Dienstag, 11. Januar 2011

Der, die, das – Unauthorisiertes von der Frankfurter Allgemeinen?

Seitdem ich mich mit Blogs beschäftige, was nicht sonderlich lang ist, gerade mal vier Jahre, seitdem ich mich jedenfalls mit der Blogosphäre befasse, verfolgt mich der vehemente Streit, ob es nun der Blog oder das Blog heiße. (Die arg kleine Fraktion der Anhänger eines weiblichen Artikels, auch als Spaßguerilla bekannt, vernachlässige ich hier einmal.) Und selbst als ich – im Juli 2006? – exklusiv melden konnte, daß die „Duden“-Redaktion in ihren salomonischen Unergründlichkeit beide Möglichkeiten zuließ, wollte der Streit nicht wirklich abebben. Ganz im Gegenteil. Burdas oberster Blogwart Heiko Hebig blökt unverdrossen, wenn auch inzwischen zeitgemäß via Twitter, immer „DAS Blog“, wenn ein anderer Gegenteiliges behauptet.
Nun präsentiert die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ anläßlich des Erscheinens des Erinnerungsbüchleins „Modestrecke – Unterwegs mit Les Mads“ ein Interview mit der für Burda bloggenden Jessica Weiß. „Die Fragen stellte Anke Schipp. Doch wer formulierte die Antworten? Denn niemand von Heiko Hebigs Schützlingen würde doch zu behaupten wagen, „der Blog war am Anfang eher ein Tagebuch für Freunde und Bekannte“. DER Blog? Weiß dementierte flugs, jemals den männlichen Artikel gebraucht zu haben: „Das Blog ist Pflicht - da hat die Autorin wohl mit interpretiert :)“. Hebig wies auf das Impressum des Büchleins hin: „Das Blog Lesmads.de wird herausgegeben von Hubert Burda Media“ („herausgegeben“?). Und so harre ich einer Antwort der sonst überaus seriösen „Frankfurter Allgemeinen“, ob da Schipp eigenmächtig Hand angelegt hat – oder die Schlußredaktion?
Update: Anke Schipp nimmt es auf ihre Kappe, daß sie beim Abtippen und Bearbeiten des Interviews „vermutlich“ den Artikel geändert hat. „Allerdings hat Jessica Weiss die Version, die in der Zeitung stand, autorisiert, sie hat es offenbar dann leider auch übersehen.“

Montag, 10. Januar 2011

nachgefragt: Thomas Rupprath

Während meiner Zeit als fester Freier bei der „Cosmopolitan“ habe ich zwei Jahre lang auch bei „Shape“ mitgearbeitet und dort unter anderem einen Fragebogen entwickelt und betreut. Neben diversen Fragen gaben wir dem Promi jeweils auch noch die Möglichkeit, sich selbst zu zeichnen und uns einen Schnappschuß aus seiner Kindheit zu zeigen. Im Dezember 2004 war „nachgefragt“ dem Rekordschwimmer Thomas Rupprath gewidmet. Wer hätte geahnt, daß er sich sechs Jahre später für „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“ (Foto: RTL/Stefan Gregorowius) qualifiziert? Ob er seine Körperpflege von Biotherm Homme ins Dschungelcamp mitnehmen darf?

„Obsession“: Peter Sehrs dissonantes Spiel behaupteter Leidenschaften

Leidenschaft ist keine Frage der Masse. Die Steigerung der Lust durch Häufchenbildung mag noch für kleine Kinder gelten, die Bauklötzchen aufeinanderstapeln oder Fruchtzwerge in sich hineinspachteln. In Fragen der Liebe erscheint die Vorstellung recht kindisch, daß eine Frau, die zwei Männer liebt, allein deswegen schon größere Leidenschaften durchlebt als eine Frau mit nur einem Partner.
Aber Regisseur Peter Sehr („Kaspar Hauser“) ist in diese Vorstellung so vernarrt, daß er es nicht einmal dabei beläßt, sondern gleich zwei Ménages à trois in seinen Film packen muß: zwei Frauen mit jeweils zwei Männern und keinem Hauch von Leidenschaft. Allein der intellektuelle Kraftakt, sechs Figuren samt ihrer Handlungsstränge zu entwickeln und miteinander zu verknüpfen, hätte die 114 Filmminuten anstrengend werden lassen.
Doch gemach, da steckt noch mehr drin: ein dem Holocaust entkommener Jude, der gerne glitzernde Knöpfe stiehlt und darob vom bösen, deutschen Kaufhausdetektiv gejagt wird; ein französischer Wissenschaftler, der dem Tod ein Schnäppchen schlagen will und mit Herzen experimentiert; ein weißer Afrikaner, dessen Großmutter vom Opa erschossen wurde und der die Erklärung für das Familiendrama in altem Zelluloid sucht; eine Schwangere, die aus Unachtsamkeit vom Rad fällt und ihr Kind verliert; Berliner Rechtspfleger; Pariser Straßenkünstler; Brandenburger Sakralbauten; Burgunder Dorfidyll, die Niagarafälle und so weiter und so fort.
Statt klarer Ideen und nachvollziehbarer Emotionen wird ohne jedes Gefühl für Dramaturgie und Rhythmus ein kunterbuntes Kindermenü aus dem Fastfoodangebot pittoresker Gefühle und dramatischer Spitzen hingeklatscht. Ein McGuffin auf den nächsten.
Es mag nur Berliner Zuschauer irritieren, wenn eine Verfolgungsjagd über ein paar hundert Meter in den Galeries Lafayette beginnt, nahtlos vor dem KaDeWe fortgesetzt wird und schließlich im U-Bahnhof Alexanderplatz endet. Ein für das Medium typisches Aneinanderklittern idealisierter Schauplätze ohne Rücksicht auf Gegebenheiten. Film als Fiktion.
Doch was bei Kulissen noch funktionieren mag, wirkt als Inhaltsmaxime schnell enervierend. Selbst wenn Babyface Heike Makatsch durch diesen Handlungssalat stakst, als Musikerin einer Frauenband namens „Berlin United“ sogar Pieps machen darf und die süßeste Verkörperung weiblicher Unentschiedenheit spielt.

Diese Filmkritik erschien zuerst im Kultursupplement des Berliner „Tagesspiegels“: „Ticket“ 35/97 vom 28. August 1997

Dienstag, 4. Januar 2011

Von der Gefahr, über „Focus“ zu lästern, ohne es zu lesen

Normalerweise lese ich den „Focus“ nicht – wie offensichtlich auch der Medienredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ Harald Staun. Aber anders als Staun schlage ich zumindest in dem Münchner Nachrichtenmagazin nach, bevor ich darüber lästere. „Es ist ja schwer genug, dass wir seit Monaten auf Markworts Focus-Editorial verzichten müssen“, halluzinierte er in seiner Medienkolumne vom Weihnachtswochenende (und daneben, in Niggemeiers „Focus“-Verriß, hieß es in einer Bildunterschrift: „Liest keiner, trotzdem gefährlich“). Der Schuß kann aber auch nach hinten losgehen, denn nicht minder gefährlich ist es, über ein Magazin zu lästern, daß man anscheinend nicht liest, denn – wie ich erst heute während meiner Stippvisite im Gefängnishof sicherheitshalber verifiziert habe – Markworts Tagebuch wird natürlich weiterhin gedruckt und ist nur ein paar Bögen nach hinten ins Debattenressort gewandert.

