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Freitag, 6. September 2013

Roland Kaiser badet mit Fans im Gefühlsmeer

1998 – war da Casper überhaupt schon auf der Welt? Am 11. November 1998 habe ich jedenfalls in der „Berliner Morgenpost“ ein Konzert Roland Kaisers besprochen.

25 Dienstjahre (Stand: 1998 – der Blogger) im deutschen Schlagergeschäft: Solch ein Showveteran genießt bereits unsere Sympathien, wenn er es noch nüchtern und schlank auf die Bühne schafft. Roland Kaiser gibt viel mehr. Er zieht in den Saal 2 des ICC ein wie ein Deutsche-Bank-Manager, der vor einer Sparkassenversammlung tritt: Das Auditorium gleicht einem bunten Fleckenteppich aus Fan-T-Shirts und Rüschenblusen, auf der Bühne steht der unterkühlt agierende Halbgott in feinstes, schwarzes Tuch gewandet, jeder Song ein Hit. Ein Hüne zum Anlehnen, ein Mann zum Ausweinen, ein Vorsänger zum Mitsingen und Mitschunkeln.
„Dich zu lieben, dich berühren, mein Verlangen, dich zu spüren…“ Kaisers Sehnsuchtshymne scheint den – keineswegs nur weiblichen – Fans Programm zu sein. Sie strömen an den Bühnenrand, erst um Geschenke gegen eine Umarmung zu tauschen, dann schließlich nur noch, um ihm Wangenküsse abzupressen, ihn zu begrapschen und zu herzen.
Vor 25 Jahren startete ein Berliner namens Ronald Keller seine Laufbahn als Roland Kaiser mit dem letzten Platz beim „Schlager der Woche“. Inzwischen füllt er mit Dauerbrennern wie „Joana“, „Sieben Fässer Wein“ oder „Santa Maria“ Konzerthallen bis zum letzten Platz. Doch noch immer leide er unter Lampenfieber, erklärt der Schlagerstar. Das mag auch der Grund sein für seinen auffällig hüftlahmen Auftritt, dessen schwerfällige Choreographie auch nach der Pause nicht lockerer wird, als der Barde seinen Sakko gegen eine edle Lederjacke tauscht.
Die Journalisten-Kollegen rechts und links nutzen die Unterbrechung zur Flucht, was dem Abend jedoch nicht ganz gerecht wird. Zwar sehen Bühnenbild und Orchester nach Sparausführung aus, und Kaiser scheitert bereits am simpelsten mimischen oder gestischen Ausdruck. Dennoch: Von der ersten Nummer an ist Party angesagt. Künstler und Publikum verschmelzen zu einem einzigen Klang- und Gefühlsmeer, das scheinbar grenzenlos ist.
„Ich neige dazu, zu überziehen“, verspricht Kaiser seinem Publikum und inszeniert ein Programm, das vor Zugaben nur so strotzt. Doch Glück kann eine verdammt gut geschmierte Maschinerie sein. Die Zuschauer haben den Eindruck, alles und noch viel mehr bekommen zu haben, und doch ist das Konzert auf die Sekunde genau um 22.37 Uhr beendet – wie im Ablaufplan kalkuliert. Aber wer will heutzutage noch einen Schlagerabend ernstnehmen, wo es doch reicht, ihn genießen zu können.

Dienstag, 16. Juli 2013

Juliana Rotich: Die Netzwerkerin

Im Oktober 2011 habe ich im Rahmen meiner monatlichen Kolumne über „Starke Frauen“ in der „DONNA“ Juliana Rotich kurz porträtiert. Gestern ist sie auf der DLDwomen 2013 mit dem Impact Award ausgezeichnet worden. Hier mein Text von damals. 

Juliana Rotich steht bereit, wenn auf der Welt eine Katastrophe passiert wie das Erdbeben auf Haiti oder der Tsunami in Japan. Welche Gegend ist betroffen, wo gibt es Lebensmittel, welcher Arzt kann helfen? Rotichs Netzwerk „Ushahidi“ sammelt diese Daten, verknüpft sie mit Landkarten und verteilt die Survivaltipps per Internet und Handy weiter. Eine wunderbare Idee. Rotich selbst gibt sich bescheiden: „Ich bin nur Botin für die großartige Community.“ Die lebensrettenden Hinweise kämen von Betroffenen und Hilfskräften vor Ort.

(Foto: flohagena.com/DLD)

Montag, 1. Oktober 2012

Vea Kaiser: Durch und durch ein Großstadtmensch

Morgen, Dienstag abend, stellt Vea Kaiser im Münchner Literaturhaus ihren Debütroman vor. Für eine kleine Personalie habe ich sie vor ein paar Wochen interviewt und diesem Text in der „freundin“ veröffentlicht.
Schreiben hilft. Die 23-jährige Österreicherin hat ihre Kindheit in der Provinz gehasst. „Ich habe mich nie wohlgefühlt, nie am rechten Platz.“ Längst wohnt sie in Wien. Und sorgt mit ihrem Heimatroman „Blasmusikpop“ für Furore. Gerade weil es keine Abrechnung ist. „Meine Eltern waren wahnsinnig überrascht, weil ich mich früher immer über das Dorfleben lustig gemacht habe.“
Doch bei der Arbeit an ihrem ersten Buch hat Vea Kaiser offensichtlich ihren Frieden geschlossen. Bestechend genau, liebevoll und mit Witz fabuliert sie auf 496 Seiten über ein 500-Seelen-Nest in den Alpen. Und kam offenbar auf den Geschmack: „Die nächsten sieben Romane, die in meiner Schreibkiste schlummern, spielen alle in kleinen Orten.“

Freitag, 10. August 2012

Otto Preminger: Die Wahrheit der Blicke

Die Retrospektive des Filmfestivals in Locarno dieser Tage ist Otto Preminger gewidmet. Als die Berlinale 1999 gleiches tat, habe ich diesen kleinen Beitrag in der „Berliner Morgenpost“ veröffentlicht.

Frank Sinatra, Harry Belafonte, Marilyn Monroe, Jean Seberg: Die Besetzungsliste seiner Filme böte genug Objekte der Begierde. Doch bei Otto Preminger spielten nicht die Stars die Hauptrolle, sondern das Verlangen an und für sich, fand Hollywood zu einem Kino der Sehnsucht – und des Elends, wenn das Ersehnte eintrifft.

Denn Glück ist ein kurzer Moment, wenn man es mit Mitteln erzwingt, die nur der Zweck heiligt, und die Moral dabei zum kategorischen Konjunktiv wird. Die Quintessenz juristischer und menschlicher Winkelzüge in „Anatomie eines Mordes“ oder „Sturm über Washington“ gewinnen nach O.J. Simpson und Monica Lewinsky an Aktualität.

Premingers Charaktere sind keine Helden, sie lügen, intrigieren, morden für ihre Sehnsucht nach innerem Frieden, die sie sehenden Auges ins Verderben führt – oder ins gelobte Land („Exodus“), das sich bei aller Parteinahme eher als Kampfplatz von Kain und Abel entpuppt denn als Quelle von Milch und Honig. Dabei begleitet der Zuschauer die Zerrissenen nicht nur, er begreift sie als Mensch gewordene Figuren, die in ihren wechselhaften Gefühlen selten nur gut oder böse sind, sondern in beunruhigendem Ausmaße sowohl als auch.

