Dieser Text erschien 1980 in der zweiten Ausgabe meines Jugendmagazins „Outonom“. Bald darauf kaufte ich die deutschen Lizenzrechte an Valérie Valères „Obsession Blanche“ und veröffentlichte den Roman unter dem Titel „Weißer Wahn“ im eigens dafür gegründeten Popa-Verlag. Valérie Valère starb noch vor Erscheinen dieser Ausgabe.
MÜNCHEN, am frühen Nachmittag. Was sie, in Paris, jetzt wohl gerade macht? Vielleicht schläft sie oder schreibt an einer Kurzgeschichte. Vielleicht geht sie im Luxembourg spazieren, besucht eine Vorlesung an der Sorbonne, schaut sich gerade die Fassbinder-Retrospektive an oder kauft ein Buch bei Magnard?
VALÉRY wurde mit dreizehn in eine Heilanstalt eingewiesen. Vier Monate dauerte die „Heilung“ – eine Akte für die Erfolgsstatistik. Doch mag auch der Anlaß ihrer Internierung, die Verweigerung jeglicher Nahrungsaufnahme, beseitigt worden sein, so blieb doch der Grund. Zwei Jahre später schreibt sie sich ihre Erlebnisse, ihre aus dem Aufenthalt entstandenen Ängste von der Seele und veröffentlicht sie, da noch minderjährig, unter dem Pseudonym Valérie Valère.
„Le pavillon des enfants fous“ („Das Haus der verrückten Kinder“) ist kein Bericht einer Heilung wie Hannah Green’s „Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen“. Mit dem „Pavillon“ teilt Valérie mit dem Leser ihre Erfahrung – nach dem Drang zu schreiben, der Drang sich mitzuteilen. Ihre Gedanken, Ängste sprechen für viele Kinder und Jugendliche, die unterdrückt werden. Ihre Sprache wird zum Schrei in der Stille der Entmündigung.
PARIS, am frühen Nachmittag. Ganz in schwarz gekleidet betritt sie den Pub Relax. Kaffee, Zigaretten. Ihr hat ein Leser aus Deutschland geschrieben; Ich helfe ihr die Adresse zu entziffern. Sie erzählt mir, dass sie nach der Veröffentlichung des „Pavillon“ Schauspielerin werden wollte. Sie besuchte eine Zirkusschule, trat in einem Fernsehspiel auf, war im Geschäft. Doch das Milieu, die Atmosphäre unter Darstellern und Regisseuren gefiel ihr nicht. Im „France-Soir“ veröffentlichte sie 1979 eine Kurzgeschichte, im „France-Soir“ – das erinnerte mich an ein Trakl-Gedicht in „Bild am Sonntag“, schmerzhaft.
Sie, sie will sich nicht über ihre Leser stellen. „France-Soir“ liest der Durchschnittsfranzose, und den verachtet sie nicht. Außerdem bleiben ihre Geschichten ein und dieselben, egal welche Zeitung sie druckt. Und wenn jemand ihre Erzählung nur deshalb schlecht findet, weil die Zeitung, in der sie steht, beschissen ist, dann liegt es wohl am Leser. Wir reden über Journalismus, über Zeitungen, dass sie lieber Bücher kauft, als das Geld für Feuilletons auszugeben.
„MALIKA“, ihr erster Roman, ist das Gegenstück zum „Pavillon“. Während sie im letzteren ihre reale Kindheit schildert, handelt der Roman von einer erträumten Kindheit – einschließlich der Alpträume. Malika und Wilfried sind Geschwister und leben bei ihrem Vater, der auf Grund von Geschäftsreisen selten zuhause ist. Die beiden versuchen neben Schule und anderen Abhängigkeiten ein eigenes Leben, ein autonomes aufzubauen. Valéry Valère schildert eine Geschwisterliebe, in der der Inzest zwar vorkommt, aber keine Rolle spielt. Es steht nicht der Sex im Vordergrund, sondern die Liebe. Nachdem die beiden nicht die Kraft zum Kämpfen und Lügen hatten, und ein Fluchtversuch misslang, als schließlich der Vater droht, Wilfried ins Heim zu stecken, eskaliert die Handlung. Dieser Schluß erinnert mich in seiner sprachlichen Intensivität, die dadurch verstärkt wird, dass Malika und Wilfried abwechselnd dem Leser erzählen und ihn so hautnah dabeisein lassen, an Emily Brontë’s „Wuthering Heights“.
