Das Paradies ist käuflich. Der Handel beginnt auf dem Markt von Serian, Borneo. In allen Herrgottsfarben schillern und schimmern nie zuvor gesehene Früchte, knackfrische Dschungelfarne, Chili und Kokossüßigkeiten. Selbst scheinbar Vertrautes wie Mango und Sternfrucht überrascht mit natürlich gereifter Geschmacksvielfalt.
Vom Sündenfall keine Spur. Keine genormten Turbochiquitas und abgebrühten Touristenabzocker, dafür strotzt der Markt vor krummen Formen und urtümlichen Charakteren. Während ich mich durch zahllose Sorten winziger, aromastarker Bananen koste und lerne, dass angekokelte Rattanzweige gegen Diarrhö helfen, beobachten mich die Händler amüsiert. In Malaysia bin ich die Kuriosität. Es schmeckt mir trotzdem, und die Nascherei weckt meine Sinne nach dem 14-stündigen Flugmarathon. Ich werde sie auf diesem schwülen Tropentrip brauchen.
Nur zehn Tage habe ich Zeit, dem Winter zu entkommen und mein Defizit an Sonne, Sanftmut und Sinnlichkeit auszugleichen. Borneos malaysischer Nordteil schien perfekt: Die Kopfjäger längst ausrangiert, aber noch keine Touristenhorden an der Tagesordnung. Sonne satt bei 35 Grad, doch genug Action, um mich nicht zu langweilen. Eintauchen in mystisch klingende Provinzen wie Sabah und Sarawak – aber mit Flipflops an den Füßen und nicht ausstaffiert wie Indiana Jones. Pure Projektion? Vielleicht, aber schließlich beginnt der Urlaub im eigenen Kopf.
Und der traf eine weise Vorentscheidung: die Individualität zurückzustellen und organisiert zu reisen. Natürlich gibt es auf Borneo Rucksacktouristen, die sich wochenlang dahintreiben lassen. Und sogar deutsche Fahrradfundis, die sich die Insel kilometerweise erstrampeln. Mit Blick auf meinen Zeitplan schloß ich mich aber einer geführten Gruppe an, schließlich haben selbst auf Borneo Nationalparks Öffnungszeiten.
Und die klassische Dschungelnacht im Langhaus will auch organisiert sein: Zu acht machen wir uns auf ins Herz der Finsternis, steigen vom Bus in Langboote um, oftmals das einzige Transportmittel zu den landeinwärts gelegenen Siedlungen. Das Gepäck bleibt im bewachten Bus zurück, wir tragen nur das Nötigste für eine Nacht und Gastgeschenke für den Stamm mit uns.
Der Fahrtwind den Lemanak-Fluß hoch bietet eine unerwartete Erfrischung, denn seit meiner Ankunft schwitze ich nur noch, wenn auch auf die denkbar (zweit-)schönste Art: Borneo bettet mich in einen schwülen Tagtraum. Ob zu Land, in der lauwarmen Südchinesischen See oder in einem der Hotelpools: Ständig umgibt mich ein feuchtwarmer, durchaus entspannender Kokon, der alles frischer und lebendiger wirken lässt.
Hoch über dem Fluss wartet Borneos Antwort auf den Club Med: Ringelpitz beim Häuptling. Doch auch wenn der Chief wahrscheinlich jeden Tag eine andere Gruppe zu Gast hat, gibt er uns das Gefühl, einen besonderen Abend zu erleben – und das nicht mit angestellten Animateuren, sondern im Herzen eines Iban-Clans. Im Langhaus wohnen sie alle unter einem Dach. Es gibt Kunsthandwerk zu Schnäppchenpreisen und nach dem Chefmenü ein Besäufnis mit Reiswein und -schnaps. Die Hauptattraktion erwartet mich im Gästehaus: Unterm Moskitonetz lausche ich dem nächtlichen Regenwald. Die wildesten Klänge stammen zwar von den unscheinbarsten Grillen, aber in der Fantasie wird daraus ein wüstes Spektakel.
Näher will ich dem brünftigen Stück Natur aber nicht rücken. Während ich im Boot zurückfahre, laufen die anderen bei strömenden Regen durch den Wald. So apart ich es auch finde, dass dort weibliche Blutegel nur Männer anspringen und männliche die Frauen, bleiben es doch Dschungelparasiten, denen ich gerne aus dem Weg gehe...
Borneos grünes Herz betrachte ich lieber aus der zweimotorigen Twin-Otter, die uns nach Mulu fliegt. Wieder ist nur kleines Gepäck erlaubt, angeblich lässt der Pilot jeden Passagier wiegen. Aber davon keine Spur. Dabei hätte ich gern gewusst, ob die Borneo-Diät (Reis, Fisch, Geflügel, scharf angebratenes Gemüse aus dem Wok) anschlägt...
Wie die meisten Hotels auf Borneo ist auch das Royal Mulu Resort keine durchklimatisierte Trutzburg, sondern ein Ensemble offener Veranden. Im lichten Nebeneinander von Lobby, Restaurant und Bar tummeln sich Geckos auf Insektenjagd. Den Eidechsen entgehen die Riesenbrummer natürlich – prompt knallt mir ein handtellergroßer Käfer an die Brust. Zum Glück kann man zumindest sein Zimmer herunterklimatisieren – in diesen Breitengraden reichen 20 Grad, um Spinnen in Kältestarre verfallen zu lassen.
