue Hang zur Heiterkeit schlagen sich auf Lüüls soeben erschienener CD „Ahoi!“ nicht nur im Songmaterial über Sonne, Wellen, Berge und Banditen nieder, sondern auch in Neueinspielungen seiner Klassiker („Bargeld“, „Bahnhof“). Maultrommel, Mundharmonika, Akkordeon und Ukulele sind typische Begleitinstrumente dieses nahezu stromfreien Lüül, dessen neues Album einfach gute Laune, Glück und Heiterkeit verbreitet, ohne jemals auch nur in den Verdacht stumpfsinniger Gehirnamputation zu geraten.

Bei der Record Release Party heute abend um 20 Uhr im Casino Westhafen (Westhafenstraße 1, Moabit) wird Lüül mit einigen mitreisenden Gästen von der großen weiten Welt erzählen, den Shanties singenden Schiffahrtschor Berlin präsentieren und mit seinen Partnern von den 17 Hippies den Abend beenden. Etwa 45 Mitwirkende bei nur 120 Publikumsplätzen – das kann nur in einer feuchtfröhlichen Fiesta enden.

Mittwoch, 22. April 2015

Atze Brauner: „Ich kenne nicht einen gutaussehenden Mann“ (1996)

Rund 500 Filme entstanden in seinen Studios, etwa 200 produzierte er selbst, darunter „Old Shatterhand“, „Der Tiger von Eschnapur“, Tralala-Streifen mit Heinz Rühmann oder auch „Hitlerjunge Salomon“. Jetzt widmet das goEast Filmfestival dem Berliner Filmproduzenten Artur „Atze“ Brauner am 24. April 2015 ein Symposium: „Artur Brauner: Der Produzent als Grenzgänger und Brückenbauer“.
1996 traf ich Brauner anläßlich des 50-jährigen Bestehens seiner CCC-Film bei sich daheim und interviewte ihn auf seiner Terrasse für die Kulturbeilage des „Tagesspiegel“ („Ticket“ 30/96 vom 25. Juli 1996). Den im Gespräch erwähnten „Golem“ hat er bis heute, 19 Jahre später, nicht realisiert. 