Der „Kardinal“, der den Tod seiner Schwester zu verantworten hat und Buße in quälendem Masochismus sucht. Die Täter-Opfer des Film noir („Faustrecht der Großstadt“, „Engelsgesicht“). Robert Mitchum als Cowboy, der einem anderen in den Rücken schoß („Fluß ohne Wiederkehr“). Jean Seberg als selbstsüchtige Halbwaise, die eine potentielle Stiefmutter in den Tod treibt („Bonjour Tristesse“):

Preminger gibt ihnen allen im wahrsten Sinne des Wortes Raum, zeigt sie am Arbeitsplatz, in Bars, in ihrem Zuhause, stets auf „der Suche nach einer besonders winzigen, kaum wahrnehmbaren Wahrheit: der Wahrheit der Blicke, der Gesten und der Haltungen“, wie François Truffaut seinen Kollegen charakterisierte. Kein Regisseur hatte ein ähnliches Gespür für die Isoliertheit in fremder Umgebung, für die Einsamkeit und das unbehauste Leben ohne wirkliche Heimat.

Erfahrungen eines Wiener Juden, dessen Vater die Krönung seiner Laufbahn nicht zuteil wurde, weil er nicht zum Katholizismus übertrat, wie auch Otto selbst nicht konvertieren wollte, obwohl ihm dafür die Direktion des Burgtheaters angedient worden war. Preminger, der unter Reinhardt als Schauspieler begann, nach erfolgreichem Jurastudium zur Regie wechselte und schließlich das Theater in der Josefstadt leitete, wanderte nicht als Verfolgter in die USA aus, sondern wurde 1935 als gefeiertes Wunderkind von der 20th Century Fox angeworben.

Mit seinem Filmwerk schließt die Berlinale eine ganz eigene Trilogie ab, einen Blick auf die Arbeitsemigranten Erich von Stroheim, William Wyler, Otto Preminger und deren europäischen Touch in Hollywood. Wobei sich für Wolfgang Jacobsen, der die Reihe verantwortet, in Premingers Arbeit Stroheims Obsession mit Wylers handwerklichem Geschick und Gespür für spannende Stoffe verbindet.

Die bei dieser Trilogie erreichte Planungssicherheit der Stiftung Deutsche Kinemathek, die nicht mehr nur von Jahr zu Jahr ihre Retrospektiven plant, erlaubte es, zahlreiche neue Kopien zu ziehen, Premingers österreichischen Debütfilm „Die große Liebe“ (1931) zu rekonstruieren und den farbverspielten „Bonjour Tristesse“ zu restaurieren. Beides Klassiker, die auch die morgen auf dem TV-Sender arte beginnende Preminger-Hommage krönen.

Daß der Geehrte keine Künstlernatur war, die an Magengeschwüren litt, sondern ein Regie-Titan, der anderen Magengeschwüre bereitete, zeichnen Jacobsen und seine Ko-Autoren in einem kurzweiligen „Portrait“ nach, das sie für das Festival und arte gedreht haben. Doch auch sie wissen keine definitive Antwort, ob Premingers Tabubrüche und Konfliktstoffe bloß geschäftstüchtiges Kalkül waren, reines Business, wie Preminger gern untertrieb.

Er hat ab 1953 nicht nur als einer der ersten Filmemacher in Hollywood unabhängig von festen Studiobedingungen produziert, sondern auch das skandalträchtige Marketingpotential soziopolitischer Debatten erkannt. Hat Themen wie Entjungferung („The Moon is Blue“) und Drogenabhängigkeit („Der Mann mit dem goldenen Arm“) unverblümt wie niemand zuvor inszeniert. In „Carmen Jones“ Bizets Oper mit ausschließlich farbiger Besetzung produziert. Und diese ureuropäische Liberalität immer recht unsentimental mit Geschäftsfreiheit und den First Amendments der US-Verfassung begründet. Seine politische Einstellung nahm der 1986 verstorbene Preminger wie so viele seiner guten Taten mit ins Grab.

Samstag, 18. Februar 2012

Struensee und die nackte Unmoral

Das Dreiecksverhältnis zwischen der dänischen Königin Caroline Mathilde, ihrem Mann, König Christian VII., und dem deutschen Arzt und Aufklärer Johann F. Struensee stand heuer auf der Berlinale im Mittelpunkt des Wettbewerbsbeitrags „Die Königin und der Leibarzt“. Mikkel Boe Fölsgaard wurde für seine Darstellung des Königs Christian mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. In der Rolle des Struensee hat 56 Jahre vor Mads Mikkelsen bereits O.W. Fischer brilliert, während Horst Buchholz damals den König spielte. Hier die entsprechenden Auszüge aus meiner 1989 veröffentlichten Biografie.

Während die Universal Deutschlands Top-Leute unter Vertrag nimmt, meinen die deutschen Produzenten im Gegenzug die Exportchancen ihrer Filme auf seltsame Weise steigern zu können. Sie verpflichten für viel Geld europäische Starlets wie Eva Bartok, Mara Lane – oder Odile Versois, die für 75.000 Mark in „Herrscher ohne Krone“ O.W. Fischers heimliche Liebe verkörpern soll. Die geborene Komtesse Poljakow spielt den Part der Königin Mathilde auch hervorragend. Aber ob sie als französischer B-Star die gewaltige Gage rechtfertigt, steht auf einem anderen Blatt. Mit einem entsprechend hohen Etat von 1,8 Millionen Mark verfilmt die Bavaria im Spätsommer 1956 in Dänemark und Geiselgasteig die Lebensgeschichte des Freidenkers Struensee, der als Kanzler des dänischen Königs Christian Reformen durchsetzt, sie aber aus Liebe zur Königin vernachlässigt.
Für Regisseur Harald Braun („Solange Du da bist“) ist diese historische Geschichte einer großen Passion und einer großen Schuld „vor allem darum interessant, weil hier demonstriert wird, daß absolute Macht den Menschen verdirbt. Ich sehe in Struensee ein sehr deutsches Schicksal. Der Mann wollte das Beste, machte sich aber durch seine hochmütige Art in kürzester Zeit verhaßt. Er entwickelte Ideale, deren Erfüllung die blutige Französische Revolution erübrigt hätte. Er war ein großer Mann. Und wenn ich sagte, sein Geschick sei typisch deutsch, so meine ich damit: weil er so mißverstanden wurde. Sein Malheur war, sich als Fünfunddreißigjähriger in eine Neunzehnjährige zu verlieben, die noch dazu seine Königin war.“
In O.W. Fischers Augen hat Struensee „seinen Hochmut und seine Ideale gemixt mit einem gewissen Herrschergefühl. Dieser Machtkomplex ist bei Neumann (Verfasser der Romanvorlage; d. A.) sehr interessant niedergelegt. Wie der todgeweihte Kanzler sich vergeistigt – im Film in der Gefängnisszene angedeutet – erklärt sich aus solchen Worten: ›Es hat keinen Sinn, eine ganze Menschheit glücklich machen zu wollen, wenn es über den Weg einer zertretenen Seele geschieht.‹ Die Schwierigkeit dieser Rolle liegt darin, daß Struensee eine spartanische Figur sein muß. Ein Bonvivant Struensee würde auf ganz falsche Bahnen führen und wäre für mich auch ganz uninteressant.“
So spartanisch Struensee auch angelegt ist, entzweit sein wollüstiger Fehltritt doch die deutsche Kirche. Während die Evangelische Filmgilde diese Darstellung eines historischen Themas ausdrücklich zum Besuch empfiehlt, urteilen die Katholiken nach dem Gebot »Begehre nicht deines Königs Weib«: „Dieser Film ist ein vorzügliches Beispiel für bestimmte ärgerliche Gepflogenheiten im deutschen Film. Dieser sonderbare Film zeigt einen Mann mit aufdringlichem Anstand, der König und Königreich retten will und so nebenbei, als ob es sich um eine geringe Sache handle, den königlichen Freund mit seiner Frau betrügt. Es ist ziemlich widerwärtig, wenn hier ein Mann durch unablässiges Moralisieren die Gunst aller Wohlmeinenden erringt und ohne die geringsten Hemmungen den hilflosen Freund dann hintergeht. Ein Film, der die nackte Unmoral verteidigt, wäre demgegenüber unbeachtlicher, denn er heuchelt nicht. Hier aber ist das auffällig unverblümt der Fall. Die Historie ist also zu noch größerer Peinlichkeit hin verbogen, und im Bereich dieser Peinlichkeit wird nicht etwa psychologisch differenziert, dafür aber viel Dekor entfaltet und mit edlem Pathos aufgewartet. Nachdem die Regie sich an solcher Unehrlichkeit ausdauernd vergnügt hat, geht die Geschichte unrühmlich zu Ende.“
Die Dreharbeiten zu „Herrscher ohne Krone“ verlaufen zu aller Zufriedenheit. O.W. Fischer, der es aus seinem Katzenschlößl nicht weit zum Bavaria-Atelier hat, bringt sogar seine Katzen als Statisten unter.