Borneo: Der Ruf der Wildnis

Das Paradies ist käuflich. Der Handel beginnt auf dem Markt von Serian, Borneo. In allen Herrgottsfarben schillern und schimmern nie zuvor gesehene Früchte, knackfrische Dschungelfarne, Chili und Kokossüßigkeiten. Selbst scheinbar Vertrautes wie Mango und Sternfrucht überrascht mit natürlich gereifter Geschmacksvielfalt.
Vom Sündenfall keine Spur. Keine genormten Turbochiquitas und abgebrühten Touristenabzocker, dafür strotzt der Markt vor krummen Formen und urtümlichen Charakteren. Während ich mich durch zahllose Sorten winziger, aromastarker Bananen koste und lerne, dass angekokelte Rattanzweige gegen Diarrhö helfen, beobachten mich die Händler amüsiert. In Malaysia bin ich die Kuriosität. Es schmeckt mir trotzdem, und die Nascherei weckt meine Sinne nach dem 14-stündigen Flugmarathon. Ich werde sie auf diesem schwülen Tropentrip brauchen.
Nur zehn Tage habe ich Zeit, dem Winter zu entkommen und mein Defizit an Sonne, Sanftmut und Sinnlichkeit auszugleichen. Borneos malaysischer Nordteil schien perfekt: Die Kopfjäger längst ausrangiert, aber noch keine Touristenhorden an der Tagesordnung. Sonne satt bei 35 Grad, doch genug Action, um mich nicht zu langweilen. Eintauchen in mystisch klingende Provinzen wie Sabah und Sarawak – aber mit Flipflops an den Füßen und nicht ausstaffiert wie Indiana Jones. Pure Projektion? Vielleicht, aber schließlich beginnt der Urlaub im eigenen Kopf.
Und der traf eine weise Vorentscheidung: die Individualität zurückzustellen und organisiert zu reisen. Natürlich gibt es auf Borneo Rucksacktouristen, die sich wochenlang dahintreiben lassen. Und sogar deutsche Fahrradfundis, die sich die Insel kilometerweise erstrampeln. Mit Blick auf meinen Zeitplan schloß ich mich aber einer geführten Gruppe an, schließlich haben selbst auf Borneo Nationalparks Öffnungszeiten.
Und die klassische Dschungelnacht im Langhaus will auch organisiert sein: Zu acht machen wir uns auf ins Herz der Finsternis, steigen vom Bus in Langboote um, oftmals das einzige Transportmittel zu den landeinwärts gelegenen Siedlungen. Das Gepäck bleibt im bewachten Bus zurück, wir tragen nur das Nötigste für eine Nacht und Gastgeschenke für den Stamm mit uns.
Der Fahrtwind den Lemanak-Fluß hoch bietet eine unerwartete Erfrischung, denn seit meiner Ankunft schwitze ich nur noch, wenn auch auf die denkbar (zweit-)schönste Art: Borneo bettet mich in einen schwülen Tagtraum. Ob zu Land, in der lauwarmen Südchinesischen See oder in einem der Hotelpools: Ständig umgibt mich ein feuchtwarmer, durchaus entspannender Kokon, der alles frischer und lebendiger wirken lässt.
Hoch über dem Fluss wartet Borneos Antwort auf den Club Med: Ringelpitz beim Häuptling. Doch auch wenn der Chief wahrscheinlich jeden Tag eine andere Gruppe zu Gast hat, gibt er uns das Gefühl, einen besonderen Abend zu erleben – und das nicht mit angestellten Animateuren, sondern im Herzen eines Iban-Clans. Im Langhaus wohnen sie alle unter einem Dach. Es gibt Kunsthandwerk zu Schnäppchenpreisen und nach dem Chefmenü ein Besäufnis mit Reiswein und -schnaps. Die Hauptattraktion erwartet mich im Gästehaus: Unterm Moskitonetz lausche ich dem nächtlichen Regenwald. Die wildesten Klänge stammen zwar von den unscheinbarsten Grillen, aber in der Fantasie wird daraus ein wüstes Spektakel.
Näher will ich dem brünftigen Stück Natur aber nicht rücken. Während ich im Boot zurückfahre, laufen die anderen bei strömenden Regen durch den Wald. So apart ich es auch finde, dass dort weibliche Blutegel nur Männer anspringen und männliche die Frauen, bleiben es doch Dschungelparasiten, denen ich gerne aus dem Weg gehe...
Borneos grünes Herz betrachte ich lieber aus der zweimotorigen Twin-Otter, die uns nach Mulu fliegt. Wieder ist nur kleines Gepäck erlaubt, angeblich lässt der Pilot jeden Passagier wiegen. Aber davon keine Spur. Dabei hätte ich gern gewusst, ob die Borneo-Diät (Reis, Fisch, Geflügel, scharf angebratenes Gemüse aus dem Wok) anschlägt...
Wie die meisten Hotels auf Borneo ist auch das Royal Mulu Resort keine durchklimatisierte Trutzburg, sondern ein Ensemble offener Veranden. Im lichten Nebeneinander von Lobby, Restaurant und Bar tummeln sich Geckos auf Insektenjagd. Den Eidechsen entgehen die Riesenbrummer natürlich – prompt knallt mir ein handtellergroßer Käfer an die Brust. Zum Glück kann man zumindest sein Zimmer herunterklimatisieren – in diesen Breitengraden reichen 20 Grad, um Spinnen in Kältestarre verfallen zu lassen.
Hier in Mulu komme selbst ich nicht um den Dschungel rum. Auf einem kilometerlangen Steg marschieren wir durchs Tropenholz, über uns träge flatternde Nashornvögel, rechts von uns der erste Orang-Utan. Ohne Führer hätten wir ihn nie im Unterholz entdeckt, und selbst jetzt verdichten sich Schattenspiel und Knackgeräusche eher zu einer Ahnung denn zur Gewissheit.
Heute steht der Rotschopf auch noch gar nicht auf dem Programm. Unser Interesse gilt den Tropfsteinhöhlen von Mulu, mit 554 Quadratkilometern die größte Höhlenkette der Welt. Fasziniert betreten wir Borneos offenen Bauch, erkunden die Unterwelt und nutzen die Gelegenheit, um uns vor der Clearwater Cave in einem Bach abzukühlen, den die Höhlenquelle speist. Die Führer bereiten ein Picknick vor, und wir fühlen uns so wohl wie die Millionen Fledermäuse, die hier hausen und abends bei ihrem Formationsflug ein spektakuläres schwarzes Himmelsband knüpfen.
Das ist nicht Draculas Reich, aber auf dem Nomadenbazar von Mulu treffe ich doch gewisse Vorkehrungen. Während sich die Mitreisenden auf Flechtwerk, Blasrohre und Ethnoschmuck stürzen, entdecke ich bei einer greisen Nomadin finger- bis faustgroße Kreuze aus neonbunten Plastikperlen und kaufe die halbe Produktion auf – denn wer will schon jeden Tag dasselbe Kreuz tragen?
Was soll man auch sonst aus Borneo mitbringen? Ob auf dem Nachtmarkt von Sibu oder in den Boutiquen von Kuching: überall meist schlechte Sportswear-Kopien und Pokemons aus chinesischen Sweatshops. Erst die Einkaufsmeile von Sandakan rettet meine Stimmung: Ob Satteltaschen, Denim-Look oder Graffiti-Muster: alles da, alles Fake, aber keine langweiligen Kopien, sondern einzigartige Variationen.
Bei aller Tropenromantik lebt Malaysia am Puls der Zeit: keine Stadt ohne McDonald's. Der Mangosaft kommt selbst im Langhaus aus der Nestlé-Dose, dafür setzt man im Fremdenverkehr auf Öko-Tourismus. Auf dem Markt gibt es nicht nur die neuesten George-Clooney-DVDs, sondern sogar Tom Tykwers „Lola rennt“, und unser spleeniger Führer Fernando behauptet, er hätte einen pink gefärbten Riesenpudel daheim. Nach dem gemeinsamen Bootstrip zur Sukau Rainforest Lodge traue ich ihm das zu.
Denn Fernando ist unser Dr. Dolittle. Während um uns Reisegruppen mit schweren Außenbordern Amok fahren, führt er uns mit lautlosem Elektroantrieb mitten unter die Tiere. Pirscht sich an Nasenaffen heran, lässt uns Warane und Paradiesvögel entdecken, zeigt uns den Fischer, der die Flusskrebse für das Abendessen aus dem Wasser holt.
Meinen letzten Naturfilm sah ich, als Grzimek noch lebte. Tiere bevorzuge ich auf einem Teller, schmackhaft zubereitet. Aber auf Borneo, als Gast in freier Wildbahn, lässt mich das tägliche Tête-à-tête nahezu hyperventilieren. Die Augen weit aufgerissen, den Finger ausgestreckt, bleibt mir nur stotterndes Staunen. Zum Glück knipsen alle die Tiere und nicht mich. Aber wer kann cool bleiben, wenn man in Sepilok den Orang-Utans so nah kommt, dass sie einem in die Tasche greifen oder das Handy wegnehmen können?
Wobei ich diesen Verlust auch erst nach zehn Tagen gemerkt hätte, als mich die Realität inklusive hektischer Klingeltöne einholte. Der Powertrip durch die Orchideeninsel, in videoclipschnellem Wechsel der Orte, Reisemittel und Erlebnisse war bei allen Strapazen eine belebende Kur für die Sinne: Neues sehen, fühlen, schmecken.
Ich habe zwar in Malaysia eine Welt kennen gelernt, in der ich kaum ständig leben will: die Polizei rigide, das Regime so muslimisch, dass man Alkohol gerade noch toleriert, im importierten „Stern“ aber alle nackten Brüste überklebt. Doch während man sich im indonesischen Südteil der Insel zurzeit die Köpfe einschlägt, leben im malaysischen Borneo die Dschungelstämme friedlich mit Malaien, Chinesen und Europäern zusammen, heiraten untereinander und erwecken den Eindruck eines toleranten kleinen Paradieses.