Fühlen Sie sich nach einem halben Jahrhundert Film wie ein Veteran, wie der letzte Mohikaner?
BRAUNER: Frisch wie dazumal. Zu allen Schandtaten bereit – wenn es sich um das filmische Gebiet handelt. Wir planen weiter, wie vor 50, 30, 10 Jahren. Eigentlich feiern wir zwei Jubiläen. 1946 haben wir die CCC-Film gegründet. Dieses Jubiläum feiern wir mit „Von Hölle zu Hölle“. Von diesem sehr schönen, sehr wichtigen, erschütternden Film wird man noch viel hören. 1947 haben wir die erste CCC-Produktion gedreht, und da können wir nächstes Jahr zum 50jährigen hoffentlich den „Golem“ präsentieren.
Das Golem-Projekt irrlichtert schon länger bei Ihnen herum.
Den Golem – das darf man gar nicht sagen – plane ich seit 32 Jahren. Wie viele Treatments, Exposés, Drehbücher habe ich schon weggeschmissen, weil sie nicht der Qualität, der Substanz, der Seriosität entsprachen, die dieses Thema braucht. Der Golem ist etwas, das uns alle beherrscht und beherrschen wird, mit dem Golem meinen wir die Elektronik, Computer, Chips. Das wird mit 15 bis 20 Millionen Dollar ein riesenteurer, international besetzter Film. Das wird unser Jubiläumsfilm.
Wird der Golem wie Ihre letzten Filme in Minsk gedreht werden?
Nein, die Geschichte muß auf jeden Fall an Originalschauplätzen in Prag gedreht werden. Und nur ein Teil in Minsk, wo wir sehr gute Produktionsbedingungen haben. Die Leute freuen sich, wenn wir kommen, und sind motiviert. Die sind nicht darauf aus, uns zu neppen. In Moskau kann man nicht mehr drehen, obwohl die finanziellen Bedingungen noch positiv wären. Aber die Preise ziehen von heute auf morgen willkürlich an, die Studiomitarbeiter fordern inzwischen – wie hier – bezahlte Überstunden, wenn man mal länger oder sonntags dreht.
Nach den Dreharbeiten an Ihrem Tunnelgangster-Film in Minsk las man von Schießereien im Hotel, Lebensmittelvergiftungen…
Alles Lüge. Das war nur Wichtigmacherei zweier Mitwirkender, und die kommen mir auch nie mehr nach Minsk, die lassen wir nicht mehr arbeiten. Es ist nicht einfach, mit Studios im Osten zu arbeiten, man muß die Mentalität verstehen, auch die Armut respektieren, die schlechten Bedingungen berücksichtigen. Wenn man hinkommt und klagt: Das ist nicht wie bei uns, das ist schlecht, kein heißes Wasser da, wir können nicht baden – dann sollte man gar nicht hinfahren.
Wie stufen Sie Ihren Tunnelgangsterfilm ein? Als Schnellschuß?
Das ist ein einfacher Unterhaltungsfilm, den wir auch fürs Ausland produziert haben und nicht nur für die Berliner. Sonst hätte es ein Dokumentarfilm werden müssen. Wir wollten eine Geschichte erzählen, nicht die tatsächlichen Vorkommnisse. Die haben zwar einen Tunnel gebaut, die Bank überfallen, aber das gibt für einen Film nicht genug her. Es wurde nicht gemordet, es gab keine Kämpfe, es gab keine Krämpfe. Wir konnten nicht allzuviel Spannung hineinschreiben, ohne uns zu sehr von der Vorlage zu entfernen. wir konnten keine Toten zeigen, keine Schießereien, aber haben doch mehr daraus gemacht. Sogar Südkorea hat den Film gekauft, für 125.000 Dollar, und Brasilien für 70.000.
Spielt „Von Hölle zu Hölle“ im Dritten Reich?
Die Handlung dieses eigenartigen Films beruht auf wahren Begebenheiten, sie beginnt 1938 und endet am 4. Juli 1946 mit dem Pogrom im polnischen Kielce. Ich glaube, daß wir einen sehr starken Film produziert haben. Und Anja Kling ist in der Hauptrolle eine ganz große Überraschung. Meiner Meinung nach ist sie nicht schlechter als Meryl Streep in „Sophie's Choice“. So wie Marco Hofschneider durch „Hitlerjunge Salomon“ nach Hollywood kam und jetzt mit Brando dreht, wird auch Anja Kling Karriere machen. Sie muß nur Englisch lernen. Der Regisseur hat alles aus ihr herausgeholt. Und er hatte auch die Möglichkeiten hierfür, weil ich gesagt habe: Ich will einen guten Jubiläumsfilm haben. Wenn Du zehn Tage länger brauchst, dann drehe eben länger. Wenn Du stundenlang proben willst, dann probe. Und wenn Du 800 Komparsen brauchst, für die Deportationsszene oder für die Hinrichtung, dann kriegst Du sie.
Das ist aber völlig untypisch für Sie. Was hat der Film gekostet?
Na, einige Millionen, hier hätte er aber das doppelte gekostet. Ich habe den Film auf eigenes Risiko gedreht, komplett. Nachdem die Filmförderung das Projekt wie meinen Schindler-Film abgelehnt hat.
Ist es ein Kinofilm geworden?
Ich glaube schon. Wenn die Amerikaner die Leistung anerkennen und uns in Hollywood die Weltpremiere ausrichten, dann haben wir gewonnen. Das wäre mein Prestigegewinn, nach dem, was hier passiert ist.
Sie meinen?
Ich habe es schon deutlich gesagt, und spreche es gern noch einmal aus: Mit der Wende kam die Wende. Es geht durch wie ein roter Faden. Es begann mit meiner Produktion „Hitlerjunge Salomon“, die die Deutschen nicht für den Oscar nominiert haben, obwohl alle dem Film große Chancen einräumten. Doch man verschwor sich: lieber keinen als diesen. Dann hat die Filmförderung mein Schindler-Projekt mit der Begründung abgelehnt, solche Geschichten mögen passiert sein, sie wirkten trotzdem kolportagehaft. Und nun die dritte Ablehnung bei „Von Hölle zu Hölle“. Das kann nicht mehr mit früheren Zeiten verglichen werden. Ich habe das Gefühl, daß jetzt eine gewisse Genugtuung herrscht. Man hat vor niemandem mehr Angst und traut sich, Filmstoffe abzulehnen, die man vielleicht schon früher lieber nicht gehabt hätte. Gut, sie haben die neuen Filme von Verhoeven und Schlöndorff gefördert. Aber ich bin enttäuscht, daß Filme, die in der Nazizeit spielen und keinen namhaften Regisseur haben, generell abgelehnt werden.
Und wenn Sie einen namhaften deutschen Regisseur verpflichten?
Nur, wo ist der namhafte Regisseur? Schlöndorff, mit dem ich oft spreche, hat seinen eigenen Film gemacht. Wen haben wir noch, ich wüßte nicht, mit wem ich arbeiten soll. Frank Beyer ist ein guter Mann, aber mehr fürs Fernsehen.
Was ist mit Dani Levy oder den Sputnik-Leuten, mit denen Sie das Colosseum-Kino führen?
Nicht für große, teure Filme. Das ist zu gefährlich, denen fehlt die Vision.
Kann man Ihre jungen Darsteller, Tina Ruland, Anja Kling, mit den Stars von früher vergleichen?
Die Stars waren früher alle sehr hübsche Menschen. Heute spielt das gar keine Rolle, die laufen alle in Jeans rum. Ich kenne nicht einen gutaussehenden Mann. Bei den Frauen nur wenige. Aber es gibt auch eine andere Jugend, die identifizieren sich mit diesen Schauspielern. Nur kriegen wir mit denen keinen einzigen Film ins Ausland verkauft. Es gibt eine Auslese. Wenn sie heute zu einer Theaterpremiere gehen, finden sie selten eine richtig hübsche Frau. Es ist wie beim Wein.
Bernd Eichinger produziert jetzt Remakes deutscher Nachkriegsfilme, auch von Ihnen, für Sat.1.
Das wird nicht gut ausgehen. Ein besonders gelungener Film ist eine Rarität. Das ist wie ein Kuchen, der besonders gelingt. Da haben sie Rosinen, Hefe, Zucker, aber der Kuchen gelingt nicht immer, auch wenn sie die gleichen Zutaten nehmen.  

(Fotos: goEast)

Sonntag, 25. Januar 2015

Déjà-vu: Jonathan Landgrebe und die Ladenhüter der edition suhrkamp

Mit der Umwandlung von Suhrkamp in eine AG hat der bisherige Geschäftsführer Jonathan Landgrebe nun als alleiniger Vorstand die verlegerische Verantwortung im Hause inne. Vor ein paar Jahren hatte ich Jonathan im Münchner Univiertel kennengelernt und auf sein Bitten hin ein Projekt für die edition suhrkamp (es) angeleiert, das helfen sollte, die Umsätze der schwer verkäuflichen Backlistbestände anzukurbeln. Das Ganze ging dann nicht ganz so aus, wie ich es mir naiverweise vorgestellt hatte. Hier mein Beitrag von 2010 im Blog der 100 Tage Bücher dazu.