Donnerstag, 15. September 2011

Lügen und Geheimnisse – Claude Chabrols „Die Farbe der Lüge“

Gerade mal 32 Jahre* alt ist die Schauspielerin Sandrine Bonnaire alt. Sechzehn davon hat Frankreichs Star vor der Kamera verbracht– ein halbes Leben. Ohne Umwege über TV-Serien oder Filmchen ist das Mädchen mit dem traurigen Mund von der Pubertät direkt in die Besetzungskartei der Pariser Regie-Elite gerutscht. Hat Rächerinnen und Geliebte, Mörderinnen und Opfer, Obdachlose und Jeanne d'Arc gespielt; neben Marcello Mastroianni, Isabelle Huppert, Robert Duvall und Gérard Depardieu brilliert und mit William Hurt nicht nur gearbeitet, sondern auch Töchterchen Jeanne gezeugt.
Doch im Land der Catherine Deneuve, Sophie Marceau und Emmanuelle Béart blieb ihr immer nur der Part der bodenständigen Außenseiterin. Die Rollen mit der grellen Lache, dem direkten Sex oder dem entschlossenen Zugriff. Die Frauen, die ob ihres unerschütterlichen Glaubens immer am Rande der Gesellschaft fremdelten. Sitzt man aber Sandrine Bonnaire gegenüber, erweist sie sich als ebenso zierlich und zart wie ihre gallischen Schwestern. Es waren die Rollen, die sie beängstigend grob machten. Es war an der Zeit, das zu ändern.
Claude Chabrol hat das Kunststück vollbracht, aber damit leider kein Meisterwerk abgeliefert. „Die Farbe der Lüge“ versammelt zwar sein bewährtes Bestiarium größenwahnsinniger Entertainment-Profis und verschlagener Polizisten, gehässiger Nachbarn und perverser Zufallstäter. Doch im Mittelpunkt des Sittengemäldes steht keine Gesellschaftssatire, sondern ein romantisches Stück. „Kein Krimi, sondern eine Liebesgeschichte, die Geschichte eines Paares, in der die Frau akzeptiert, daß ihr Mann ein Krimineller ist“, sagt Bonnaire. „Sie nimmt es sogar hin, daß er sie anlügt.“
Es ist auch die Geschichte einer Frau, die nicht umsonst Viviane heißt – sie verkörpert das pure Leben (französisch: la vie). Ob bei ihrer Arbeit als Krankenschwester oder wenn sie ihrem körperlich wie emotional verkrüppelten Mann beisteht, den Garten pflegt oder mit anderen Männern flirtet. In einem Mikrokosmos aus Lügen und Geheimnissen, Kindsschändung und Rivalenmord steht Sandrine Bonnaire für das Prinzip Hoffnung. Für die ewige Außenseiterin des französischen Kinos bedeutet dieser Film die Chance, ihrem Klischee zu entkommen. Obwohl ihr klar ist: „Letztendlich entscheide nicht ich, welchen Rollen ich angeboten bekomme, sondern die Regisseure.“
 
*Dieser Artikel erschien zuerst 1999 in der „Hör Zu“.

Freitag, 15. Juli 2011

Stars auf Speed: „Spun“ von Jonas Åkerlund

Das Leben ist viel zu kurz, um es auch nur stundenweise besinnungslos zu verpennen, und viel zu aufregend mit seinen eiskalten, vor Kondenswasser glitzernden Sixpacks, den bebenden Brüsten der Tabledance-Girls, den Fleischorgien im Catcherkanal, dem kunterbunten Blickficksortiment der Erwachsenenvideothek und den kalifornischen Boulevards der Dämmerung, die nicht nur all diese Delikatessen miteinander verbinden, sondern – der Weg ist das Ziel! – Passionswege für den jungen Ross (Jason Schwartzman) sind, der gerade vom schicken College geflogen und von seiner noch schickeren großen Liebe verlassen worden ist, was aber nicht weiter tragisch ist, so lange die Dröhnung stimmt und Ross' Volvo weiter rollt auf seiner Reise in das Reich jenseits des globalen Gucci-Faschismus und MTV-Glamouramas, mitten hinein in L.A.'s Schattenwelt des White Trash, wo Menschen noch Pickel haben, Sex nach Schweiß riecht und Helden von Mickey Rourke verkörpert werden, dessen Gesicht aussieht, als ob es von der US-Army befreit worden wäre, und dessen Stimme zerschmiergelt ist von zu vielen schlechten Drehbuchtexten, die Rourke hier aber alle vergessen macht in seiner Traumrolle eines modernen Cowboys, des kriminellen The Cook, der in der improvisierten Drogenküche eines Motelzimmers den Stoff produziert, aus dem in „Spun“ die Träume sind, pure Energie zum Schnupfen, Rauchen, Trinken oder Spritzen, ein aus Asthma-Mitteln, Batteriesäure und rotem Phosphor zusammengemantschter, fahrlässig leicht entflammbarer Speed, der ihm und den Junkies nicht etwa nur gelegentlich einmal eine wache Nacht schenkt, sondern tagelange Marathon-Ekstase, zügellose Dauer-Power, so dass sogar die Bullen sich eine Dosis dieser Weckamine reinziehen, bevor sie bei einer Drogen-Razzia, natürlich live auf Sendung des örtlichen Reality-Soap-Kanals, den nächsten Wohnwagen stürmen, während der Zuschauer schon nicht mehr weiß, ob er dem rastlosen wie urkomischen Methamphetamin-Universum von Spider Mike (John Leguizamo), Frisbee (Patrick Fugit), Cookie (Mena Suvari), Nikki (Brittany Murphy), The Man (Eric Roberts) und dem Cop (Alexis Arquette) erst einen oder schon vier Tage beim Dealen, Flirten, Schnüffeln, Streiten, Vögeln, Autofahren, kurzum: beim Leben ohne Pause zusieht, denn lebendig sind sie, bei aller Dauerberieselung aus Videospielen, Pornocassetten und Wrestling-Sendungen, trotz des Aufgeilens an Strip-, Porno- und Telefonsexnummern, so spitz, nervös, zügellos und hochtourig lebenshungrig, dass man einen kurzen Lidschlag lang fürchtet, der mit seinen Madonna-Videoclips („Ray of Light“, „Music“, „American Life“) berühmt gewordene schwedische Regisseur Jonas Åkerlund wäre nicht nur ein begabter Zyniker, sondern würde sich vielleicht bei seinem Spielfilmdebüt auf Kosten dieser amerikanischen Vorstadthelden lustig machen wollen und den – wirklich nicht nur sprichwörtlichen – Blick auf die Scheiße dieser Underdogs nicht ehrlich meinen, doch was wäre das schon im Vergleich zu Mena Suvaris („American Beauty“) und Brittany Murphys („8 Mile“) verlogener Star-Existenz in Hochglanzillustrierten wie „InStyle“, während die beiden Schauspielerinnen in Åkerlunds wahnwitzigem Drogenspektakel immerhin mit sehr viel Mut einem ungeschminkten, anarchistischen Trash huldigen, und den wahren Tugenden einer Welt, in der die Wohnungen winzig klein und ungestylt sein mögen, so lange die Betten nur breit genug sind, einer Welt, in der ein alter Volvo vielleicht kackbraun und verrostet ist, aber dennoch mit jedem Detail seiner Karrosserie und seines Motors die Freiheit und Freude beim Fahren symbolisiert, einer Welt, in der ein treuer Freund mit der nötigen Kaution bereit steht, wenn dich die Bullen erwischt haben, einer Welt, in der Mickey Rourke eine flammende Rede hält, wie man als Patriot der Pussy zu dienen hat, und Debbie Harry der einzige Kerl ist, der mit Rourke mithalten kann, eine Welt, die wie in allen guten Geschichten letztendlich kein Happy-end kennen darf, weil dem klassischen „Boy Meets Girl“ zwar ein zarter Flirt folgt, der unausweichlichen Verhaftung die Freilassung, dem sadistischen Scheißfreund eine coole Freundin, aber keine Droge alle bösen Erinnerungen und jedwelche Angst auslöschen kann, weshalb letztendlich vielleicht die Flucht in den rettenden Schlaf bleibt oder der Mut zum großen Finale.

Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 17/2003.

Samstag, 2. Juli 2011

Wenn Sehnsucht bis unter die Haut geht: „Tattoo“

Willkommen in der Berliner Republik: Die Politiker inszenieren sich als Schmierentheater, die Jeunesse Dorée stellt den Glamourrausch der achtziger Jahre nach, und zugewanderte Provinzjournalisten zelebrieren sich als Kosmopoliten. Niemand ist, was er scheint, alle wollen es nur kräftig glitzern lassen und hoffen inbrünstig, ohne Kater aufzuwachen, wenn die Party einmal vorbei ist. Eine Stadt als Opernball.
Die Kehrseite Berlins, zwischen Investitionsruinen und Plattenbauten, Stadtautobahn und Gammelgärten will kaum einer sehen, und so wie sie Regisseur Robert Schwentke stilsicher und klischeefrei skizziert, hat auch noch keiner dieses Berlin gesehen, das die schwärende Wunde einer Welt von Beziehungskrüppeln ist. Gleich einer Generation von Großstadtzombies streifen sie durch die Stadt, jeder auf der Suche, auf der Lauer, mal des einen Jäger und nur einen Herzschlag später des anderen Opfer. Berlin brennt, aber es ist nicht etwa das Aufglimmen von Herzen und Verstand, sondern eine tödliche Spur aus Wundbrand und Feuerbällen. 
Biografien und Berufe spielen keine Rolle mehr, Identität entsteht aus extremer Verweigerung oder in der noch radikaleren Body Modification: Blech im Gesicht, Farbe bis unter die Haut und – im wahrsten Sinne des Wortes – gespaltene Zungen sind ein Profil des 21. Jahrhunderts.
Der junge Marc (August Diehl) hat sich für die schmerzfreie Verweigerung entschieden, für blasse Ausdruckslosigkeit. Jede Menge Party, ein bißchen Ecstasy, und bloß kein Stress bei der Arbeit:  Viel mehr erwartet er sich nicht vom Leben, und seinen ruhigen Job als Nachwuchskriminaler verrichtet er mit dem gleichen Desinteresse wie die regelmäßigen Ausflüge ins Berliner Nachtleben.
Um ihn herum tobt der Totentanz, ein Serienkiller hinterläßt auf der Jagd nach seltenen Tattoos eine blutige Spur, doch Marcs Lethargie wäre ungebrochen, wenn ihn nicht ein älterer Kollege bei einem Drogenrave ertappen würde. Hauptkommissar Minks (Christian Redl) braucht den Jungen als Szenescout und nötigt ihn zum Wechsel in die unappetitlichen Abgründe der Mordkommission, wo sich Marc Schrader (!) aus seinem Kokon befreit und als Wiedergänger jener Großstadtinfernos entpuppt, die Kultautor Paul Schrader („Yakuza“, „Taxi Driver“) einst geschaffen hat. Natürlich kann Schwentke, der auch das Drehbuch schrieb, seine Fernsehvergangenheit („Tatort“) nicht völlig verleugnen, selbstverständlich ist Berlin nicht New York, und Christian Redl kein Robert Mitchum, aber seit Jörg Fausers Büchern habe ich nicht mehr so eine atemberaubende Partitur vom Abstieg in das Leben namens Hölle aus deutscher Hand durchexerziert bekommen.
Der Tod bliebe in diesem düsteren Thriller immer der Sieger, wenn ihm nicht Nadeshda Brennicke eindrucksvoll den Rang ablaufen würde.  Nachdem das blonde Gift bereits auf Pro Sieben „In den Straßen von Berlin“ eine Talentprobe gab und vielen kleinen Low-Budget-Filmen ihren Akzent aufsetzte, brilliert sie in „Tattoo“ mit einer unterkühlten Lässigkeit und rasierklingenscharfen Lüsternheit, daß die Frage nach ihrer moralischen Bewertung, nach Gut oder Böse zu vernachlässigen wäre. Sollte die von ihr gespielte Galeristin zu den Guten zählen, trüge die Sünde einen Heiligenschein. Wenn sie das Böse verkörpert, säßen wir alle dennoch sklavisch zu ihren Füßen. Selbst diese Frage wird letztendlich geklärt, so wie uns der Regisseur auf unserer gemeinsamen Reise in die Leichenkeller der Republik auch sonst kein Detail erspart.
Aber man sollte lieber einmal ein Auge zudrücken als wegen einiger unappetitlicher Szenen dieses glitzernde Kleinod verpassen. Denn was hier glänzt, ist ein verdammt ehrlicher Blick auf das autistische Tollhaus namens moderner Zivilisation.

Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 8/2002.