Hier in Mulu komme selbst ich nicht um den Dschungel rum. Auf einem kilometerlangen Steg marschieren wir durchs Tropenholz, über uns träge flatternde Nashornvögel, rechts von uns der erste Orang-Utan. Ohne Führer hätten wir ihn nie im Unterholz entdeckt, und selbst jetzt verdichten sich Schattenspiel und Knackgeräusche eher zu einer Ahnung denn zur Gewissheit.
Heute steht der Rotschopf auch noch gar nicht auf dem Programm. Unser Interesse gilt den Tropfsteinhöhlen von Mulu, mit 554 Quadratkilometern die größte Höhlenkette der Welt. Fasziniert betreten wir Borneos offenen Bauch, erkunden die Unterwelt und nutzen die Gelegenheit, um uns vor der Clearwater Cave in einem Bach abzukühlen, den die Höhlenquelle speist. Die Führer bereiten ein Picknick vor, und wir fühlen uns so wohl wie die Millionen Fledermäuse, die hier hausen und abends bei ihrem Formationsflug ein spektakuläres schwarzes Himmelsband knüpfen.
Das ist nicht Draculas Reich, aber auf dem Nomadenbazar von Mulu treffe ich doch gewisse Vorkehrungen. Während sich die Mitreisenden auf Flechtwerk, Blasrohre und Ethnoschmuck stürzen, entdecke ich bei einer greisen Nomadin finger- bis faustgroße Kreuze aus neonbunten Plastikperlen und kaufe die halbe Produktion auf – denn wer will schon jeden Tag dasselbe Kreuz tragen?
Was soll man auch sonst aus Borneo mitbringen? Ob auf dem Nachtmarkt von Sibu oder in den Boutiquen von Kuching: überall meist schlechte Sportswear-Kopien und Pokemons aus chinesischen Sweatshops. Erst die Einkaufsmeile von Sandakan rettet meine Stimmung: Ob Satteltaschen, Denim-Look oder Graffiti-Muster: alles da, alles Fake, aber keine langweiligen Kopien, sondern einzigartige Variationen.
Bei aller Tropenromantik lebt Malaysia am Puls der Zeit: keine Stadt ohne McDonald's. Der Mangosaft kommt selbst im Langhaus aus der Nestlé-Dose, dafür setzt man im Fremdenverkehr auf Öko-Tourismus. Auf dem Markt gibt es nicht nur die neuesten George-Clooney-DVDs, sondern sogar Tom Tykwers „Lola rennt“, und unser spleeniger Führer Fernando behauptet, er hätte einen pink gefärbten Riesenpudel daheim. Nach dem gemeinsamen Bootstrip zur Sukau Rainforest Lodge traue ich ihm das zu.
Denn Fernando ist unser Dr. Dolittle. Während um uns Reisegruppen mit schweren Außenbordern Amok fahren, führt er uns mit lautlosem Elektroantrieb mitten unter die Tiere. Pirscht sich an Nasenaffen heran, lässt uns Warane und Paradiesvögel entdecken, zeigt uns den Fischer, der die Flusskrebse für das Abendessen aus dem Wasser holt.
Meinen letzten Naturfilm sah ich, als Grzimek noch lebte. Tiere bevorzuge ich auf einem Teller, schmackhaft zubereitet. Aber auf Borneo, als Gast in freier Wildbahn, lässt mich das tägliche Tête-à-tête nahezu hyperventilieren. Die Augen weit aufgerissen, den Finger ausgestreckt, bleibt mir nur stotterndes Staunen. Zum Glück knipsen alle die Tiere und nicht mich. Aber wer kann cool bleiben, wenn man in Sepilok den Orang-Utans so nah kommt, dass sie einem in die Tasche greifen oder das Handy wegnehmen können?
Wobei ich diesen Verlust auch erst nach zehn Tagen gemerkt hätte, als mich die Realität inklusive hektischer Klingeltöne einholte. Der Powertrip durch die Orchideeninsel, in videoclipschnellem Wechsel der Orte, Reisemittel und Erlebnisse war bei allen Strapazen eine belebende Kur für die Sinne: Neues sehen, fühlen, schmecken.
Ich habe zwar in Malaysia eine Welt kennen gelernt, in der ich kaum ständig leben will: die Polizei rigide, das Regime so muslimisch, dass man Alkohol gerade noch toleriert, im importierten „Stern“ aber alle nackten Brüste überklebt. Doch während man sich im indonesischen Südteil der Insel zurzeit die Köpfe einschlägt, leben im malaysischen Borneo die Dschungelstämme friedlich mit Malaien, Chinesen und Europäern zusammen, heiraten untereinander und erwecken den Eindruck eines toleranten kleinen Paradieses.
Dieser Reisebericht erschien zuerst in der „Cosmopolitan“ 2/2002
(Foto: Daniel Kleeman/flickr)
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