Party Talk, mehr war es anfangs nicht. Während einer Vernissage in Wanja Belagas Wohnung saß ich im April 2009 zufällig neben Jonathan Landgrebe, Geschäftsführer von Suhrkamp. Er war auf der Suche nach einem PR-Event, um die Spektralfarben der edition suhrkamp (es) – gerade bei der nachgeborenen Generation – wieder zum Leuchten zu bringen, ich versprach, mir dazu Gedanken zu machen. Viel Grübelei bedurfte es dann nicht, um unser Konzept eines Pop-up-Stores auf einen Flagship Store aufzupfropfen: 100 Tage Suhrkamp, ab September 2009. Zu kurzfristig für das – noch dazu im Umzug nach Berlin begriffene – Traditionshaus, das zudem gern seine 60-Jahr-Feier 2010 mit so einem Event verknüpft hätte.
Also zelebrierten wir letztes Jahr noch einmal herkömmliche 100 Tage Bücher in der Reichenbachstraße und vertagten uns auf dieses Jahr. In der Vorweihnachtszeit erfuhr ich – eher zufällig – daß Suhrkamp das Projekt inzwischen nicht mehr nur in München, sondern in Kooperation mit der Fürst & Iven Autorenbuchhandlung zeitgleich auch in Berlin umsetzen wollte. Am 16. April, also diesen Montag sollte es parallel in beiden Städten losgehen, mit Edition Suhrkamp Shops im Münchner Univiertel und in Berlin-Mitte, die neben Büchern auch Lesungen und Filmvorführungen anbieten sollten.

Rein optisch in Berlin recht chic & clean wie ein seriöses „Factory Outlet“ („Buchreport“), bei uns wohl eher quick & dirty als typischer Guerilla Store angedacht. Und mit einem weiteren für mich entscheidenden Extra bei Edition Suhrkamp @ 100 Tage Bücher: Der Dreiteilung in Bib, Shop & Club. Neben der Buchhandlung und dem Literaturclub mit seinen Lesungen, Diskussionsrunden, Workshops für den Schriftstellernachwuchs und Prominenten, die ihre Lieblingstitel vorstellten („es und ich“), wollte ich eine Präsenzbibliothek einrichten, vielleicht die erste Pop-up-Bibliothek der Welt: Sämtliche Ausgaben der Edition Suhrkamp (es), ungefähr 1500 lieferbare und 1000 vergriffene, sieben Tage die Woche, auch abends, bereit liegend zum Blättern, Schmökern, Arbeiten.
Die Arbeitskräfte für so ein Projekt waren schnell zur Hand, nicht nur ich, sondern auch vom Projekt Begeisterte, die für umsonst mit angepackt hätten, Suhrkamp wollte uns großzügigerweise zwei vollständige Ausgaben der edition suhrkamp schenken. Eine hätte ich für die Präsenzbibliothek verwandt, mit dem Verkauf der zweiten die Kosten wieder einspielen können. Aber eben nur können.

Das Problem war die Ladenmiete. Ob neben der Pommes-Boutique, neben dem Barer 61 oder in der Amalienpassage, leerstehende Läden im Wunschkarré unweit der Uni und der Pinakotheken gab es reichlich. Für reichlich Geld, um die 1500 Euro im Monat, die natürlich von Anfang an fällig gewesen wäre.

Für ein alteingesessenes Unternehmen wie die Autorenbuchhandlung, die auch nach drei Monaten weiter ihr Geschäft betreibt, eher nur ein Durchlaufposten. Für mich muß so eine Guerillaproduktion aber bereits nach 100 Tagen refinanziert sein und so lange aus der Hosentasche gestemmt werden. Weshalb es die Suhrkamp-Guerilleros mit einer kleinen Verspätung ab dem vom 6. Mai bis 24. Juli nur in der Berliner Linienstraße 127, Nähe Oranienburger Tor, geben wird. Und für mich außer Spesen nichts gewesen? Doch, der persönliche Erfolg, ein so altehrwürdiges Haus wie Suhrkamp inspiriert zu haben.

Donnerstag, 1. Januar 2015

Déja-vu: Weniger ist mehr – Michi Kerns „Lost Weekend“

Für die Dezember-Ausgabe des Branchenmagazins „BuchMarkt“ habe ich auf vier Seiten Michi Kerns neuestes Projekt, einen Mix aus Buchhandlung und veganem Coffeeshop auf dem City-Campus der Ludwig-Maximilians-Universität, vorgestellt. Hier die ungekürzte, leicht aktualisierte Textfassung.