Freitag, 24. Juni 2011

Literafé: Tagesgerichte zu Taschenbuchpreisen

Was ist noch anspruchsvoller, als eine Buchhandlung zu eröffnen? Ein Geschäft zu eröffnen, das zugleich Gastronomie bietet. Als Susanne Kuschel und Sonja Pavic Anfang März ihren „Kleinmädchentraum“ realisierten und in der Münchner Georgenstraße das Literafé (Literatur & Café) eröffneten, hatten sie einen Crashkurs in gleich zwei Branchen zu absolvieren.
Schließlich sind beide Quereinsteiger: Pavic, Logistikleiterin in der Automobilbranche, wollte schon immer etwas mit ihren Händen machen und verwirklicht sich jetzt als Köchin mit einem großen Faible für österreichische Mehlspeisen. Kuschel hatte zwar ursprünglich Verlagskauffrau im juristischen Fachverlag Jehle Rehm gelernt, aber danach als Kontakterin in der Werbebranche gearbeitet.
Die Liebe zum Gedruckten blieb ihr jedoch, und so bastelte sie – als die Freundinnen beschlossen, sich mit einem gemeinsamen Geschäft selbständig zu machen – monatelang an einem Sortiment, begann, quer durch die Verlage zu bestellen, und verabredete sich mit Vertretern – bis sie das Gefühl hatte, sich zu verzetteln und das Startsortiment bündeln zu müssen. Also beriet sie sich mit Koch, Neff & Volckmar, wo man begeistert war, aber auch zugleich warnte: „Tolle Bücher, aber die kauft keiner“.
„In diesem Moment“,  so Kuschel, „habe ich erkannt, dass ich Beratung brauche. Ich bin zwar sehr belesen, aber eben keine Buchhändlerin, die schon zwanzig Jahre im Geschäft ist.“
Auf 70 Regalmetern (vom Messebauer) bietet sie nun ein allgemeines Sortiment aus Kinderbüchern, Romanen, Klassikern, Krimis und ein paar Sachbüchern an. Keine Stapel, kein Buch in mehr als drei Exemplaren, und wenn ein Titel ausverkauft ist, will sie nicht nachbestellen, sondern ihn durch einen anderen ersetzen.
Vor der Tür stehen auch keine Bücherwannen, sondern nur die für ein Café üblichen Tische und Stühle, wie auch sonst die immer noch unübliche Mischung aus Literatur und Leckereien für Irritation sorgt: wer zum Essen und Trinken kommt, wundert sich, dass innen so viele Bücher herumstehen und diese auch noch eingeschweißt sind. Und die Literaturliebhaber fragen sich, warum sie in der Buchhandlung auch noch Kaffee trinken oder gar essen sollen.
Lesungen und Themenabende könnten diese Hemmschwelle abbauen helfen und das Literafé im Viertel als Begegnungsort von Geist und Schlemmerei etablieren. Der Trick mit der Liebe durch den Magen wirkte zumindest beim benachbarten Antje Kunstmann Verlag. Die Mitarbeiter kamen nach der Eröffnung eigentlich zum Essen – jetzt will Kuschel ihre nächste Lesung gemeinsam mit dem Verlag organisieren.
Nachdem sich das Sortiment anfangs „wie verrückt“ verkaufte und sogar zur Hälfte des Umsatzes beitrug, hat schon jetzt die „Sommerflaute“ eingesetzt, sodass momentan die Gastronomie, die auch den 90 qm großen, auf zwei Ebenen verteilten Laden- und Gastraum dominiert, das Geschäft trägt. Mit einem Frühstücksangebot, selbstgemachten Pralinen, frisch zubereiteten Crêpes und Kaiserschmarrn sowie drei Tagesgerichten (zu Taschenbuchpreisen!) bietet man nicht etwa nur die in immer mehr Buchhandlungen verbreitete Kaffee-, Kuchen- und Sandwich-Ecke, sondern anspruchsvolle Schmausereien, wie z.B. Schweinefilet in Apfel-Calvadosrahm, Rote-Beete-Ananas-Salat, Hackfleisch-Rote-Linsen-Bällchen mit Minzjoghurt oder Spaghetti mit Tapenade, Feta und Tomaten.
Anspruchsvoll sind auch die Bestseller der ersten Wochen: das bildungsbürgerliche Schwabinger Publikum, mit Philine Meyer-Clasons Tucholsky-Buchhandlung oder dem Literabella in unmittelbarer Nähe bereits gut versorgt, fragt auch bei Kuschel und Pavic nach Erlesenem wie Herta Müller, Sylvia Plath und Haruki Murakami.
Für die Bücherratten von Morgen und die berüchtigten Latte-Macchiato-Mütter gibt es ebenerdig eine Bilderbuch- und Spielecke, in der es auch einmal lauter werden darf, während im Hochparterre Schmökersessel, Kaffeehaustische und eine kuschlige Couch Ruhe und Entspannung bieten. „Wir werden bestimmt kein Partylokal daraus machen“, betont Kuschel ihre Gratwanderung, „aber es muß hier auch nicht wie in der Kirche zugehen“.
Freigeist herrscht auch bei der künftigen Sortimentspolitik: „Ich bin mit KNV sehr zufrieden, aber ich muß auch wirtschaftlich denken“, sprich: in Zukunft auch direkt bei den Verlagen ordern und Messe- wie Reiserabatte nutzen.

*Dieser Artikel erschien zuerst im „BuchMarkt“ Juni 2011

Mittwoch, 1. Juni 2011

Abseits von Physik und Moral: Danny Boyles „Lebe lieber ungewöhnlich“

Gib der Liebe eine Chance: Zuallererst sollte man alles vergessen, was einem von „Trainspotting“ in Erinnerung geblieben oder darüber erzählt worden ist. Denn wer Danny Boyles neuesten* Geniestreich in der Hoffnung auf schreiend schräge Bilder, Gags und Typen besucht, wird statt der Gosse den Himmel und die Weite Amerikas finden und von dem strahlend schönen Glanz geblendet sein.
Nicht daß sich zwischen Paradies und Utah weniger neurotische Menschen und Engelsscharen tummelten als in Schottland. Aber deren Macken drücken sich in göttlichen Fügungen, schüchternen Liebeserklärungen, ungelenken Erpressungsversuchen sowie Karaoke aus. Und die einzigen Drogen, Tequila und Champagner, führen ins Bett statt in den Tod. Wobei in „Lebe lieber ungewöhnlich“ durchaus geschossen, gemordet und gestorben wird – inklusive Wiederauferstehung.
Der Anlaß des anderthalbstündigen Streifzugs durch uramerikanische Mythen von Eldorado bis Elvis und vom Bankräuber bis zum Redneck ist ganz banal: Gott ist sauer. Angesichts zunehmender Scheidungen, Treulosigkeiten und sexueller Zügellosigkeit schickt er zwei Engel (Holly Hunter, Delroy Lindo) aus, ein sich wahrhaft liebendes Menschenpaar zu finden.
Die Vorsehung hat dafür ausgerechnet das durchtriebene Milliardärstöchterlein Celine (Cameron Diaz) und den hilflosen Verlierertypen Robert (Ewan McGregor) auserkoren. Das Problem: die beiden passen auf den ersten, nicht einmal unbedingt flüchtigen, Blick wirklich nicht zueinander, kennen sich nicht einmal und begegnen sich nur, weil Robert aus Verzweiflung über einen verlorenen Arbeitsplatz Celine als Geisel nimmt. Nicht gerade das ideale erste Date.
Da die Engel nur bei erfolgreicher Mission zurückkehren dürfen, lügen, drohen und tricksen sie, daß dagegen selbst Luzifer lammfromm wirken würde, aber schließlich heiligt die Liebe alle Mittel. Selbst in der – herausragenden – Synchronfassung fügen sich Sprachwitz, Bilderfülle und die Spielfreude zu einem romantischen (postromantischen?) Passionsweg, der abseits jeglicher Gesetze der Physik oder Moral verläuft.

*Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 4/1998

Zum Filmstart schipperte ich für „Ticket Berlin“ mit Cameron Diaz über den Wannsee. Hier die daraus entstandene Titelgeschichte.

