„Woran denkst Du gerade?“ Kaum eine Frau wird im Kuschelrausch dieser Frage widerstehen können, und kein Mann wird ehrlich erwidern: „Nichts…was ich Dir sagen kann, ohne daß Du verletzt sein wirst.“ Im Kopf eines Mannes verbergen sich genug finstere Fantasien, um die Glaubenskongregation bis zum Jüngsten Tag mit Verfahren zu versorgen. Doch da man dem anderen schwer in den Schädel gaffen kann, hilft manchmal auch ein Blick auf sein gelötetes Hirn, die Festplatte, um einen Schimmer von den Abgründen einer Seele zu erhaschen.
Walter (Kevin Bacon) hat keinen Computer. Denn nach zwölf Jahren Knast besitzt er nicht viel mehr als die Kleider an seinem Leib. Seine Schmuddelbilder hat er im Kopf, gut versteckt vor allen anderen, und vor allem vor sich selbst. Denn Walter hält sich für einen guten Menschen. Er will nur lieben und niemandem weh tun. Doch seine Liebe brachte ihn ins Zuchthaus. Weil ihn sein Begehren verwandelt wie Michael Jackson im „Thriller“-Video.
Liebe ist Wahn, Sucht, Rausch, aber Walters Liebe ist kriminell. Zwölf Jahre Knast und eine Freilassung auf Bewährung. Der Therapeut überredet ihn, Tagebuch zu führen, seine Gedanken aufzuschreiben, die geistigen Schmuddelbilder zu Papier zu bringen, und wir wissen nicht, was Walter mehr fürchtet: Daß seine verräterischen Notizen der hartnäckig lauernden Polizei in die Hände fallen oder daß er sich darin selbst erkennt.
Wir kennen Leute wie Walter: Wortkarge Kollegen am Arbeitsplatz, die sich allen Routinen verschließen. Ausgehungerte One-Night-Stands, die uns zwar nicht die Sterne vom Himmel holen, aber eine Nacht Zweisamkeit schenken. Aber wer kennt schon Kinderschänder? Nicole Kassell macht es uns in ihrem Spielfilmdebüt ganz leicht: Weitab von aller Dämonie eines Peter Lorre („M – eine Stadt sucht einen Mörder“) oder Gert Fröbe („Es geschah am hellichten Tag“), ohne die Theatralik eines Michel Serrault („Das Verhör“) nähert sie sich dem Tabu, indem sie es jeder Exzentrik entzieht.
Kinderschänder, die keine Kinderschlächter sind. Hasenbergl statt Hollywood. Wir sind nicht in Nimmerland, sondern in der amerikanischen Provinz der Sägewerke und Pick-ups, die hier – anders als bei David Lynch – keine kitschige Operettenkulisse abgibt, sondern wahrhaftig wirkt und dennoch mit jeder Einstellung allgegenwärtige Monotonie präsentiert: Der joviale Schwager (Benjamin Bratt), der Walters Schwester bei jeder Gelegenheit betrügt. Die attraktive Sekretärin (Rapperin Eve), die Zurückweisung mit Mobbing bestraft. Der fiese Bulle (HipHop-Star Mos Def), der schon zuviele geschändete Kinder gesehen hat, um Verdächtigen noch Fairness zu gewähren.
Stück für Stück findet Walter nach seiner Entlassung zwischen diesen Monstern seine scheinbar sichere Nische: einen Arbeitsplatz, eine reife Beziehung. Alltag eben. Wird alles gut? Die Versuchung ist allgegenwärtig: Der einzige Vermieter, der einen Vorbestraften akzeptiert, quartiert ihn ausgerechnet gegenüber einer Schule ein. Den Bus, den er nach Feierabend nimmt, benutzen auch viele kleine Mädchen. Vor allem muß Walter aber entdecken, daß seine Liebe geteilt wird: Vor seinen Augen fischt ein Geistesverwandter nach Kindern. Und das Mädchen, das Walter im Park anspricht, weiß recht genau, was er will: Sein Vater genießt es auch, wenn es in seinem Schoß sitzt. Das Grauen ist überall.
Doch manchmal findet man nicht nur in der Liebe Verwandlung, sondern auch in der Konfrontation mit den vertrauten Dämonen. Und manchmal entpuppt sich ein kleiner, sperriger Debütfilm als Meisterwerk, weil man ihn gerade nicht geflissentlich abnicken und beklatschen kann, sondern ihm hilflos gegenüber sitzt.
Dieser Text erschien im „In München“ 10/2005 vom 5. Mai 2005
(Foto: ZDF/ARD/Degeto)
1 Kommentar:
Verdammt guter Film!
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