VALÈRY Valère geht gern ins Kino – besonders in deutsche Filme. Sie mag den frühen Herzog, den frühen Fassbinder. Im Kino sucht sie die Realität, die sie auf der Straße nicht sieht, denn die Straßen durchwandelt sie wie eine Tote; unfähig wahrzunehmen, was um sie herum passiert. Während ihres ersten Studienjahrs kam sie nur ein einziges Mal mit einer Kommilitonin ins Gespräch. Ihre Ängste, die Aggresivität der anderen sperren sie ein. So schreibt sie Bücher, sucht über das geschriebene Wort Kontakt mit den Leuten. Ob Valéry im „Pavillon“ oder Mailka und Wilfried im Roman, sie sprechen den Leser oft direkt an, fragen ihn, warnen ihn, es entsteht eine persönliche Beziehung. Aber der Leser kann nicht antworten (das Schicksal der Literatur), höchstens Briefe schreiben. Sie weiß auch, dass viele ihre Bücher nicht verstehen oder nur zur Unterhaltung lesen. So landete „Malika“ in der Zeitschrift „VSD“ in der Liste „Choisir son plaisir“.
Valéry Valère ist heute um die 19 Jahre alt. Ihr drittes Buch („Obsession Blanche“) erscheint im Januar. Wer sich fragt, was nach 2 Büchern über Jugendliche kommt, jetzt, wo sie „erwachsen“ wird, erhält damit die Antwort. Ein Buch über einen Schriftsteller, seine Abhängigkeit von Worten und seine Einsamkeit. Die Einsamkeit wird erschüttert, als eine Stille eintritt, er nicht mehr schreiben kann. Von seiner Angst, von seiner Unreife schreibt sie, wieder aus eigener Erfahrung.
Valéry Valère hat den Beruf, den sie sich wünschte. Sie kann zur Zeit von ihren Büchern leben. Sie weiß nicht, ob sie diese Unabhängigkeit weiter aufrecht erhalten kann. Ihr drittes Buch wird schwieriger sein, vielleicht schwerer verkäuflich. Schwarz, so sagt sie, ist die Farbe der Angst und Furcht.
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Mittwoch, 24. Februar 2010
Samstag, 20. Februar 2010
Literatur als Leichentuch einer Liebe
Eine 17-Jährige Bestsellerautorin, Geschichten um tabulosen Sex, einschlägige Clubs und den Rausch der Phantasmen, und das nicht etwa in unserer Zeit, sondern Ende der siebziger Jahre, als Teenager in der Regel noch Kinder waren und die Erwachsenen nicht forever young zu bleiben trachteten.
Als ich in der „Süddeutschen Zeitung“ vom Wochenende las, daß Helene Hegemann in ihrer nachgetragenen Danksagung auch Valérie Valères „Haus der verrückten Kinder“ nennt, wunderte ich mich nicht. War Valères Leben wie Literatur doch sogar ausdrucksstark genug, um nicht nur wiederverwendet zu werden, sondern mich sogar zur Gründung eines Verlages zu bewegen.
„Das Haus der verrückten Kinder“, die Autobiografie ihrer Jugend als Magersüchtige in der Psychiatrie, war in Frankreich wie Deutschland (Rowohlt) ein Bestseller gewesen, und ich verabredete mich mit Valère um 1980 herum, um sie für meine damalige Zeitschrift „Outonom“ zu interviewen. Die – ein Jahr jüngere – Jodie Foster bei Dreharbeiten in la Victorine bei Nizza, Valérie Valère – mein Jahrgang! – zu einem Interview im Pub Relax in St.-Germain-des-Prés, es war eine ungewöhnliche Generation junger Frauen, die ich damals für meine ersten publizistischen Gehversuche traf. Von wegen „Göre“, um einen derzeit gern benutzten Vorwurf zu zitieren. Und würde Willi Winkler da auch von „Frischfleisch“ und „Kindsmissbrauch“ durch den Kulturbetrieb faseln?
Der Erfolg ihres Erstlings befreite Valère aus den Fängen ihrer Familie und jeglicher anderer Konventionen, erlaubte ihr ein selbstbestimmtes Leben, selbst wenn dieses Leben zunehmend aus der täglichen Täuschung mit Weckaminen, Barbituraten und Rauschmitteln bestand. Ihre Entscheidung.
Ihr zweites Buch, „Malika“, die inzestuöse Geschichte eines Geschwisterpaars, war auch noch in Deutschland bei Wunderlich erschienen, aber bald nur noch als ungebundene Makulatur auf Halde gelegen. Und als sie mir am Bistrotisch von ihrem neuen Roman, „Obsession Blanche“, erzählte, der rücksichtslosen Darstellung einer Schreibblockade, die in Deutschland niemand veröffentlichen wollte, änderte ich das, indem ich – mit Anfang 20, ohne Geld – den Popa-Verlag gründete und das Buch unter dem Titel „Weißer Wahn“ verlegte. (Die Druckbögen von „Malika“ kaufte ich Wunderlich ab, ließ sie binden und brachte sie ebenfalls wieder in den Buchhandel.)