Donnerstag, 3. März 2011

Zeit der Zärtlichkeit: Sofia Coppolas „Marie Antoinette“

In diesen Tagen*, wo die Nacht uns immer fester packt, der Morgen kaum der Finsternis entkommt und die Sonne sich spätnachmittags bereits wieder verabschiedet, in diesen Momenten voller Bodenfrost und Hochnebel, bringt dieser Film Erlösung. Nicht etwa, weil das Kino als „Kathedrale der Nacht“ in dieser Jahreszeit sein Hochamt feiert, sondern weil Sofia Coppola („The Virgin Suicides“, „Lost in Translation“) unsere verkühlten, erstarrten Sinne weckt.
Zu den Gitarren- und Schlagzeugklängen von New Order, The Strokes, The Radio Dept. und vielen mehr wird gleich vom ersten Ton an jeder Gedanke an einem abgehangenen Kostümschinken ausgetrieben. Sofia Coppola taucht nicht ins 18. Jahrhundert ab, sie spielt damit und sie beherrscht dieses Spiel verdammt gut.
So gut, daß man in jeder Sekunde dieser 2-stündigen Meditation spürt, wie viel Spaß allein schon die Dreharbeiten gemacht haben müssen: das echte Versailles als Kulisse zu haben, in Torten und Cremes zu schwelgen, in Samt und Seide, Manolo Blahnik hunderte von Schuhen entwerfen zu lassen und dann mittendrin ein Paar Chucks für die Kamera zu drapieren, Schäferspiele und Maskenbälle zu inszenieren und – vor allem – das Elend der heutigen Welt wie natürlich auch die historische Realität in Frankreich einfach auszublenden. Wir sind bei Königs, und wir bleiben auch da – nur einmal, ganz kurz, verneigt sich der Film vor den aufständischen Untertanen.
Dieses Porträt der letzten vorrevolutionären Königin von Frankreich ist keine Hinrichtung, sondern eine Hommage. Eine rosarot gefärbte, pudrige, leidenschaftliche Liebeserklärung an das Idyll des Hofes, die wohlweislich vor der Verhaftung und Enthauptung Marie-Antoinettes endet. Es ist auch kein testosterongefüllter Mantel- und Degen-Film, sondern das sinnliche Gegenstück, die zarte, geduldige, entspannt freche Entwicklungsgeschichte einer kleinen Österreicherin, die in einem entblößendem Zeremoniell nackt, wie Gott sie schuf, Heimat und Hof wechselt, um mit dem französischen Thronfolger vermählt zu werden.
Und dann Jahre braucht, um in ihre neue Rolle zu schlüpfen, sich im steifen Zeremoniell zurecht zu finden und im Versailler Intrigenstadel durchzusetzen, den eigenen Mann zu erobern – und andere auch. In der Erinnerung bleibt kaum eine Szene ohne Kirsten Dunst als Marie-Antoinette. So sehr beherrscht sie den Film, so locker-natürlich agiert sie als Nette von Versailles, daß selbst Asia Argento als Madame du Barry und Marianne Faithful als Kaiserin Maria Theresia dagegen nur verblassen können.
Wer, wenn nicht Sofia Coppola, hätte solch ein Meisterstück als Hofberichterstatter hervorbringen können? Schließlich war ihr Vater Francis Ford der Sonnenkönig von Hollywood, und wer „Vielleicht bin ich zu nah. Notizen bei der Entstehung von Apocalypse Now“ gelesen hat, die von ihrer Mutter Eleanor Coppola verfaßte Hagiographie, der weiß, daß beim Film der Absolutismus fortlebt. Zoetrope hieß das amerikanische Versailles, in dem Sofia aufgewachsen ist, das Studio ihres Vaters. In der Zeit von Siouxsie and the Banshees, Adam Ant & The Ants, New Order, Bow Wow Wow, The Cure, die den Soundtrack von „Marie Antoinette“ ebenso prägen wie Air und Phoenix, Sofias aktuellere Lebensbegleiter.
Prinzessin Sofia und Königin Marie-Antoinette sind die Lichtgestalten eines unschuldigen Reiches, aus jener fernen Dimension abseits einer Lady Di, Caroline oder Paris Hilton, wo eben kein Paparazzi-Mob die Paläste stürmt, und keine High-Society sich fernsehgerecht verdingt.
Stattdessen wird in „Marie Antoinette“ dem Eskapismus gefrönt, den hemmungslosen Momenten zu zweit zwischen den Laken, den spielerischen Augenblicken mit kleinen Kindern, dem schwelgerischen Empfinden angesichts einer neuen Modekollektion, dem atemberaubenden Genuß frischer Petit-Fours. Was will man mehr, an Tagen wie diesen?
*Diese Filmkritik erschien zuerst im herbstlichen „In München“ 22/2006.

(Foto: ARTE F/Taurus Media)

Samstag, 26. Februar 2011

Buchhalter from outer space: Jürgen Eggers „Harald“

Harald braucht Licht, Harald sucht Spaß, Harald ist ein Außerirdischer. Auf Urlaub, sonnenhungrig, an sexuellen Abenteuern interessiert, eben ein Pauschalreisender. Noch schlimmer: ein Billigtourist, dessen wenige Weltraumtaler gerade einmal für eine schlichte irdische Hülle, Marke: Buchhalter, gereicht haben. So stakst der unbedarfte Erdankömmling im steten Kampf mit der Schwerkraft in das Leben einer Science-fiction-Lektorin, nascht an ihrem Patentkleber und bricht ihr das Herz.
Heinrich Schafmeister spielt den Sternenbummler wie einen James Stewart auf Crack. Schlacksig, jungenhaft, zu keiner Lüge fähig und doch bei aller Gutmütigkeit von einer zügellosen Verwirrung stiftenden Anarchie. Das intergalaktische Reisebüro hat ihm Bed & Breakfast bei der Lektorin (Frusthenne: Martina Gedeck) angedreht. Bloß weiß die gute Frau nichts davon. Ihre Gastfreundschaft entwickelt sich erst, als sie Harald dazu benutzen kann, einen klammernden Gelegenheitslover (Ruhrpott-Proll: Ingo Naujocks) auszubremsen.
Jürgen Egger hat mit seinem Drehbuch für Rainer Kaufmanns Kurzfilm „Der schönste Busen der Welt“ bereits Sinn fürs Skurrile bewiesen und bei Sönke Wortmanns „Kleinen Haien“ Tempo und Einfühlungsvermögen. In seiner neuen Doppelfunktion als Autor und Regisseur gelang Egger leider nur eine recht grobe, ungelenke Nummernrevue.
Die Grundkonstellation des naiven Fremden, der keine menschliche Konvention beherrscht, ergibt einige Kabinettstücke: Wenn etwa Harald mit seiner bemüht höflichen Art ein paar Zechbrüder unter den Tisch säuft, einen Busfahrer wie einen Privatchauffeur traktiert, den Hausmeister mit dicken Scheinen schmiert oder seinen schnoddrigen Rivalen verbal aufmischt. Um so plumper wirken die Gags, in denen das Elend deutscher Fernsehsender und einsamer Single-Frauen karikiert wird. Die Darstellung des Berufsalltags ist so dämlich, wie wir es in den Superweib- und Stadtgespräch-Schmonzetten erleiden mußten.
Ein Trost: Wenigstens bleiben dem Zuschauer die sonst üblichen Luxus-Altbau-Super-Loft-Terrassen-Landschaften deutscher Komödien erspart.
Diese Filmkritik erschien am 2. Januar 1997 in „Ticket“ 1/97, dem Kultursupplement des Berliner „Tagesspiegels“.