„Kann man die Bücher auch kaufen?“ Die Mitarbeiterin von Random House, die kurz nach der Eröffnung zufällig vorbeigekommen und unweigerlich ins Lost Weekend hineingezogen wurde, ist sich nicht sicher. Was ist das? Ein Café? Eine Galerie? Ein Buchladen? Jahrzehntelang befand sich an selber Stelle die Universitätsbuchhandlung Heinrich Frank. Fast zwei Jahre stand der Gewerberaum im Erdgeschoß der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) leer. Und jetzt ist alles anders. Zur Straße hin große Tische, die eher an das Refektorium eines Klosters denn an ein Kaffeehaus erinnern. Dann ein blitzförmig den Raum durchschneidendes Regal, das Reclams Universal-Bibliothek so ziemlich vollständig Rücken an Rücken präsentiert. Und dahinter ein Tisch und ein paar Regale, an denen eine kleine, ausgesuchte Kollektion an Sachbüchern und literarischen Titeln, viele Graphic Novels, aber auch ein halbes Dutzend Ausgaben der preisgekrönten Zeitschrift „Reportagen“ in Frontpräsentation zum Blättern, Lesen und eben auch zum Kaufen einladen.
2012 mußte Martin von Rudloff mit seiner Universitätsbuchhandlung Heinrich Frank Insolvenz anmelden. Ein paar Monate lang nutzten Untermieter des Insolvenzverwalters mit dem „Bücher Cosmos“ Immobilie und Restware noch als modernes Antiquariat. Dann wurde der Raum saniert. Die Einrichtung verschwand. Mit ihr das Zwischengeschoß oberhalb der Regale sowie die großzügigen Kellerräume. Und auch die interessierten potentiellen Nachmieter – C.H. Beck, Buch & Töne, der Augsburger Christian Hammer werden hier genannt – verschwanden. Selbst etablierten Gastrobetrieben waren die erforderlichen Investitionen und der von der Universitätsverwaltung aufgerufene Mietzins zu hoch.
„Das kann ich nur zahlen, wenn ich eine Disco daraus mache“, winkte etwa der altgediente Münchner Club- und Cafébetreiber Michi Kern (Pacha, Café Reitschule) ab. Kern, der nebenbei auch noch täglich als Yoga-Lehrer unterrichtet und an der vom Jesuitenorden geführten Hochschule der Philosophie studiert, hat bereits einmal eine Immobilie spektakulär neu erfunden, als er das Zerwirkgewölbe, Münchens Jahrhunderte alte Metzgerei für Wildspezialitäten in ein veganes Restaurant namens Zerwirk mit angeschlossenen Club und Live-Bühne verwandelte. Inzwischen hat er sich aus der Immobilie zurückgezogen, so wie er oft nur als eine Art menschlicher Inkubator oder Business-Angel Projekte initiiert und realisiert. Die richtige Idee mit den richtigen Leuten umsetzen, ohne unbedingt auf Dauer eine Beteiligung zu halten.
Diesen Sommer, schon ziemlich knapp vor Beginn des Wintersemesters, kam die Universitätsverwaltung, nachdem alle Bewerber aufgegeben hatten, erneut auf ihn zu. Und diesmal ging es fix. Die Miete wurde neu verhandelt. Die Umbaukosten wurden minimiert, indem Kern auf den für Buchhandlungen eher ungewohnten Stil eines Pop-up-Stores setzt: die Wände nackter Beton, teils saniert, aber auch im angegriffenen Originalzustand. Die Decke mit all ihrer Ver- und Entsorgungstechnik offen, von nahezu industriellem Charme. 110 Quadratmeter Ladenfläche mit Ecken und Kanten. 30 Quadratmeter für Toiletten und Lager.
„Der Raum ist Wahnsinn“, so Kern. Lost Weekend taufte er den Laden. Nicht etwa nach Charles R. Jacksons legendärem, von Billy Wilder verfilmten Alkoholiker-Drama „Das verlorene Wochenende“. Von dem Roman hatte Kern, der Mitarbeitern zufolge geschlossene Werke eher ungern liest, zuvor nie gehört. Ein Artikel von Willi Winkler auf Seite Drei der „Süddeutschen Zeitung“, über John Lennons „Lost Weekend“, eine Liebesaffäre Anfang der siebziger Jahre, gab die Inspiration.
Musik gibt es hier nicht zu kaufen, aber – für eine Buchhandlung eher ungewöhnlich – zu hören. Ein Sound, wie man ihn auch in Bars hören kann, Elektro, Experimentelles, Indie, gern auch im Club-Remix. Die Klientel stört es nicht, selbst Jurastudenten büffeln, ihren Schönfelder auf den angemessen großen Tischen ausgebreitet, in gemeinsamen Studiergruppen, ohne sich daran zu stören, dass hier nicht die andächtige Stille der Staatsbibliothek um die Ecke herrscht. Ganz im Gegenteil. Fragen nach dem Größenanteil von Café und Buchhandlung wehrt Kern gleich ab. Für ihn ist der ganze Raum eine Buchhandlung. Die Leseinseln, mit denen Hugendubel am Marienplatz vor langer Zeit Furore gemacht hat, werden hier einfach zeitgemäßer interpretiert. Die Menschen sollen kommen und ohne Verkaufsdruck bleiben. Ob sie nun ein Buch kaufen wollen oder nur darin blättern, am Computer arbeiten, sich unterhalten oder einen Kaffee trinken wollen. Nichts muß konsumiert oder erworben werden.
Gleich zwei W-LAN-Netze stehen zur Verfügung. Das paßwortgeschützte W-LAN der Universität für Studenten und Mitarbeiter der Hochschule. Aber auch ein weiteres, offenes W-LAN der Buchhandlung. Das Lost Weekend droht aber dennoch kein Hangout der digitalen Bohème zu werden, an dem jeder für sich allein surft und keiner miteinander redet. Mit Absicht hat man sich für große Tische entscheiden, an denen keiner allein sitzt, sondern man zwangsläufig einen Platz und hoffentlich ein Gespräch teilt. „Wir haben die Musik absichtlich etwas lauter gedreht“, so Kern, „damit die Leute auch lauter sprechen müssen und so mit ihren Nachbarn leichter in Kontakt kommen.“