Dieser Reisebericht erschien zuerst in der „Cosmopolitan“ 2/2002
(Foto: Daniel Kleeman/flickr)

Montag, 3. Januar 2011

Wochenplan

Gastro-Silvester / Reitschule, Neujahrsempfang der Löwenfans gegen Rechts / Stadionwirtschaft im Grünwalder Stadion, blub club N° 1 / Pacha, Kreml goes P1, Retrospektive Anne Le Ny / Filmmuseum

Sonntag, 2. Januar 2011

Vive la chanson: Ein paar Lieblingsalben

Diese Plattenempfehlungen erschienen 2010 in Zusammenhang mit meinem Grundsatzartikel zum französischen Chanson: „Ein ganzer Roman in drei Minuten; Vive la chanson“

Charles Aznavour: „Jazznavour“
Mehr Nightclub, denn Jazzkeller: 14 von Aznavours Klassikern wie „She“ , mit dessen Hilfe uns Julia Roberts in „Notting Hill“ zu Tränen rührte, oder die bitterböse Macho-Hymne „Tu t’laisse aller“ („Du lässt Dich gehen“), die hier aber allesamt nicht mit Leidenschaft prahlen, sondern lässigst mit Unterstützung von Dianne Reeves, Michel Petrucciani und anderen Jazzgrößen eingespielt wurden.
Capitol (EMI Austria), 1999

Benjamin Biolay: „Trash Yéyé“
Nicht vom Titel irreführen lassen, der an den Chanson Yéyé des frühen Johnny Halliday denken lässt. Biolay, Gallionsfigur des Nouvelle Chanson ist zwar wie Gainsbourg von Amerika fasziniert, schwelgt hier aber – nach der Trennung von seiner Ehefrau Chiara Mastroianni – in Pariser Melancholie und Liebeskummer. Also keine Spur von Bubblegum, sondern verführerisch-trauriges Gesäusel von meditativer Klarheit, damit einem diesen Wintert warm ums Herz wird.
Virgin (EMI), 2007

Jane Birkin: „Arabesque“
Paris-London-Algier: Serge Gainsbourg und Jane Birkin waren so etwas wie das Power-Couple des französischen Chansons – und sorgen selbst nach Gainsbourgs Tod für immer neue Facetten. In diesem Konzertmitschnitt einer Begegnung Birkins mit arabischen Musikern rund um den algerischen Geiger Djamel Benyelles werden Gainsbourgs Klassiker wie „La javanaise“, „Baby alone in Babylone“ oder „Élisa“ orientalisch interpretiert.
EMI, 2003

Georges Brassens: „Le pornographe“
Ein Säle füllender Top-Star und zugleich Anarchist, einer von Frankreichs bedeutendsten Dichter und zugleich ob seiner obszönen Texte oft nicht radiotauglich: War Brassens ein einziges Paradoxon oder eben gerade die Quintessenz der Chansonkultur? Der „Pornograf des Phonographen“ mit einem Schlüsselwerk. (Oder alternativ lieber ganz unschuldig: „Georges Brassens chante les chansons de sa jeunesse“, Mercury, 2001, französische Lieder seiner Jugend von Charles Trenet und anderen – letzteres in der Regel nur über französische Händler)
Mercury (Universal), 2009

Jacques Brel: „L'Integrale“
Gesamtausgabe mit 15 CDs in einer Samtbox – und damit eine veritable Bibliothek des Belgiers, der mit jedem Chanson in drei Minuten ausdrücken wollte, wozu ein Schriftsteller einen ganzen Roman braucht. Wem das zu viel ist, der kann stattdessen zu Brels prägnanten Livemitschnitten greifen. Seine Auftritte 1961 und 1964 in der Pariser Music-Hall Olympia, dem wichtigsten Auftrittsort der Chansonniers, findet man einzeln (Philips/Universal 1988 bzw. Barclay/Universal 2004) oder als Doppel-CD (mit „Ne me quitte pas“, „Amsterdam“ aber auch einigen bei beiden Auftritten gespielten Dubletten. D.R.G. 2007).
Mercury (Universal), 2004

