Das von Indianern angelegt Wasserlabyrinth ist nur ein kleiner Rest des weitläufigen Seengebiets, das die Hauptstadt der Azteken umgab. Heute leben im trockengelegten Hochtal von Mexiko-Stadt 25 bis 30 Millionen Menschen. Auf den ersten Blick ein Wirrwarr aus tristen Vorstädten und überfüllten Schnellstraßen, grauen Häuserblöcken und kalt glitzernden Wolkenkratzern wie mein Hotel „Gran Meliá México Reforma“. Man muß nach Oasen wie den Schwimmenden Gärten schon gezielt suchen. Oder bekommt sie wie ich auf dem Präsentierteller gereicht.
Denn ich habe den Urlaub entspannt angepackt, die Reiseführer liegen lassen und mich auf eine organisierte Studienfahrt ins Reich der Azteken und Maya begeben: Ferien aus der prall gefüllten Wundertüte. Nur die groben Umrisse des Überraschungspaketes ließen sich erahnen: die Stufenpyramiden von Palenque und die Tempelanlagen von Teotihuacán, die Indiodörfer in Chiapas und zum Einstieg eben Mexiko-Stadt.
Wie Mexiko überhaupt aus dem Zusammenprall zwischen Indianern und spanischen Conquistadoren entstanden ist, zeigen Diego Riveras monumentale Fresken im Nationalpalast. Von 1926 bis 1945 hat der Künstler auf 450 Quadratmetern Aztekenherrscher und spanische Eroberer, Machos und Freiheitskämpfer, Maisbauern und Kautschuksammler, Pfaffen und eine indianische Liebesgöttin (mit den Gesichtszügen von seiner Ehefrau Frida Kahlo) in ihren Lebenswelten porträtiert. Ein farbenprächtiges Historienbild, zumal hier und heute auch noch vor dem Palasttor Nachfahren der Azteken in ihren traditionellen Kostümen tanzen, als wären sie eben diesen Wandgemälden entsprungen. Reine Touristenshow? Eher nicht, denn – wie nahezu überall in der Hauptstadt – ausländische Touristen sind rar. Um uns herum lauter Einheimische, die der Folkloregruppe zuschauen, beim Straßenhändler Tortillas aus blauem Mais naschen oder Schlange stehen, um sich von einem Schamanen ihre katholische Seele reinigen zu lassen. Jahrmarktstimmung scheint hier alltäglich zu sein, und wir lassen uns gern von ihr einfangen.
Natürlich ist Mathias, unser Reiseleiter, in Kultur und Geschichte bewandert, aber uns begeistert ebenso, dass er auch Mexikos beste Konditorei kennt. Bis spätabends verkauft die „Pastelería Ideal“ in der Ave. 16 de Septiembre Feingebäck und Kuchen. Die bis zu 90 Kilo schweren, mehrstöckigen Torten sind schon recht unhandlich. Aber ein kleiner Flan mit Früchten ist die perfekte Stärkung, denn wir wollen anschließend im Alameda-Park noch mitfeiern, wenn mehrere Kapellen lautstark um ihr tanzendes Publikum wetteifern.
Zu spät darf es nicht werden, denn am nächsten Morgen geht es in aller Herrgottsfrühe ins Anthropologische Museum, der nationalen Schatzkammer vorkolonialer Kunst. Jade-Mosaiken und Alabasterfiguren, Türkismasken und Perlmuttarbeiten, aus Muscheln geknüpfte Rüstungen und prachtvolle Federkronen, Kalendersteine und Kolossalfiguren zeigen die Vielfalt bekannter indianischer Kulturen wie die der Mixteken, Maya oder Azteken und der bis heute unbekannten wie namenlosen Erbauer der Tempelstadt Teotihuacán. Als wir später 50 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt auf der über 60 Meter hohen Sonnenpyramide von Teotihuacán stehen und die kilometerweite Monumentalanlage mit ihren Stufenbauten, Tempeln und der Zitadelle überblicken, verstehe ich, dass für die Azteken nur Riesen oder Götter als Baumeister in Frage kamen.
Einige Stämme halten ihre jahrtausendealte Tradition bis jetzt am Leben. Mit dem Flugzeug reisen wir 1000 Kilometer in Mexikos südlichsten Bundesstaat Chiapas, ein Zentrum der Maya-Kultur, wo heute noch zwölf Maya-Sprachen in Gebrauch sind und jedes Dorf seine eigene Tracht pflegt. Einer bunten Auswahl von ihnen begegnen wir bereits auf dem Indiomarkt von San Cristóbal de las Casas. In dem Gewirr der Marktstände reißt unsere zwölfköpfige Reisegruppe rasch auseinander. Ich bleibe bei den kitschigen Votivkerzen hängen, während Ditmar auf der Suche nach der regionalen Kaffeespezialität, dem „Tostador“, verloren geht und Tanja nach der schärfsten Salsa picante als Mitbringsel sucht. Außerhalb des Marktes finden wir uns schnell wieder, da das Städtchen mit seinen einstöckigen Kolonialbauten im maurischen Stil recht überschaubar ist. Mittendrin unser Hotel „Diego de Mazariegos“, das mit seinen Kolonnaden, Brunnen und Patios die schönste Kulisse für einen Zorro-Film böte. Doch wahrscheinlich hätte selbst Antonio Banderas Respekt vor der hauseigenen Cocktailbar, in der Tequila mit Maggi, Wodka, Rum, Weißwein und Bier zusammengemixt wird.