Die Einrichtung aus gebürsteter Fichte wurde von Schreinern auf Maß angefertigt. Das tatzelwurmförmige Regal für um die 2895 Reclam-Bücher ist ein Entwurf des Berliner Konzeptkünstlers Björn Wallbaum, der für dieses Ladenprojekt nach München zog und gemeinsam mit Kern, Elisabeth Kieser und Markus Horn zu den Gesellschaftern der GmbH gehört, oder – in den Worten der Macher – zum „Kollektiv“. Für die ungewöhnlichen Stühle griff Wallbaum auf Entwürfe des Radikalen Enzo Mari zurück, der etwa zur selben Zeit, als das Universitätsgebäude in der Schellingstraße errichtet wurde, in Italien unter dem Titel „Autoprogettazione“ komplette Einrichtungen zum Selbstbauen für Leute entwarf, „die nicht viel Geld haben“. Wallbaum fragte ihn per Brief, ob man sein Design kopieren dürfte. Der Mailänder schickte ihnen daraufhin postwendend seine Entwürfe.
Während das StuBistro, die Cafeteria der Sprach- und Literaturwissenschaftler im selben Gebäude, unter Münchner Studenten einen eher schrecklichen Ruf genießt, setzt das Lost Weekend des Veganers Michi Kern mit seinem Self-Service-Angebot auf Frisches und verzichtet auf tierische Produkte. Ob beim Kuchen, Salat, Müsli, der veganen „Butter“-Breze oder den Heißgetränken, die dann eben mit Soja-, Mandel- oder Hanfmilch verfeinert werden.
Den Kaffee und die Schmankerl gibt's – ohne Buchverkauf – auch Freitag und Samstag abends oder sonntags, die Buchhandlung dagegen ist mit Rücksicht auf das strenge bayerische Ladenschlußgesetz nur montags bis samstags von 8 Uhr morgens bis 20 Uhr zugänglich.
Buchhändlerin Irene Held, keine Gesellschafterin im Kollektiv, sondern dort angestellt, nutzt die ruhige Morgenstunde, um die Barsortimentslieferungen (Umbreit) zu bearbeiten. Held, die aus dem Tutzinger Buchhändlerclan stammt und zuletzt in der Starnberger Bücherjolle gearbeitet hat, stieß zuletzt zum Team. Für Kern, der Heinrich Frank noch persönlich erlebt hat und mit Martin von Rudloff befreundet ist, stand von Anfang an fest, dass wie bereits früher an gleicher Stelle „Reclam als Basis und schneller Einstieg für Studenten“ einen Schwerpunkt des Angebots bilden müßte. Reclam-Vertreterin Friederike Rother vermittelte ihm nicht nur die gewünschte Ware, sondern brachte ihn auch mit Held zusammen, die jetzt mit drei bis vier Aushilfen den buchhändlerischen Part bestreitet und langfristig auch im Laden ausbilden will: „Ich habe die Lizenz dazu“.
Neben den tausenden von Reclam-Heftchen gab es in der Eröffnungswoche etwa zweihundert Titel anderer Verlage, die vor allem die engagierten, sozialkritischen Interessengebiete von Kern widerspiegeln: Philosophie, Nachhaltigkeit, Politik, Geschichte, ein bißchen Belletristik. „Die Buchhandlung wird wachsen und im nächsten halben Jahr an Fleisch gewonnen haben“, verspricht Wallbaum. Die offenbar von den Studenten sehr gut angenommenen dokumentarischen Graphic Novels haben bereits nach wenigen Tagen die doppelte Präsentationsfläche erhalten. Nun soll Buchhändlerin Held auch noch das literarische Profil schärfen. Englischsprachiges, wie etwa „CAFO – The Tragedy of Industrial Animal Factories“, wird dagegen die Ausnahme bleiben, um nicht Words’ Worth Booksellers nebenan Konkurrenz zu machen.
Beim Bestreben, dem Gedruckten auch noch Leben einzuhauchen, kommt Kerns Netzwerk als alteingesessener Veranstalter, Caterer und Partykönig am stärksten zur Geltung. „Lesungen macht jeder“. Stattdessen will man die guten Kontakte zum Residenztheater, den Kammerspielen und der Falckenbergschule für darstellende Kunst nutzen, um Bücher mit Schauspielern als Live-Hörspiele zu inszenieren. Man will auch nicht nur in den eigenen vier Wänden agieren, sondern mit mobilen Büchertischen in die Theaterfoyers hinein, auf Symposien, Konferenzen und im Gegenzug auch Intendanten, Professoren, Regisseure und sonstige Vordenker einladen, Buchregale zu kuratieren, sprich: ihre Lieblingsbücher, ob namentlich oder anonym, im Lost Weekend zu präsentieren.
Im vom Buchhandelssterben geprägten Univiertel sorgt damit ein Buchladen für kreative Unruhe. Auch wenn man zweimal hinsehen muß, um es überhaupt als Buchhandlung zu identifizieren. Durch die raumhohen Fenster wirkt es auf den ersten Blick nur wie ein sehr gut besuchtes Café. Die vielen Schaukästen, an denen täglich tausende von Studenten vorbeilaufen? „Es gibt Spannenderes, als Bücher reinzustellen.“ Stattdessen Fotoprints von Jens Schwarz, wie auch in der Buchhandlung selbst in Zusammenarbeit mit Münchner und Berliner Galerien Kunstwerke ausgestellt werden, etwa ein Neonschriftzug von Pietro Sanguineti („Prophecy“) oder demnächst vielleicht auch ein Bild des Fotografen Larry Clark. Letzteres wäre nur eine Leihgabe („Es ist so teuer, dass wir es uns nicht leisten können.“).
Vom über der Buchhandlung schwebenden alten Firmennamen Universitätsbuchhandlung Heinrich Frank hat Michi Kern den Eigennamen noch in der Eröffnungswoche entfernen lassen. „Wäre da Martin von Rudloff gestanden, hätte ich den Namen gelassen. Aber ich habe Heinrich Frank noch kennengelernt. Ein unangenehmer Mensch. Ich war heilfroh, als Martin damals den Laden übernommen hatte.“ Jetzt versucht Michi Kern mit seinen Mitstreitern den Ort für den Buchhandel zu retten. Und einen Ort zu schaffen, in dem der stationäre Buchhandel gerade deshalb zu neuem Leben erwacht, weil man nicht jede Ecke ausschöpft, auf jeden Trend setzt, sondern sehr großzügig, sehr durchdacht, sehr bestimmt einen Ort schuf, an dem nicht Hard-Selling betrieben wird, sondern Bücher im Mittelpunkt stehen, um zum Innehalten, Nachdenken und Miteinanderreden zu animieren. Bei einem Kaffee oder auch nicht.