Camille: „Le fil“
Fast schon a cappella, sehr zurückhaltend nur mit Kontrabaß und gelegentlich auch noch einem Klavier instrumentiert, mit einer extrem ausdrucksstarken wie vielseitigen Stimme, die sich um einen alle Lieder durchziehenden Halteton windet, ihn umspielt und dann immer wieder auf eine andere Weise geradezu explodiert. (Und damit so ziemlich das Gegenteil zu Camilles säuselnden Mitwirkung bei Nouvelle Vague.) Ihre Videoclips (etwa auf YouTube oder Dailymotion) sind nicht weniger exzentrischer.
Virgin (EMI), 2005

Matthieu Chedid: „Bapteme & Je Dis Aime “
Doppel-CD mit den ersten beiden Alben von – M - alias Matthieu Chedid, der uns zwischen Rock und Chanson changierend in einen Strudel der Emotionen zieht. Nicht umsonst mit „Close to me“ von The Cure als französischsprachige Coverversion – seine eigenen Titel halten da mühelos mit. Wer eine französische Bezugsquelle hat, findet auf dem Anfang Dezember erscheinenden Live-Doppelalbum „Les saisons de passage“ (Barclay, 2010) sein aktuelles Tourneeprogramm samt einer DVD.
EMI France, 2007

Coeur de pirate: „Coeur de pirate“
Dem doch recht stupiden, aber eben gerade darum eingängigen Dance-Remix von „Comme des enfants“ ist es zu verdanken, dass die 20-jährige Béatrice Martin alias Coeur de pirate ihr Album jetzt auch in Deutschland veröffentlichen durfte. Eine unverwechselbare Stimme, mit diesem süßen frankokanadischen Akzent – und wahrscheinlich weltweit die Chansonsängerin mit den meisten Tattoos.
Le Pop (Groove Attack), 2010

Julie Delpy: „Julie Delpy“
Zwar nicht mehr lieferbar, aber gebraucht erhältlich. Und die Suche wert! Die Schauspielerin („Before sunrise“, „Homo faber“, „2 Tage Paris“) singt nicht nur vor der Kamera, sondern auch wo es sich sonst immer anbietet über Liebeskummer, One-night-stands und ihr Leben als Französin in Los Angeles. Jeder Mann, der ein Date mit ihr hat, sollte sich Mühe geben. Sonst verewigt sie ihn, kaum wieder daheim, in einem Chanson.
Pias, 2003

Jacques Dutronc: „Best Of – 3 CD “
Mit Sicherheit der coolste Hund unter all den Chansonsängern und das schon seit über 50 Jahren. Fast ebenso lange nahezu immer mit der Sonnenbrille auf der Nase, Alkohol zur Hand und an einer Zigarre herumspielend. Françoise Hardy liebt ihn trotzdem. Und ich empfehle nur ausnahmsweise eine „Best of“-Edition, nur meine Lieblingstitel wie „J’aime les filles“, „Les Playboys“, „Il est cinq heures, Paris s’eveille“ und „L’hôtesse de l’air“ beisammen sind.
Vogue (Sony Music), 2009

Serge Gainsbourg: „Comic Strip“
Zwar kein Originalalbum, sondern nur eine posthume Kompilation, die aber mit ihren Pop-Klassikern („Je t’aime“, „Bonnie and Clyde“, „Ford Mustang“) wie aus einem Guß wirkt. Und alle Klischees bedient, die Tugendwächter wie das DDR-Standardwerk zur Chansonkultur in Wallung versetzt: die „Sprache, ein verstümmeltes, von Amerikanismen und Rauschgift-Modetermini durchsetztes Französisch“, das – mit tatkräftiger Unterstützung Brigitte Bardots und Jane Birkins – „alle humanistischen Werte in Frage“ zu stellen scheint.
Philips (Universal), 1997

France Gall: „Babacar“
Kein bisschen Baby Pop wie bei ihrem Grand-Prix-Sieg 1965 mit „Poupée de cire, poupée de son“ mehr. Schließlich ließ sie sich das Material auch nicht mehr von dem zynisch-verspielten Gainsbourg schreiben, sondern von Michel Berger, ihrem Ehemann und einem der bedeutendsten Chansonkomponisten. Nicht zuletzt dank ihm war France Gall hier mit 40 auf dem Höhepunkt der Kunst. Ihre Ella-Fitzgerald-Hommage „Ella elle l’a“ und „Babacar“ wurden auch außerhalb Frankreichs zu Hits.
Wea (Warner), 1988

Katerine: „RoBOTS après tout“
Daft Punks „Human after all“ setzt Philippe Katerine die Roboter entgegen. Extrem tanzbarer Elektro-Chanson, bitterböse und so schnell, als ob ein Duracell-Hase auf Speed wäre. In den USA müsste man vor den „explicit lyrics“ warnen. In Frankreich folgerichtig Katerines erfolgreichstes Album, bei dem er nicht nur mit den Identitäten von Menschen und Maschinen spielt, sondern auch mit den Geschlechterrollen.
Bungalow (rough trade), 2006

Sandrine Kiberlain: „Manquait Plus Qu'Ça“
Vor allem wegen der Coverversion des Beatles-Songs „Girl“ (oh Gott, ist das sexy, wenn Französinnen englisch singen). Aber die rotblonde sommersprossige Schauspielerin ist auch bei ihrem eigenen Chansonmaterial mehr als überzeugend – und so ganz anders als in ihren Filmen. Während sie auf der Leinwand meist etwas Verschlossenes, Geheimnisvolles in sich trägt, ist dieses Debütalbum von einer ansteckenden Beschwingtheit.
Virgin (EMI), 2006

Louise Attaque: „Comme on a dit“
Das seltene Phänomen einer Chanson-Gruppe. Oder doch eine Rockband? Denken Sie einfach an „Element of crime“: wenn sie deren Alben mögen und als Chanson durchgehen ließen, dann erst recht auch die Jungs von Louise Attaque. Mit Akustikgitarre, Geige, Baß und Schlagzeug sehr nahe am Folk.
Atmospherique (Alive), 2007

Henri Salvador: „Chambre avec vue“
Der legendäre, seit den dreißiger Jahren an der Seite von Django Reinhardt oder Boris Vian gefeierte Jazzpianist, Chansonsänger und Schauspieler war in Vergessenheit geraten, bis Benjamin Biolay und Keren Ann dem 83–Jährigen mit diesem ausgesprochen relaxten Album ein sensationelles Comeback verschafften. Der Charme quillt hier mit jeder Note aus dem Lautsprecher.
Virgin (EMI Austria), 2001

Emilie Simon: „Végétal“
Ihren Durchbruch feierte sie mit dem englischsprachigen Soundtrack („All is white“, „The frozen world“) zu dem oscargekrönten Dokumentarfilm „Die Reise der Pinguine“, aber ihr überwiegend französisches Konzeptalbum „Végétal“ mit seinen Blumen des Bösen ist einfach sinnlicher. Als ob Alice statt ins Wunderland den botanischen Garten aufsuchte und sich dem Klatschmohn und Lotus hingäbe.
Barclay (Universal), 2008

