Vorgestern hat der 76-Jährige sein neues Studioalbum „Der ganz normale Wahnsinn“ im Münchner GOP.-Varieté persönlich vorgestellt (– und heute abend dann bei „Wetten dass“). So wie Helmut Dietl vor 31 Jahren in der gleichnamigen Comedyserie noch fragte, „Woran es liegt, dass der Einzelne sich nicht wohl fühlt, obwohl es uns allen so gut geht“, geht Udo Jürgens ebenfalls dort hin, wo's weh tut oder man zumindest nachdenklich werden könnte. Also auch in die digitale Gegenwart.
„Du bist durchschaut“ heißt der entsprechende Track, in dem es nicht nur um seine wohl eher persönlichen Ängste geht:
„Am Flugplatz wirst Du eingescannt
bis hin zum großen Zeh
und Deine Kontodaten gibt es bald schon auf CD
Fehlt nur noch dass bei Facebook
Deine Leberwerte stehen“
Selbst solider lebende Zeitgenossen wähnt er in unserer „schönen neuen Welt“ rundum bespitzelt:
„Die Welt ist eine Google
da bleibt gar nichts mehr geheim
ob Wohnung, Haus, ob Garten
jeder schaut da
Im Netz da lauern Hacker,
auf den Straßen Kameras
man sieht in uns rein
als wär'n wir aus Glas“
Doch sind wir in Udo Jürgens' Augen keineswegs alle nur unschuldige Opfer. „Wer hätte sich vor zwanzig Jahren vorstellen wollen, dass wir einmal alle ein Gerät mit uns herumtragen würden, mit dem man uns jederzeit innerhalb von drei Minuten orten könnte“, wunderte er sich während seiner CD-Präsentation, um zuzugeben, dass er sein Handy auch immer bei sich habe. „Weil ich es brauche – oder es mir zumindest einbilde“.
„Ganz offenherzig twitterst du
gibst alles von dir preis
den größten Mist
den kleinsten Scheiß“
Bei großen Hits wie „Griechischer Wein“ oder „Ein ehrenwertes Haus“ hat es Jürgens wiederholt geschafft, wichtige moralische Themen, die zuvor eher unterschwellig behandelt wurden, aus dem Diskussionsgetto besserwissender Gutmenschen zu befreien, zum allgegenwärtigen Tagesthema aufzuwerten und damit etwas zu bewegen. Heute würden wohl alle über solche Lieder twittern und facebooken, was wohl auch die Crux bei einem Thema wie „Du bist durchschaut“ ist. So wird dieser Klagegesang eher nur die Vorurteile der digital naïves bedienen. Ein Lied zum Abnicken. Nachdenklich macht eher das ungewöhnlich schmissige „Alles ist so easy“, in dem Jürgens sich ausgesprochen pointiert über den Denglish-Wahn ausläßt, in dem wir nur noch chatten, jetten und walken. Was alten Herren wie uns eben in der Gegenwart so unangenehm auffällt.
Updates: „Im Geiste meint man, hinter jeder neuen Zeile mit Brechstangen-Reim einen Karnevals-Tusch zu hören“, so Stefan Winterbauer in Meedia.
Inzwischen ist auch der vollständige Text auf der Webseite des Künstlers online.
„Der große Entertainer gehört einer Generation an, die noch Briefe schrieb, an Türen klingelte und Blumen verschenkte.“ „Bild“ steigt ins Thema ein.
Die „Süddeutsche Zeitung“ interviewt den Internet-Ausdrucker Jürgens zum Thema. „Die Herrscher müssen nichts so sehr fürchten wie diese neuen Möglichkeiten in der Online-Welt.“ Privat dagegen „können diese Möglichkeiten eine Lebenskatastrophe bedeuten.“
2 Kommentare:
Der Mann tut eben alles, damit seine Zielgruppe nicht vor ihm das Zeitliche segnet. Bei so einer radikale Verjüngung auf die Twens und Digital Natives dieser Republik muss Herrn Jürgens über einen spitzen Berater- und Texterstamm verfügen...
Ein halbes Dutzend der am letzten Album Beteiligten stand am Donnerstag auch auf der Bühne und jeder von ihnen bekam eine goldene Schallplatte.
Wußte gar nicht, daß neben dem Künstler auch noch die Entourage so belohnt wird. kein Wunder, daß so viele Goldene dann auf den Flohmärkten und bei eBay auftauchen. ist ja geradezu inflationär...
Kommentar veröffentlichen