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Déja-Vu: Die Form – Elektrobeats in Lack und Leder

Ende der neunziger Jahre schrieb ich in Berlin parallel für die Feuilletons der „Berliner Morgenpost“ und des „Tagesspiegel“, wobei ich eher für die Subkultur zuständig war: Tattoos, Transen, SM und ähnliche Phänomene. So berichtete ich am 10. März 1999* auch über ein Konzert von Die Form. Und stellte gestern überrascht fest, daß die Band, die eigentlich schon damals ihren Zenit überschritten hatte, heute immer noch emsig weiterschrammelt.

Wo war die Sklavia? Hatte Pascale anläßlich des Weltfrauentages frei? Wollen Philippe Fichot und Éliane P., das Sado-Maso-Duo der französischen Maschinensound-Combo Die Form, die aufgegeilte Aufmerksamkeit ihres Konzertpublikums nicht mehr mit einer weiteren Akteurin teilen? Oder ernährt das Geschäft mit dem spekulativen Techno-Sex-Sound keine dritte Bühnenkraft mehr?

Gut 17 Jahre* (Stand 1999) bosselt Fichot nunmehr schon öffentlichkeitswirksam an seinem „Museum of Ecstasy“ herum, an einer surrealen Welt der Begierden und Schmerzen. An Videoclips, Bildbänden, Musikalben und den diese Bilder und Töne verbindenden Konzertabenden, bei denen Fichot unter einer Gasmaske das Elektrogeblubber steuert, während auf die Leinwand Blümchensex mit Blütenstengeln projiziert wird und Lebenspartnerin Éliane P. in Lack und Leder tiriliert, tanzt und ihre Geschlechtsmerkmale zur Schau stellt.

Die Zeiten, als eine gewalttätige Bühnenshow noch Auftrittsverbote deutscher Behörden auslöste, sind längst vorbei. Die Form zelebriert nurmehr eine streng stilisierte, sich in Andeutungen ergehende Sado-Maso-Show, bei der gerade noch Élianes Catsuit unters Messer gerät, die Fesselspiele brav bleiben und die Gewaltphantasien sich auf Videoeinspielungen nackter, derangierter, im Wald herumkrabbelnder Frauen konzentrieren. Im Unterschied zum letzten Auftritt in der Potsdamer Mensa sorgt nicht einmal mehr die Gespielin Pascale für einen devoten Bonustrack, obwohl das Konzert im Glashaus sonst weitgehend an jenes Gastspiel anknüpft.

Der zahlreich erschienenen Berliner Gruftie-Gemeinde präsentierten sich Fichot und Éliane hinter dem bewährten Drahtbauzaun. Die Besucher der Form ergaben sich weitgehend phlegmatisch dem monotonen erotischen Weihespiel, das die Phantasien des 19. Jahrhunderts mit den Sado-Maso-Devotionalien der neunziger Jahre verknüpft und musikalisch klingt, als ob Franz Schuberts Liedgut und mancher Choral durchs Maschinenkraftwerk gejagt worden wäre. Das Ganze entbehrt mitunter nicht einer gewissen Lächerlichkeit.

Freitag, 21. Februar 2014

Déjà-vu: Hilary Swank

Morgen sitzt Hilary Swank bei „Wetten, dass...“ auf der Couch. Vor 17 Jahren stand sie während des Münchner Filmfests mir noch in der Muffathalle gegenüber und präsentierte ihren Bauchnabel. Wir haben damals im „Ticket“-Supplement des „Tagesspiegel“ schon recht durchgeknallte Rubriken ausprobiert, wie eben die „Nabelschau“...
„Ich liebe es, liebe es leidenschaftlich zu spielen. Das ist auch der einzige Weg, es in diesem Geschäft auszuhalten. Es geht so brutal zu, daß man es ohne Liebe und Leidenschaft nicht überlebt. Nur ein Beispiel. Wenn ein männlicher Kollege am Set Verbesserungsvorschläe einbringt, sagen alle: Wie brillant. Mache ich das gleiche als Frau, heißt es, ich sei zickig.“

Donnerstag, 26. Dezember 2013

Hanna Schygulla - diddell-duddel-daddelnd kälter als der Tod

Hanna Schygulla bin ich dreimal in meinem Leben begegnet. Einmal Anfang der achtziger Jahre zu einem Interview und Fotoshooting, bei dem sie unter meinem Regenschirm an mich geschmiegt durch den Olympiapark lief. Die entsprechende Ausgabe des Münchner Buch-Magazins muß ich erst noch aus den Beständen der Stabi bergen.
Später dann weit distanzierter, mit dem Bühnengraben zwischen uns. Zuletzt im Berliner Schiller-Theater, mit mir als Kritiker der Berliner Morgenpost im Zuschauerraum. Hier die am 1. Oktober 1997 veröffentlichte Konzertbesprechung. 