Den starken Mokka, den uns Tomasa, Catalina und Maria am nächsten Morgen servieren, kann ich gut gebrauchen. Wir sind zu Gast im Indiodorf San Lorenzo Zinacantán, wo die drei bei sich zu Hause den traditionellen Hüftwebstuhl vorführen und Ponchos, Taschen und Decken verkaufen. Zwischendurch laden sie uns auf ein paar frisch gebackene Tortillas ein, die wir mit Bohnen, Avocado, Salsa, Würstchen oder Käse füllen. Die von ihnen beim Backen benutzte Maismühle gleicht den im Anthropologischen Museum ausgestellten archäologischen Funden. Doch in Glaubensfragen hat die Maya-Kultur sich scheinbar modernisiert. Statt gefiederter Schlangen und Jaguarköpfen hängt am Hausaltar das Marienbild der Jungfrau von Guadalupe.
„Solange sich meine Schäfchen als katholisch empfinden, sind sie katholisch“, freute sich ein Bischof von San Cristóbal. Ihn störte nicht, dass die Indios ihrem Glauben nicht wirklich abschworen, sondern die Verantwortung für Regen, Fruchtbarkeit oder Ernte einfach katholischen Heiligen übertrugen, aber zugleich Bänke, Altäre und Priester aus den Kirchen entfernten und fortan einen heidnisch-katholischen Kult in Eigenregie betrieben. In der weißen Dorfkirche von Zinacantán finden wir sogar noch alte Tiergottheiten wie Hirsch, Jaguar und Ozelot. Leider ist Fotografieren verboten, und auch bei unserer nächsten Station dürfen wir die Kamera nicht benutzen.
Den Bus lassen wir bereits am Dorfrand stehen. Heute ist San Mateo, kein wichtiger Feiertag, aber in San Juan Chamula, wo ein wahnhaft-religiöser Kult das Leben bestimmt, Grund genug für eine mitreißende Kirmes. So weit das Auge reicht, bieten Indios Leckereien und Grundbedarfsmittel an wie Stockfisch, Zuckerrohr, die süße Zitronenfrucht Lima oder den Cremeapfel Cherimoya, während mit langen Holzknüppeln bewaffnete Dorfpolizisten in schwarzen und weißen Wollumhängen patrouillieren. Durch die überfüllte Hauptstraße schiebt sich eine maskierte Prozession, aus der heraus Feuerwerksraketen abgefeuert werden. Auf dem Kirchplatz trinken sich Männer Mut an, bevor sie unter die mit Böllern bestückte Stierattrappe schlüpfen und zu lautem Gekrache herumtänzeln. Das Geballere soll böse Geister vertreiben. Aus einem ähnlichen Grund hat das Land den weltweit größten Cola-Verbrauch. Cola ist in Mexiko heilig. Ein Zaubertrank, mit dem man die globale Macht des Coca-Cola-Konzerns auf sich übertragen und zugleich schlechte Energie wegrülpsen kann. In einigen Regionen hat sich die Pepsi-Reformation durchsetzen können, doch in Chamula gibt Coke den Ton an.
Deshalb sind Cola-Flaschen im Gottesdienst ebenso wichtig wie das Kerzenmeer und die Hühneropfer, wenn Hunderte von gläubigen Chamulas lautstark mit ihrem himmlischen Schutzpatron schachern. Der Erfolg der Fürbitten lässt sich leicht erkennen: Wirkungsvolle Heiligenfiguren glänzen in Festkleidung, die oft gewechselt wird, und sind vielfach mit Spiegeln behängt, um böse Wünsche auf den zurückfallen zu lassen, der sie äußert. Die Erfolglosen stehen dagegen ungeschmückt in der Ecke und können froh sein, wenn ihnen nicht ein Körperglied abgeschlagen wird. Offenbar hat unsere Reisegruppe den richtigen Heiligen angefleht, denn das angekündigte Unwetter setzt erst ein, als wir das Hochland verlassen, um 200 Kilometer weiter ins tropische Palenque zu fahren. Danke, San Mateo!
Ausgerechnet im Regenwald lacht uns die Sonne wieder zu. Wir sind bereits in der archäologischen Zone von Palenque, doch die Maya-Palastanlage entdecken wir erst, als wir unmittelbar davor stehen, so innig werden die Residenzbauten vom Dschungel umarmt. Die Tempel und Gemächer sind spektakulär gut erhalten: Schwitzbäder und ein Ballspielplatz, fließend Wasser und ausgeklügelte Belüftungsbauten, großzügige Zimmerfluchten und ein kleines Observatorium, prächtige Altäre und Grabmäler – würden wir nicht auch so wohnen wollen, wenn wir Herrscher des Jaguarthrons wären? Ein Deutscher hat das schon mal ausprobiert: Der Forschungsreisende und charmante Hochstapler Johann Friedrich Graf von Waldeck, dessen Zeichnungen Palenque berühmt machten, hat jahrelang in diesen Ruinen gelebt. Statt musealer Stille umgibt uns wie damals der Singsang der Brüllaffen, Zikaden und Grillen. Er hallt in unseren Ohren wider, während wir Fürstin San Kuk mit ihrem Sohn Pakal, Drachen, Göttervögel und viele andere Stuckfiguren, Reliefbilder und Schriftzeichen, die das Leben der Maya anschaulich vorführen, bestaunen. Jetzt erwartet uns leider ein Donnervogel der profanen Art: das Flugzeug Richtung Heimat.
(Foto: Martijn Munneke/flickr)
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