Einen kleinen Skandal um Originalität und Echtheit, ein Skandälchen gibt es auch zu beichten. Das Foto, das uns beide nebeneinander zeigt und von meinem Verlag, von mir zur Öffentlichkeitsarbeit benutzt wurde, ist eine Fälschung. Eine Fotomontage. Nach dem Interview im Pub Relax haben wir uns nie mehr wiedergesehen. Valérie Valère starb 1982, mit 21, in ihrem Refugium, der erschriebenen kleinen Wohnung. Die Todesmeldung las ich irgendwo zwischen Ismaning und Oberammergau, wo das Buch gerade entstand. Ich meine mich zu erinnern, daß sie beim Rauchen in ihrem Medikamenten- und Drogenrausch eingeschlafen und verbrannt wäre. Auf Wikipedia ist von einem Herzstillstand nach Medikamentenmißbrauch die Rede. Geschichten von Wunderkindern sind meist Tragödien, das sollte man nie vergessen.
Als ich in der „Süddeutschen Zeitung“ vom Wochenende las, daß Helene Hegemann in ihrer nachgetragenen Danksagung auch Valérie Valères „Haus der verrückten Kinder“ nennt, wunderte ich mich nicht. War Valères Leben wie Literatur doch sogar ausdrucksstark genug, um nicht nur wiederverwendet zu werden, sondern mich sogar zur Gründung eines Verlages zu bewegen.
„Das Haus der verrückten Kinder“, die Autobiografie ihrer Jugend als Magersüchtige in der Psychiatrie, war in Frankreich wie Deutschland (Rowohlt) ein Bestseller gewesen, und ich verabredete mich mit Valère um 1980 herum, um sie für meine damalige Zeitschrift „Outonom“ zu interviewen. Die – ein Jahr jüngere – Jodie Foster bei Dreharbeiten in la Victorine bei Nizza, Valérie Valère – mein Jahrgang! – zu einem Interview im Pub Relax in St.-Germain-des-Prés, es war eine ungewöhnliche Generation junger Frauen, die ich damals für meine ersten publizistischen Gehversuche traf. Von wegen „Göre“, um einen derzeit gern benutzten Vorwurf zu zitieren. Und würde Willi Winkler da auch von „Frischfleisch“ und „Kindsmissbrauch“ durch den Kulturbetrieb faseln?
Der Erfolg ihres Erstlings befreite Valère aus den Fängen ihrer Familie und jeglicher anderer Konventionen, erlaubte ihr ein selbstbestimmtes Leben, selbst wenn dieses Leben zunehmend aus der täglichen Täuschung mit Weckaminen, Barbituraten und Rauschmitteln bestand. Ihre Entscheidung.
Ihr zweites Buch, „Malika“, die inzestuöse Geschichte eines Geschwisterpaars, war auch noch in Deutschland bei Wunderlich erschienen, aber bald nur noch als ungebundene Makulatur auf Halde gelegen. Und als sie mir am Bistrotisch von ihrem neuen Roman, „Obsession Blanche“, erzählte, der rücksichtslosen Darstellung einer Schreibblockade, die in Deutschland niemand veröffentlichen wollte, änderte ich das, indem ich – mit Anfang 20, ohne Geld – den Popa-Verlag gründete und das Buch unter dem Titel „Weißer Wahn“ verlegte. (Die Druckbögen von „Malika“ kaufte ich Wunderlich ab, ließ sie binden und brachte sie ebenfalls wieder in den Buchhandel.)
Einen kleinen Skandal um Originalität und Echtheit, ein Skandälchen gibt es auch zu beichten. Das Foto, das uns beide nebeneinander zeigt und von meinem Verlag, von mir zur Öffentlichkeitsarbeit benutzt wurde, ist eine Fälschung. Eine Fotomontage. Nach dem Interview im Pub Relax haben wir uns nie mehr wiedergesehen. Valérie Valère starb 1982, mit 21, in ihrem Refugium, der erschriebenen kleinen Wohnung. Die Todesmeldung las ich irgendwo zwischen Ismaning und Oberammergau, wo das Buch gerade entstand. Ich meine mich zu erinnern, daß sie beim Rauchen in ihrem Medikamenten- und Drogenrausch eingeschlafen und verbrannt wäre. Auf Wikipedia ist von einem Herzstillstand nach Medikamentenmißbrauch die Rede. Geschichten von Wunderkindern sind meist Tragödien, das sollte man nie vergessen.
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