(Foto: BR/SWR)

Samstag, 15. Januar 2011

Anica Dobra: Die Gastarbeiterin („Bin ich schön“, BR, 22.25 Uhr)

Im Bayerischen Fernsehen läuft heute abend Doris Dörries herausragender Liebes- und Lebensreigen „Bin ich schön?“. Anläßlich des Kinostarts 1998 haben der Fotograf Gunnar Geller und ich Hauptdarstellerin Anica Dobra im Hamburger Atlantic-Hotel zu einer Fotoproduktion und einem kurzen Interview für das Kultursupplement des Berliner „Tagesspiegels“ getroffen („Ticket“ 38/98 vom 14. September 1998).
Nichts einfacher, als ein europäischer Star zu sein? Dafür, daß die deutschen Behörden der nicht zum ersten Mal hier drehenden Anica Dobra („Wildfeuer“, „Roula“, „Honigmond“, „Frauen sind was Wunderbares“, „Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer...“) trotz jugoslawischem Paß eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis erteilten und er die Serbin neben Senta Berger, Dietmar Schönherr, Franka Potente und Heike Makatsch für Doris Dörries „Bin ich schön?“ besetzen konnte, mußte Produzent Bernd Eichinger lange kämpfen. Umgekehrt verweigerten dafür jugoslawische Behörden den Kollegen vom „Stern“, die Dobra in ihrer Belgrader Heimat besuchen wollten, das Visum. 1999 wird die Last – und Lust – mit der Fremde Doris Dörrie und Anica Dobra wieder zusammenführen, wenn sie „Erleuchtung garantiert“, die Heilssuche zweier Niederbayern in Japan, verfilmen.
Ticket: Sie leben in Deutschland und Jugoslawien?
Anica Dobra:
Nein, mein Ausgangspunkt ist nach wie vor Belgrad. Das ist sehr wichtig für mich, weil es meine Basis ist. Man kann natürlich nachrechnen, wieviel Zeit ich dort verbringe und wieviel in Deutschland, aber dieses Pendeln ist zur Routine geworden und stört mich überhaupt nicht. Ich funktioniere auch hier sehr gut, habe Freunde, ein Zuhause.
Arbeiten Sie auch in Jugoslawien, stehen Sie auch dort auf der Bühne oder vor der Kamera?
Es ist schwierig mit der Filmarbeit, weil durch die Umstände wenig gedreht wird. Man kann auch kaum noch von einer Filmindustrie sprechen. Andererseits gibt es viele Enthusiasten mit frischen, neuen Ideen. Das ist logisch, daß nach einem Krieg plötzlich alles wieder aufblüht. Derzeit herrscht eine ausgesprochen gute und interessante Atmosphäre, und ich drehe nach einigen Jahren endlich wieder einen Kinofilm zu Hause. Mit etwas Glück wird er vielleicht auf der nächsten Berlinale gezeigt oder zumindest angeboten.
Die Filmkultur, die wieder neu entsteht: Ist das Kino à la Emir Kusturica?
Das nervt mich, daß man in Deutschland nichts anderes kennt. Daß man unsere Filmkultur nur mit Kusturica verbindet, mit irgendwelchen folkloristischen Werken und den Zigeunern, obwohl wir weit mehr zu bieten haben. Aber offensichtlich interessiert man sich in Cannes oder Berlin nur für exotische Geschichten. Dabei gibt es auch andere interessante Filme, deren Themen nicht so lokal geprägt sind. So einen hoffe ich jetzt zu drehen. Da wir nun mal eine Sprache sprechen, die fast keiner versteht, besteht für unsere Filme die einzige Überlebenschance, auf einem Festival erfolgreich zu sein.
Ist Ihr Name inzwischen gut genug, um deutsche Koproduzenten garantieren zu können?
Ja, aber dazu müßte ich mich auch damit befassen. Das mache ich aber nicht, denn ich bin weiterhin nur Schauspielerin. Ich nehme mir die Freiheit, Projekte anzunehmen oder abzulehnen. Alles andere kümmert mich nicht.
Haben Sie denn keine Ambitionen, wie viele Kollegen, auch mal Drehbücher zu schreiben, Regie zu führen, zu produzieren?
Nein, noch nicht. Ich bin schon sehr froh, wenn ich als Schauspielerin etwas vorschlagen darf, kann oder sogar muß. Das befriedigt bereits meine Eitelkeit. Und es genügt mir auch, daß ich bei einem Drehbuch, das mich anspricht, das mir gefällt, durch mein Mitwirken, mein Improvisieren eine neue Dimension hinzufüge.
Mir ist beim Fototermin aufgefallen, daß Sie sehr genau zu wissen scheinen, was Sie mit welcher Körperbewegung auslösen, wie Sie posieren müssen. Sind Sie ein Naturtalent, oder lernt man das auf der Schauspielschule, bei der Arbeit?
Es wäre übertrieben, zu behaupten, daß ich ein Naturtalent bin. Ich war aber auch kein Nichts, das erst auf der Schauspielschule plötzlich alles entdeckt hat. Manchmal weiß ich gar nicht, was alles in mir steckt. Oft ist es eine Frage der Entscheidung: ein Gemisch aus Kopf und Herz, weil man doch auch als Naturtalent sich noch irgendwie Gedanken darüber machen darf. Vielleicht will ich gar nicht fotografiert werden, aber sobald ich mich dafür entscheide, mache ich das auch korrekt. Obwohl ich wirklich zugeben muß, daß mir die Medien scheißegal sind (lacht). Ich vermisse die Medien nicht, und wie ich festgestellt habe, vermissen sie mich auch nicht... (lacht) Das ist ein faires Spiel.

Mittwoch, 12. Januar 2011

Der Rainer, der Langhans und ich

Mit dem Langhans ist es paradox. Als ich etwa vor einiger Zeit noch wuschelköpfig  herumlief, hielt man mich wiederholt für den „Apo-Opa“. Einerseits war er damals offenbar schon (noch?) bekannt genug, um erkannt zu werden. Und zugleich unbekannt genug, um ausgerechnet mich mit ihm zu verwechseln. Locken und Brille schienen dafür schon auszureichen.
Als ob das nicht schon paradox genug wäre, mußte ich dieser Tage feststellen, daß ich bereits einmal beruflich in Berlin mit ihm zu tun gehabt habe. Auf jede diesbezügliche Anspielung hätte ich rundum abgestritten, mit Langhans auch nur jemals ein Wort gewechselt zu haben, aber in meiner Belegmappe findet sich ein Interview zwischen uns beiden. Einen bleibenden Eindruck hat er da offenbar im August 1998 bei mir nicht hinterlassen:
Deutschland im Herbst 1998. Bürgerliche Raffgier und opponierende RAF scheinen passé, statt kontroverser Diskussionen wird – piep, piep, piep – das einvernehmliche Gespräch gesucht. So konsequent sogar, daß selbst die APO-Veteranen, die die nächsten drei Tage im Tempodrom und der Schwangeren Auster die 68er-, 89er- und 98er-Generationen zusammenbringen wollen, sich Roman Herzog ans Revers pappen: „Durch Deutschland muß ein Ruck gehen“, forderte der Bundespräsident vor einem Jahr – nun wird ab heute unter dem Slogan „Ready to Ruck“ zurückgeschwätzt, -vibriert und -gestreichelt.
Zum Beispiel auch von Kuschelkommunarde Rainer Langhans, seiner Haremsfrau Christa Ritter, DJane Monika Kruse, der Türsteherin und Sängerin Paula P'Cay und dem Initiator des Festivals, Günter Langer (vormals Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen), die sich zu einem ersten Schnuppergespräch mit uns trafen.
Berliner Morgenpost: Was wird bei „Ready to Ruck“ passieren?
Monika Kruse: Das ist ja die große Überraschung. Was passiert, wenn die 68er auf meine Generation trifft? Musik ist für mich dabei gar nicht das Wichtigste. Ich will mich mit denen einfach nur treffen, unterhalten, Spaß haben.
Rainer Langhans: Ich mag keine Organisationsgeschichte, ich will mehr das Chaotische. Uns geht es um das Gespräch, um die Begegnung. Ich rede einfach gern mit Leuten, gerade mit den Jüngeren, mit denen ich mich wohler fühle als mit meinen Altersgenossen. Ich finde da alles wieder, was wir angefangen haben. Das Gefühl, leider auch die Drogen.
Mopo: Gibt es gar kein politisches Ziel mehr?
Langhans: Ich halte das für Politik. Es geht nicht mehr ums Malochen und Mangelverteilung, Interessen und Raffausgleich. Politik ist die Vermehrung von Wohlgefühl.
Paula P'Cay: Es ist wirklich so. Abends, bei der Arbeit in der Diskothek, sind wir alle gleich, ob Kellner, DJ, Geschäftsführer, und jeder fühlt sich wohl. Das gab's früher nicht.
Günter Langer: Wir haben's versucht, sind aber damit nicht sehr weit gekommen. Unsere ganze Alternativkultur hatte so einen ähnlichen Anspruch.
Mopo: Aber mit einem missionarischen Anspruch. Wollte man früher die ganze Welt darauf trimmen, kümmert man sich heute um seinen eigenen Bereich, und schert sich nicht mehr darum, was die anderen machen.
P'Cay: Aber natürlich nur in unserer Underground-Szene. Wenn ich in einer Kudamm-Disco arbeiten würde, wäre es doch anders.
Langer: Aber diese Arbeitsverhältnisse sind heute viel weiter verbreitet und selbstverständlicher als zu unserer Zeit.
Christa Ritter: Ich habe in Berlin auch das Gefühl, meine Kinder sind hier. Nicht meine leiblichen, aber die mich verstehen.
P'Cay: Einmal in einer Techno-Disco haben plötzlich alle zusammen zu der Musik gebrüllt, ich dachte, das ist es. Die brauchen gar keinen Sex mehr, sondern das Gemeinschaftsgefühl mit allen.
Kruse: Seit Aids geht man auch ganz anders mit Sex um.
P'Cay: Es wird viel gestreichelt und viel gesprochen. Männer und Frauen, Frauen und Frauen, Männer und Männer. Ich habe viele Freunde mit denen ich ausgehe, aber einen Freund, den ich liebe und mit dem ich alles andere mache.
Mopo: Kommt es aber nicht vor, daß man auch mit Dritten kommuniziert, miteinander Sex hat, ohne damit den Lebenspartner zu betrügen?
Langer: Das ist die Vorstellung von „dirty old men“ wie uns.
Langhans: Wir haben die Erfahrung gemacht, daß es die Geschichte mit dem schrankenlosen Sex nicht ist. Und dann gibt es für nachhilfebedürftige Menschen eine kleine Krankheit.
P'Cay: Die ist auch notwendig. Genauso wie die Pest oder Syphilis wird heute Aids gebraucht. Damit den Menschen klar wird, was passiert.
Mopo: Aber Aids bedeutet doch nicht den Verzicht auf Sex, sondern anderen Sex.
P'Cay: Das ist doch nicht schön. Das will keiner haben. Das ist nicht das wahre Gefühl.
Langhans: Man könnte ja sagen, Techno-Liebesverhalten wäre Safer Sex.