Surftip: Le Hall de la chanson (französischsprachiges Dokumentationszentrum, aber mit vielen Bildern, Klangproben und Podcasts)
Dieser Text ist zuerst in „Sono Plus“ Dezember 2010 veröffentlicht worden

Samstag, 1. Januar 2011

Ein ganzer Roman in drei Minuten: Vive la chanson

Im Grunde war er nur seiner Zeit voraus. Denn Troubadix, der Barde eines kleinen gallischen Dorfes, kam dem Idealbild eines Chansonkünstlers schon recht nahe. Er sang, ohne eine nennenswerte Stimme zu besitzen. Zelebrierte seine Auftritte als Ein-Mann-Show. Unterstützt von nur einem Instrument. Und dass sein Auftritt stets zu tumultartigen Auseinandersetzungen führt, erinnert an Gilbert Bécaud, der seinen Spitznamen „Monsieur 100.000 Volt“ weniger der Bühnenpräsenz verdankt als einem Auftritt 1954, bei dem er sein Klavier und das entfesselte Publikum den Saal zertrümmerte. Aber natürlich waren das Tumulte der Begeisterung, während bei Troubadix eindeutig das Entsetzen überwiegt.
„Mit ihrer Stimme können Sie höchstens ein stummer Komiker werden“, nein so scholt man nicht den Barden, sondern Charles Aznavour, den Kritiker anfangs bezahlen wollten, „damit er schweigt“.
Der einzige Grund, warum Troubadix nicht als ACI, als Auteur-compositeur-interprète, die Höchstform der Chansondarbietung, Furore machte, war wohl, dass es noch kein Showbusiness gab – und damit auch noch nicht den Chansonnier, die welsche Form des Singer/Songwriters. Denn das Chanson als Genre ist ein Phänomen der modernen Stadt und ihrer Auftrittsmöglichkeiten, eine aus dem Kommerz geborene Kunst .
Gesungen wurde in Frankreich schon immer gern, wobei der Ausdruck Chanson in seiner ursprünglichen Form alle Sangesdarbietungen, von der Minne über das Versepos eines Rolandsliedes bis hin zu Bänkelliedern, Marschgesängen, Gassenhauern und Volksweisen wie „Sur le pont d'Avignon“, umfasste. „Würde ganz Frankreich von der Erde verschlungen, nur die Brettlsänge nicht, sie gäben das Bild seines Landes“, so der Kritiker Alfred Kerr über ein nationales Liedgut, das denn auch in einer Anthologie mit fast 10.000 Kompositionen die „Histoire de la France par les chansons“ verspricht, eine Landesgeschichte in Liedform.
Zahllose Gesangsvereine pflegten dieses Gut, bis dann im 19. Jahrhundert das Brettl: Café-concerts und Kabarettbühnen wie das legendäre „Chat Noir“ die Vereinslokale der Chöre verdrängten, und man nicht mehr gemeinsam wie austauschbar aus Traditionspflege sang, sondern einzelne Interpreten ins Rampenlicht traten, ihr unverwechselbar persönliches Repertoire entwickelten, und die Massen zu den Konzerten strömten, um gegen gutes Geld unterhalten zu werden. Die armen Leute, um abgelenkt zu werden oder sich vielleicht mit den besungenem Elend zu identifizieren, die Reichen zum Amüsement – selbst wenn der Spott der Lieder oft auf sie gemünzt war.
Der tradierte, aber dadurch eben auch anonymisierte Gesang wird abgelöst durch den Moment des Augenblicks, die individuelle Live-Qualität, die persönliche Handschrift des Singenden, dessen Auftritt von der Auswahl des Liedguts, über dessen Arrangement und gesangliche Interpretation bis hin zur beim Vortrag dargebotenen Rolle eine unverwechselbare Marke bildet. Das Chanson braucht die Bühne der Spelunken, Varietes und Konzerthallen, um seinen Siegeszug anzutreten und ihn später via Tonträger, Film, Funk und Fernsehen fortzusetzen. Es ist im Grunde die Geburt des Starsystems, während alle darüber hinaus reichenden Definitionsversuche regelmäßig scheitern. Wer auch immer das Genre und seine Protagonisten in Schubladen wie chanson artistique, chanson reportage und chanson yé-yé klassifiziert oder mit einer Analyse der Texte und Noten zu beschreiben versucht, schiebt den stets unvollständigen Definitionsansätzen gern achselzuckend hinterher: „Aber auch das Gegenteil ist möglich“.
„Man sang Chansons aller Art: skandalöse, ironische, zarte, naturalistische, realistische, idealistische, zynische, lyrische, nebulöse, chauvinistische, republikanische, reaktionäre – nur eine Sorte nicht: langweilige Chansons“, erinnert sich ein Zeitzeuge ans „Chat Noir“ und so wie man französische Filme schnell daran erkennt, dass viel geredet wird, zeichnet sich das französische Chanson sicherlich ebenfalls dadurch aus, dass es ein Mitteilungsbedürfnis hat, dessen Themenauswahl keine Grenzen kennt. Während im internationalen Popgeschäft Kate Bush 2005 noch Aufsehen erregen konnte, weil sie in „ Mrs. Bartolozzi“ so etwas Profanes wie eine Waschmaschine besang, gibt es bei den Franzosen wahrscheinlich keinen Alltagsgegenstand, dessen Tücken oder Charme nicht schon längst pointiert präsentiert worden wäre. Das Chanson lässt keinen Lebensaspekt aus und wie man daran leidet, darüber lacht, deswegen lästert oder nichtsdestotrotz liebt.
In wenigen Zeilen wird beobachtet, reflektiert und zitiert. Die Welt verdichtet. Früher hätte man es Telegrammstil genannt, heute denkt man an geschliffene SMS oder Tweets. Ein Roman in drei Minuten. Das Chanson kennt natürlich die Literaturklassiker, hat sie von François Villon über Victor Hugo, Baudelaire und Verlaine bis hin zu Françoise Sagan vertont (Michel Houellebecq dagegen sicherheitshalber sich gleich selbst auf dem Album „Présence humaine“), es schaut aber auch dem Volks aufs Maul, zitiert Umgangssprachliches und erfindet gern neue Sprachschöpfungen. Der größte französische Poet? Für viele Georges Brassens, der die Nationaldichter Villon, Aragon und Victor Hugo vertonte, dessen eigenen Chansontexte aber auch wie selbstverständlich als Literaturklassiker verlegt und von der Academie Française geehrt wurden.
Das Chanson ist eben ein zutiefst französischer Mythos, aber seine Helden sind auch in Ägypten (Claude François, Dalida, Georges Moustaki), Belgien (Jacques Brel), Italien (Adamo, Carla Bruni, Yves Montand) oder den USA (Eddie Constantine, Joe Dassin) geboren – und singen nicht einmal unbedingt französisch, sondern ebenso auf englisch, italienisch, spanisch, deutsch oder im lautmalerischen Kauderwelsch: „Shebam! Pow! Blop! Wizz!“ (Serge Gainsbourg und Brigitte Bardot in „Comic strip“).
Die Kompositionen und Arrangements sind ebenso vielfältig: Musikalisch denkt man beim Stichwort Chanson zwar im ersten Augenblick vielleicht an nicht viel mehr als einem Klavier oder einer Gitarre, aber Maurice Chevalier kam unüberhörbar aus der opulenten Welt der Revuen und Operette, Charles Trenet brachte das Chanson zum Jazzen und ließ sich von Django Reinhardt begleiten, Charles Aznavour reiht sich mit seinen Big-Band-Arrangements ebenbürtig neben Frank Sinatra, Dean Martin und Sammy Davis jr ein, Johnny Halliday und Eddie Mitchell waren geborene Rock’n’Roller.