"Diddel, Duddel, Daddel". Bereits beim zweiten Lied löst sich Hanna Schygulla aus dem befürchteten, mit Heiner Müller, Peter Handke, Thomas Bernhard und Charles Baudelaire sturmsicher geschnürten literarischen Ballast der Suhrkamp-Kultur, daddelt lautmalerisch, verspielt, wie kaum eine Diva zuvor. Ein Ausbruch, eine Improvisation? Nein, bloß ein Schlenker ihres für den Abend sorgsam austarierten Kurses, bei dem sie zwischen Vulgärem und Versen, Manierismen und Mütterlichkeit changiert, die Oberfläche wechselt, DIE Schygulla bleibt und das Publikum sich selbst überläßt.
Die Verpuppung der Schauspielerin zur Sängerin war in Berlin erstmals 1994 im Hebbel-Theater zu bestaunen. "Durch Himmel und Hölle mit Faust" nannte sie ihr Programm, bei dem sie sang, sprach, mit dem Publikum redete, es mitnahm auf einen Gedankenflug durch Literatur und Chansons. Inzwischen hat sich die Schygulla in einen Kokon aus Licht zurückgezogen, in dessen Schutz sie ihr neues Programm "Hanna Schygulla chantesingt" wie ein Hochamt zelebriert, nicht ohne Witz, nicht ohne Derbheiten, aber ohne jeden Bezug zum Publikum. Kein Dialog, nur mehr ein Monolog mit Piano.
Die Zuschauer im Schiller-Theater müssen förmlich kämpfen, um ihren Applaus loszuwerden. Und jeder merkt, die Diva wünscht es nicht sonderlich, unterbrochen zu werden. Und es wird auch nicht mehr viel applaudiert. Nahezu atemlos hechelt die Schygulla durch ihr Programm, durch einstudierte Posen, Phrasen, anderthalb Stunden ohne Pause. Der Auftakt ihrer Deutschland-Tournee findet vor halbleeren Reihen statt, wohl nicht nur, weil sie mit dem gleichen Programm bereits letztes Jahr in Berlin zu sehen war, sondern weil das Programm einen vor Kälte schaudern lassen kann. Und das Mausoleum des Schiller-Theaters ist - anders als ein kleines Spiegelzelt - kein wärmender Ausgleich für ein frostiges Programm.
Dabei ist die Schygulla immer noch ganz sie selbst, einladend, herzlich, Herzenswärme ausstrahlend und in der Pose einer Naiven aus der Vorstadt ebenso selbstsicher und dominant wie in den Allüren einer Femme fatale aus dem Boudoir. Barfuß und streng frisiert schwebt sie von der Hinterbühne ein, füllt den Raum wie selbstverständlich aus, zeigt Bein, läßt einen Träger rutschen, ganz alterslose Diva. Was auch immer sie in den Mund nimmt, ob Fassbinders deutsche Filmtitel, chansonfüllend aufgesagt, ein kubanisches Wiegenlied, ein paar englische Floskeln oder französische Gedichte - alles scheint einem anregenden Gefühls- und Gedankenfluß zu entspringen.
Wenn es nur nicht so glatt einstudiert wirkte, wie ein in der Schule vorzutragendes Gedicht. Nie spiegelt sich die Sinnlichkeit der Schygulla in ihren Worten wider, bleibt sie sie selbst. Und die Worte, schöne Worte, von Liebenden im Paradies und vom Schatten miteinander in Hiroshima Verschmolzener, sind mit Seele geschrieben und ausgesucht, aber ohne Seele vorgetragen. Zum Abschied dann, ohne daß sie sich lange bitten ließe, das Lied von der Laterne, das Lied von Lili Marleen. Übrigens ein Lied, das ebensowenig von dem sie begleitenden Pianisten Jean-Merie Sénia stammt wie die während des Konzerts eingestreuten Zitate von Gershwin oder Bizet, auch wenn die Schygulla Sénia als Komponisten "aller Musik dieses Abends" preist. Selbst eine Diva ist nicht immer gegen Fehler gefeit.

Montag, 16. Dezember 2013

Ariadne von Schirach: Rebellin der Lust

„Als Autorin sehe ich mich auch noch in fünf Jahren“, versicherte mir Ariadne von Schirach, als ich sie 2007 in Berlin traf. Nun sind sechs Jahre vorbei und ihr neues Buch, „Du sollst nicht funktionieren – Für eine neue Lebenskunst“, kurz vor der Veröffentlichung. Hier mein in der „freundin“ 10/2007 veröffentlichtes Porträt.