Chanson muß nichts und darf alles. Sogar so kitschig und kommerziell sein, dass wir ihn mit Schlager verwechseln würden. Nicht umsonst hieß der Eurovision Song Contest früher Grand Prix de la Chanson. France Gall gewann ihn 1965 mit dem von Gainsbourg geschriebenen „Poupée de cire, poupée de son“, andere Chansongrößen wie Gérard Lenorman, Sébastien Tellier oder Patricia Kaas haben es zumindest versucht. Und wo wir schon beim Fernsehen sind: anders als vielleicht so mancher Studienrat hatten wir doch unsere ersten Chansonerlebnisse nicht in irgendwelchen Pariser Kaschemmen oder dank seltener Importalben, sondern verdankten sie Dieter Thomas Hecks „Hitparade“ und Ilja Richters „disco“, wenn – Licht aus, Spot an – Alain Barrière („Tu t’en vas“), Françoise Hardy, Marie Laforêt („Viens viens“) und Mireille Mathieu auftraten. (Wobei ich letztere erst als Chansonkünstlerin zu schätzen weiß, seitdem ich ihr „Paris en colère“ kennengelernt habe.)
Wo liegt nun die Grenze zwischen Schlagerhit, Chanson und Pop? Selbst der Rezensentenkniff, die auktoriale Attitüde, man würde es schon heraushören, wenn es sich um einen Chanson handelt, greift gelegentlich zu kurz. Oft funktioniert es: Sheila, die als eine der ersten Sängerinnen in den sechziger Jahren mit Hits wie „Pendant les vacances“ gar nicht mehr über die Bühne bekannt wurde, sondern gleich via Radio, Fernsehen und Platten, hat sicherlich das Genre verlassen, als sie später in den Siebzigern als Sheila & Les B. Devotion mit Discomucke wie „Spacer“ Hitgeschichte schrieb. Umgekehrt wird aus Donna Summers „Isn’t it magic“ lupenreines Chanson, sobald es Alain Chamfort oder Isabelle Antena als „Le temps qui court“ adaptieren. Andere französische Musik-Ikonen dagegen wie Mylène Farmer, Les Rita Mitsouko oder selbst der großartig rappende Sniper verschmelzen das Chanson dagegen eher mit Rock, Pop und HipHop, als dass ich sie aus dessen Tradition gänzlich entlassen würde.
Und das, obwohl Les Rita Mitsouko ein Duo waren – und das Chanson im Grunde eher ein künstlerisches Solo pflegt. Die international erfolgreichste Gruppe, Nouvelle Vague mit ihren chansonesk dahingehauchten Bossanova-Versionen von New-Wave-Klassikern, war ein Fake, ein von Produzenten kreiertes Projekt, aus dessen Reihen sich dann immerhin mit Camille eine sehr vielversprechende aktuelle Chansonsängerin emanzipiert hat.
Das Chanson ist genretypisch künstlerdominiert und weniger ein Spielball von Produzenten oder Labelmanagern. (Erst recht in der digitalen Gegenwart, wo eine SoKo ganz ohne Plattenvertrag, nur mit Internetplattformen à la YouTube ihre herzallerliebsten Musikclips verbreitet und mit dem dahingepiepsten „I’ll kill her“ einen Welterfolg landet.)
Der Herrgott waltet beim Chanson nie wirklich hinter den Kulissen, der Allmächtige steht auf der Bühne. Edith Piaf etwa. Von Jean Cocteau als „Dichterin der Straße“ gelobt, obwohl sie kaum einen Text selbst schrieb, aber eben die Noten und Zeilen anderer zu einem einzigartigen Stil zusammenfügte, sich einverleibte und so – auch ohne Auteur-compositeur-interprète zu sein, allein schon durch ihre Darbietung zur alles entscheidenden, alles sich aneignenden Künstlerin ward, zu einem Gesamtkunstwerk.
Nicht nur musikalisch erweisen sich Chansonkünstler als Allroundstars. Das Chanson liebt das Cinéma und das Kino liebt die Sänger. Die Piaf, Montand, Aznavour, Brel, Gainsbourg, Jacques Dutronc, Serge Reggiani, Vanessa Paradis, Benjamin Biolay brillierten als Multitalente vor der Kamera. Juliette Gréco, im Konzert ein „schwarzer Kolibri“, vor der Kamera dagegen nur noch ein Schatten ihrer selbst, versuchte es zumindest. Umgekehrt glänzten Schauspieler wie die Bardot, Laforêt, Alain Delon, Jane Birkin, Catherine Deneuve, Isabella Adjani, Julie Delpy, Sandrine Kiberlain und Chiara Mastroianni als Chansoninterpreten. Nur Gérard Depardieu verweigert sich dem Musikgeschäft, verkörperte aber zumindest in „Chanson d'Amour“ höchst sehens- wie hörenswert einen Provinzbarden. (Update: Inzwischen hat er mit „Depardieu chante Barbara“ ein beachtliches Chanson-Album veröffentlicht.)
In der Hauptstadt, im Pariser Sängerolymp werden aber nicht nur großen Lieder erschaffen, die dann durch die Départements und um die Welt ziehen, die Chansongrößen huldigen auch dem Pygmalionmythos. Sie erschaffen gern weitere Interpreten, und je untalentierter diese anfangs scheinen, um so größer ist der Verwandlungsprozeß und damit die Allmacht des Schöpfers. Edith Piaf schuf Montand, Aznavour, Constantine, Bécaud und Moustaki. Serge Gainsbourg erkor Bardot, Birkin, Adjani und half France Gall und Vanessa Paradis auf dem Weg von der Hupfdohle zur ernstzunehmenden Sängerin.
Inzwischen spricht man, weniger in Frankreich, denn im Ausland gern vom sogenannten Nouvelle Chanson oder der Nouvelle Scène Française, aber das Erscheinungsbild scheint das Alte geblieben zu sein. Benjamin Biolay, zumindest in den bunten Blättern meist die Gallionsfigur der neuen Szene, strahlt bereits den ennui des alten Gainsbourg aus, nachdem er mit einer traumwandlerischen Selbstsicherheit die eigene Schwester, Coralie Clément, und (inzwischen Ex-)Ehefrau Chiara Mastroianni in Chansonsängerinnen verwandelt, mit Gainsbourgs Witwe Bambou und deren Tochter Lulu zusammengearbeitet, dem Chansonveteranen Henri Salvador zu einem viel beachteten Comeback verholfen und natürlich auch als Schauspieler seinen Mann gestanden hat. Ein Boulevard-Barde par excellence, der eher noch an Charme gewinnt, wenn er sich windet und ziert, weil er doch gar nicht in der Tradition der Altvorderen stünde. Jede Zeile, jeder Ton seiner wirklich wunderbaren, aber eben auch sehr stilgetreuen Schrammelchansons widerlegen diese distanzierte Attitüde, selbst wenn ihn eine „New York Times“ als „Le Pop Star“ und nichts weniger feiert.
Ganz anders, nämlich viel zeitgemäßer dagegen der Nouveau Minimalisme der Elektrofraktion. Emilie Simon, Philippe Katerine, Sebastien Tellier und M – Matthieu Chedid entstammen hörbar der digitalen Generation, die gern allein an ihrer Anlage herumtüftelt und dennoch bei Auftritten die Rampensau gibt. Wenn man sie hört, denkt man an Michel Polnareff, den scheinbar einem LSD-Trip entsprungenen Chansonstar der sechziger Jahre, der mit „La poupée qui fait non“ und „Love me, please love me“ so manche Nerven auf die Probe stellte. Die neuen Minimalisten schlagen von Polnareff die Brücke zu ihren zeitgenössischen Landsleuten wie Air, Daft Punk und Mirwais, sie wispern und kreischen, beherrschen das Drama wie die Pause, und feuern in ihren Alben ein Arsenal an musikalischen Einfällen und Toneffekten ab, daß ich mir zum ersten Mal ein wortloses Chanson vorstellen könnte, dessen Sprengkraft nicht einmal mehr in Worte gefasst werden muß. Als Tellier 2008 am Eurovision Song Contest teilnahm, hätte es nicht einmal mehr eines Akkordes bedurft, allein schon wie stoisch er im Golfmobil über die Bühne fuhr, war ein ganz großer Auftritt, der viele Zuschauer zur Weißglut trieb, ohne überhaupt einen Ton oder eine Zeile seines Chansons „Divine“ hören zu müssen. Das schafft nicht einmal Troubadix.



Dieser Text ist zuerst in „Sono Plus“ Dezember 2010 veröffentlicht worden

Zitiert von Juliane Ebert in ihrer Studie „Das französische Chanson – Genre und Mythos“ (DeGruyter, 2022), Seite 208.
Zitiert von Wikipedia.

Montag, 27. Dezember 2010

Popa pöbelt (3)

Nine to five? Von wegen. Wenn einer immer im Dienst ist, dann nicht nur die Polizei, sondern auch wir Schnüffler von den Medien. Allein schon, weil Journalisten wie in einer unaufhörlichen Nahtoderfahrung gern über sich schweben und ständig Stoff sammeln müssen, aber vor allem, weil wir unseren Beruf gar „nicht als Maloche, sondern als bezahltes Hobby empfinden“, um Detlef Esslinger von der „Süddeutschen Zeitung“ zu zitieren. Als erfüllendes Vergnügen, das nie enden soll – wofür es dann für abgehalfterte Chefredakteure das Austragsstüberl eines Editors at large gibt. (Sympathischer finde ich dann ARD-Veteranin Luc Jochimsen, die auf ihre alten Tage tatsächlich als Abgeordnete der Linken in die Arena eines Bundestags steigt und nicht mehr nur besserwisserisch kommentiert.)
Auf die Frage, worüber ich denn so schreibe, antworte ich immer: die schönen Dinge des Lebens. Und wenn ich mich mit Reisen, Filmen, Kollegen, Stars, Mode, Valérie Todenhöfer, Essen und Trinken beschäftigen darf, gibt es keinen Feierabend. Über etwas zu berichten, ist aber doch eine etwas andere Herausforderung, als diese schönen Dinge selbst zum Beruf zu machen. Michael Graeter kann darüber einiges erzählen, seine Ausflüge in die Gastronomie und Welt der Kinobesitzer haben dem Klatschkolumnisten letztendlich 239 Tage Knast eingebracht.
War es die Gier nach noch mehr Geld & Anerkennung – die auch dazu führt, dass zwischen München und Hamburg so mancher gut bestallte Redakteur klammheimlich für Konkurrenztitel unter Pseudonym schreibt und damit Freelancern Arbeit stiehlt? Oder geht es bei den unternehmerischen Eskapaden vieler Medienarbeiter letztendlich ganz unromantisch um steuerverkürzende Investionen?
Braucht es Jan Weiler fürs Ego, dass man in seiner Vinoteca Marcipane unweit des Starnberger Sees auf papierne Untersetzer mit Weiler’schen Textergüssen Tomatensauce sabbern kann – oder doch eher für die Einkommensteuererklärung? Wer will bitte schön bei einem Riesling ausgerechnet an den frischgebackenen Winzer Günther Jauch denken müssen, dessen Gesicht man doch höchstens mit saurem Messwein assoziiert? Ist Dieter Moors Zweitkarriere als „Knecht und erster Traktorist“ eines Brandenburger Biobauernhofs nicht nur die romantischere (und damit publicityträchtigere) Alternative zu den Containerschiffen und Einkaufszentren, in die Fernsehfuzzis sonst so gern investiert haben, um die leicht verdienten Gagen nicht Vater Staat in den Rachen werfen zu müssen?
Natürlich habe ich gar nichts dagegen, wenn Medienpromis ihre Investionen nicht nur breit streuen, sondern einmal in ihrem Leben auch richtig gearbeitet oder vielleicht sogar etwas ordentliches gelernt haben. Dann kann man wie Franz Josef Wagner in seinem autobiografischen „Brief an Deutschland“ damit kokettieren, sich als Möbelpacker und Küchenhilfe durchgeschlagen zu haben. (Ob der Butler, der in Wagners Wohnung in der München Hohenstaufenstraße den damaligen „Bunte“-Chefredakteur pamperte, nun die Nase rümpft oder sich solidarisch fühlt?) Mit medienfernen Talenten kann man auch sehr gut journalistische Durststrecken und Karriereschwankungen überwinden, sei es als Pferdezüchter (Stefan Aust) oder Paddle-Tennis-Trainer (Tom Kummer).
Bei Wolfram Winter habe ich zwar in den letzte Jahren irgendwann den Überblick verloren, welche Firma (Giga, NBC Universal, Premiere Star, Sky) und Jobbeschreibung gerade aktuell auf seiner Visitenkarte steht, aber eins war beständig: seine Würde als Honorarkonsul der Republik Namibia. Jetzt mal ehrlich, den Job hätte doch jeder von uns gern, selbst wenn er gar nicht honoriert wird, sondern ganz im Gegenteil richtig Geld kostet. Andererseits: Wer aus der Medienbranche kann schon wie der Weyer, äh, ich meine Winter seiner Liebsten die Gastgeberrolle eines diplomatischen Empfangs schenken?
Dafür lohnt es sich doch zu arbeiten, wobei die schönsten Entgelte die völlig unverdienten sind: Ausgerechnet Alt-Paparazzo Erwin Schneider wurde während eines Privataufenthalts am Wörthersee von einer Hamburger Illustrierten als typisch deutscher Tourist abgeschossen, woraufhin er sich sein Recht am eigenen Bild mit einem vierstelligen Betrag abgelten ließ, der wohl dem deutschen Durchschnittsmonatslohn entspricht. Bei der „Frankfurter Allgemeinen“ hat ein unbekannter Spender noch etwas drauf gelegt und deren Hannoveraner Korrespondenten Robert von Lucius 10.000 Euro in bar geschickt. Der Verlag wollte erst Strafanzeige gegen den unbekannten Spender erstatten, hat aber keinen passenden Straftatbestand gefunden und das Geld stattdessen „tresoriert“. Falls sich der Absender nicht noch meldet, soll der Betrag der hauseigenen Stiftung „F.A.Z.-Leser helfen“ einer gemeinnützigen Stiftung übergeben werden. Wie das dann aber finanzrechtlich aussieht? Geschenk ist Geschenk und wohl zu versteuern.