Provoziert und mit Tabus gebrochen hat Ariadne von Schirach schon als Schülerin: Aus den Internaten in Marquartstein und Hohenschwangau flog sie trotz guter Leistungen „wegen Blasphemie, Subversion und Kiffens“. Auch den neuen Heiligen tritt sie kritisch entgegen: Klar sind Brad Pitt und Angelina Jolie ein Traumpaar und die Models in der Werbung wunderschön. Aber kann ihre Perfektion ein Maßstab für uns sein? Sorgen die Idole aus der Traumfabrik nicht dafür, dass wir uns in die Falschen verlieben? Dass wir selbst in einer Beziehung grübeln, ob wir nicht doch einen Besseren abkriegen könnten? Finden wir vor lauter Oberflächlichkeit den idealen Partner noch schwerer als den perfekt sitzenden Badeanzug?
Liebe, Sex, Shopping – die 28-jährige (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes, 2007) Autorin mit dem wachen Blick lässt ihr Erstlingswerk um diese Themen kreisen: „Der Tanz um die Lust“ schaffte es gleich in die Bestsellerlisten. Selten wurde in einem philosophischen Sachbuch so unterhaltsam und lebensnah über Liebe, Leidenschaft und Konsumsucht nachgedacht. Und vor allem so schonungslos direkt. Die Philosophiestudentin nimmt kein Blatt vor den Mund, in ihrer Welt gibt es Pornos, Drogen, Wodka, aber auch den Rausch, den eine Kauforgie bei H&M auszulösen vermag.
Doch die Offenheit hat Grenzen: Beim Interview in der Szene-Kneipe Bötzow Privat in Berlin-Mitte legt Ariadne von Schirach großen Wert darauf, dass sie keineswegs identisch mit der Ich-Erzählerin ihres Buches sei. Vielleicht weil dieses Rollenspiel hilft, Dinge öffentlich auszusprechen, die man sonst höchstens der besten Freundin erzählt. Von Schirach trinkt Orangina, raucht eine Zigarette nach der anderen und trägt einen blauen Blazer aus der Kollektion der HipHopperin Missy Elliott: Respect M.E. heißt das Modelabel, und es scheint eine passende Botschaft zu sein. Man soll ihr Privatleben respektieren. Selbst harmlose Fragen, etwa danach, ob sie Single sei, blockt sie rigoros ab. „Ich freue mich, wenn die Leute mein Buch lesen, aber ich sehe mich nicht als Medienfigur und habe kein Interesse, mein Privatleben zu vermarkten. Mir geht’s ums Schreiben.“ Doch reden kann sie auch. Mit unterhaltsamer Lebhaftigkeit schafft sie es im Gespräch, kleine Anekdoten mit großen Gedanken zu verknüpfen – eine Fähigkeit, die auch ihr Buch auszeichnet.
Aufgewachsen ist Ariadne von Schirach in einem Haus voller Bücher, bei ihrem Vater Richard, der auch geschrieben hat, darunter Erinnerungen an Ariadnes Großvater, Hitlers Reichsjugendführer und Gauleiter Baldur von Schirach. Die Familie war nicht reich, und letztendlich ist die junge Studentin von München nach Berlin gezogen, weil sie sich die teuren Mietpreise an der Isar nicht leisten konnte. Die Hauptstadt-Szene mit ihren Balzritualen war die perfekte Laboranordnung für von Schirachs Betrachtungen über moderne Liebe. Sie zog durch In-Clubs wie das „Cookie’s“, „Weekend“ oder„103“ und lernte den Popliteraten Joachim Lottmann kennen. Ihm erzählte sie ihre Tresen-Thesen von der übersexualisierten Gesellschaft. Daraufhin empfahl er sie an den „Spiegel“, der vor zwei Jahren ihren Essay „Der Tanz um die Lust“ abdruckte. Eine Literaturagentur wurde dadurch auf von Schirach aufmerksam, vermittelte einen Buchvertrag – und aus dem knappen Aufsatz wurde ein 382 Seiten dicker Bestseller.
Warum schreibt sie ausgerechnet über Sex? „Das war Zufall. Ich produziere ständig Ideen über alles Mögliche: Welche neuen Lebensmodelle es gibt; welche Werte man haben und seinen Kindern vermitteln sollte; welche Rolle die Quantenphysik spielt…“ Und wie geht’s weiter? „Ich lese gern, ich schreibe gern, ich liebe Worte und bin dankbar dafür, das zu meiner Arbeit machen zu können. Als Autorin sehe ich mich auch noch in fünf Jahren.“ Zunächst schreibt sie aber ihre Magisterarbeit – über die New Yorker Identitätskünstlerin Nikki S. Lee, eine Meisterin des Rollenspiels, deren Verkleidungen von der HipHopperin über die Geschäftsfrau bis zum Bücherwurm reichen. 

Update vom 15. Juli 2023: Eben erst aus der Todesanzeige für ihren Vater Richard von Schirach mitbekommen, dass Ariadne von Schirach mit ihrem ehemaligen Verleger Michael Zöllner eine Tochter, Aurora. Sie sind verheiratet

(Foto: André C. Hercher)

Samstag, 14. September 2013

nachgefragt: Tina Ruland („Shape“, März 2004)

Während meiner Zeit als fester Freier bei der „Cosmopolitan“ habe ich zwei Jahre lang auch bei „Shape“ mitgearbeitet und dort unter anderem einen Fragebogen entwickelt und betreut. Neben diversen Fragen gaben wir dem Promi jeweils auch noch die Möglichkeit, sich selbst zu zeichnen und uns einen Schnappschuß aus seiner Kindheit zu zeigen. Im März 2004 war „nachgefragt“ Tina Ruland gewidmet, die offensichtlich schon lange vor „Manta Manta“ auf Motoren stand.