(Illustration: Bulo)
Diese Kolumne erschien zuerst im „Clap-Magazin“ #31 Dezember 2010

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Die Kinderhäscher von der Süddeutschen Zeitung

Man kann sich jetzt streiten, ob Herodes, lebte er im 21. Jahrhundert, nicht doch eher die „Welt“ oder „F.A.Z.“ läse, aber die „Süddeutsche Zeitung“ leistete ihm, neben seinen Sterndeutern, sicherlich die besten Dienste. Fänden er und seine Häscher doch in der „SZ“ die entscheidende Information: 24.12., Jesus von Nazaret, Maria und Josef, Stallweg 1, Bethlehem.
So detailliert informiert der „Familienkalender“ der „Süddeutschen“ zumindest über die Neugeborenen in München, Freising und Fürstenfeldbruck, und in Zeiten, in denen sich die Bürger und Kommunen so sehr über Google Street View aufregen, überrascht es doch wie wohlfeil man mit den weit persönlicheren Geburts- und Adreßdaten umgeht.
Solche Datenübermittlungen sind nach Artikel 15 Bayerisches Datenschutzgesetz (BayDSG) zulässig, wenn der Betroffene eingewilligt hat. Anläßlich der Veröffentlichung von Eheschließungen durch die Standesämter hat der Bayerische Beauftragte für Datenschutz in seinem 20. Tätigkeitsbericht 2002 ausgeführt:
„Sowohl nach personenstands- als auch nach datenschutzrechtlichen Bestimmungen ist es nur dann möglich, Informationen über Eheschließungen an die Presse weiterzugeben, sofern die betroffenen Bürger nach genauer Information sich mit der Weitergabe ihrer Daten einverstanden erklärt haben. Auch die Bekanntgabe von Eheschließungen im gemeindlichen Mitteilungsblatt darf, mangels einer Rechtsvorschrift, die dies erlauben oder anordnen würde, nur mit Einwilligung der Betroffenen erfolgen. Dazu genügt nicht, dass die Verlobten der Veröffentlichung nicht widersprochen haben, sondern dass sie gegenüber der Gemeinde ihr Einverständnis hierzu erklärt haben. Dies gilt auch bei einer Veröffentlichung dieser Daten im Internet auf der Homepage der jeweiligen Gemeinde.“
Vergleichbares gilt für Geburten. Das Münchner Standesamt legt daher Eltern, die die Geburt ihres Kindes melden, ein Formblatt vor, auf dem sie zustimmen können, Namen, Adresse und Geburtsdatum im Rathaus öfentlich auszuhängen sowie zur Veröffentlichung an die „Münchner Presse“ weiterzuleiten.
In Freising sieht das Formblatt einen um „ortsansässige Banken und Sparkassen, Versicherungen oder andere interessierte Stellen“ erweiterten Empfängerkreis vor. Fürstenfeldbruck beliefert auch Versicherungen und „sonstige Interessenten“ (und läßt sich als einzige der drei Gemeinden diesen Service beispielsweise von der „Süddeutschen Zeitung“ mit 30 Denaren jährlich 120 Euro bezahlen).
Abgesehen davon, daß man vielleicht mal grundsätzlich hinterfragen sollte, wieso dieser archaische Brauch der Veröffentlichung von Geburtsdaten im Zeitalter der informationellen Selbstbestimmung noch angebracht ist, muß man feststellen, daß beispielsweise das Standesamt München das Widerrufsrecht der Eltern in seinem Formblatt verschweigt.
Ein Geschmäckle besitzt auch das neue Format des „Familienkalenders“ nach dem Relaunch des Lokalteils der „Süddeutschen Zeitungen“. Handelte es sich bei der Veröffentlichung bislang um eine kleine redaktionelle Rubrik, so werden die Daten neuerdings als ganzseitige, bunte „Anzeige“ veröffentlicht. Ob diese kommerzielle Nutzung durch den Ausdruck „Münchner Presse“ in der Einwilligungserklärung ausreichend gedeckt ist, wage ich zu bezweifeln.

Wenn Mutti wütend wird: Renny Harlins „Tödliche Weihnachten“

Leichen pflastern ihren Weg. Erst trifft es nur ein verletztes Rentier und eine unschuldige Tomate. Doch je weiter die Lehrerin Samantha Caine (Geena Davis) ihr verloren gegangenes Gedächtnis samt einiger unangenehmer Charaktereigenschaften zurückgewinnt, desto mehr Männer müssen sterben.
Die Provinzschönheit entpuppt sich als staatlich geprüfte Mörderin, die amnesiebedingt ihrer eigenen Legende erlegen ist. Nun wandelt sich das Muttchen auf der Suche nach der wahren Identität wieder zurück zur Amazone: Blonder als Bonnie, tödlicher als Nikita und unkaputtbarer als der Terminator.
Nachdem weder Bruce Willis („Die Harder“) noch Sylvester Stallone („Cliffhanger“) seinen sexuellen Avancen am Drehort nachgegeben hätten, soll Regisseur Renny Harlin beschlossen haben, nur noch weibliche Actionhelden in Szene zu setzen. Wobei Geena Davis praktischerweise seine Ehefrau ist.
Nach zwei gemeinsamen Flops produzierte das finisch-amerikanische Gespann mit diesem Adventsknaller ein trashiges Highspeed-Spektakel, bei dem das Massaker die kurzweiligste Verbindung zwischen bürgerlichem Idyll und Aussteigerromanze ist.
Wer fragt schon nach Logik, wenn finstere Politverschwörungen, Hitchcock'sche Küchenpsychologie und eine diabolische Stunt-Choreographie für gute Laune sorgen.
Und wann hat man schon so politisch unkorrekte, geradezu unsympathische Helden genießen dürfen wie Samuel L. Jackson („Pulp Fiction“, „Stirb langsam 3“), der hier mit einem wahren Kabinettstück den coolen Ghetto-Stenz der 70er Jahre in die Gegenwart rettet.

Diese Filmkritik erschien im „Tagesspiegel“-Supplement „Ticket“ 50/1996 vom 12. Dezember 1996