(Foto: RTL/Stefan Gregorowius)

Montag, 10. Januar 2011

nachgefragt: Thomas Rupprath

Während meiner Zeit als fester Freier bei der „Cosmopolitan“ habe ich zwei Jahre lang auch bei „Shape“ mitgearbeitet und dort unter anderem einen Fragebogen entwickelt und betreut. Neben diversen Fragen gaben wir dem Promi jeweils auch noch die Möglichkeit, sich selbst zu zeichnen und uns einen Schnappschuß aus seiner Kindheit zu zeigen. Im Dezember 2004 war „nachgefragt“ dem Rekordschwimmer Thomas Rupprath gewidmet. Wer hätte geahnt, daß er sich sechs Jahre später für „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“ (Foto: RTL/Stefan Gregorowius) qualifiziert? Ob er seine Körperpflege von Biotherm Homme ins Dschungelcamp mitnehmen darf?

„Obsession“: Peter Sehrs dissonantes Spiel behaupteter Leidenschaften

Leidenschaft ist keine Frage der Masse. Die Steigerung der Lust durch Häufchenbildung mag noch für kleine Kinder gelten, die Bauklötzchen aufeinanderstapeln oder Fruchtzwerge in sich hineinspachteln. In Fragen der Liebe erscheint die Vorstellung recht kindisch, daß eine Frau, die zwei Männer liebt, allein deswegen schon größere Leidenschaften durchlebt als eine Frau mit nur einem Partner.
Aber Regisseur Peter Sehr („Kaspar Hauser“) ist in diese Vorstellung so vernarrt, daß er es nicht einmal dabei beläßt, sondern gleich zwei Ménages à trois in seinen Film packen muß: zwei Frauen mit jeweils zwei Männern und keinem Hauch von Leidenschaft. Allein der intellektuelle Kraftakt, sechs Figuren samt ihrer Handlungsstränge zu entwickeln und miteinander zu verknüpfen, hätte die 114 Filmminuten anstrengend werden lassen.
Doch gemach, da steckt noch mehr drin: ein dem Holocaust entkommener Jude, der gerne glitzernde Knöpfe stiehlt und darob vom bösen, deutschen Kaufhausdetektiv gejagt wird; ein französischer Wissenschaftler, der dem Tod ein Schnäppchen schlagen will und mit Herzen experimentiert; ein weißer Afrikaner, dessen Großmutter vom Opa erschossen wurde und der die Erklärung für das Familiendrama in altem Zelluloid sucht; eine Schwangere, die aus Unachtsamkeit vom Rad fällt und ihr Kind verliert; Berliner Rechtspfleger; Pariser Straßenkünstler; Brandenburger Sakralbauten; Burgunder Dorfidyll, die Niagarafälle und so weiter und so fort.
Statt klarer Ideen und nachvollziehbarer Emotionen wird ohne jedes Gefühl für Dramaturgie und Rhythmus ein kunterbuntes Kindermenü aus dem Fastfoodangebot pittoresker Gefühle und dramatischer Spitzen hingeklatscht. Ein McGuffin auf den nächsten.
Es mag nur Berliner Zuschauer irritieren, wenn eine Verfolgungsjagd über ein paar hundert Meter in den Galeries Lafayette beginnt, nahtlos vor dem KaDeWe fortgesetzt wird und schließlich im U-Bahnhof Alexanderplatz endet. Ein für das Medium typisches Aneinanderklittern idealisierter Schauplätze ohne Rücksicht auf Gegebenheiten. Film als Fiktion.
Doch was bei Kulissen noch funktionieren mag, wirkt als Inhaltsmaxime schnell enervierend. Selbst wenn Babyface Heike Makatsch durch diesen Handlungssalat stakst, als Musikerin einer Frauenband namens „Berlin United“ sogar Pieps machen darf und die süßeste Verkörperung weiblicher Unentschiedenheit spielt.

Diese Filmkritik erschien zuerst im Kultursupplement des Berliner „Tagesspiegels“: „Ticket“ 35/97 vom 28. August 1997

Dienstag, 4. Januar 2011

Borneo: Der Ruf der Wildnis

Das Paradies ist käuflich. Der Handel beginnt auf dem Markt von Serian, Borneo. In allen Herrgottsfarben schillern und schimmern nie zuvor gesehene Früchte, knackfrische Dschungelfarne, Chili und Kokossüßigkeiten. Selbst scheinbar Vertrautes wie Mango und Sternfrucht überrascht mit natürlich gereifter Geschmacksvielfalt.
Vom Sündenfall keine Spur. Keine genormten Turbochiquitas und abgebrühten Touristenabzocker, dafür strotzt der Markt vor krummen Formen und urtümlichen Charakteren. Während ich mich durch zahllose Sorten winziger, aromastarker Bananen koste und lerne, dass angekokelte Rattanzweige gegen Diarrhö helfen, beobachten mich die Händler amüsiert. In Malaysia bin ich die Kuriosität. Es schmeckt mir trotzdem, und die Nascherei weckt meine Sinne nach dem 14-stündigen Flugmarathon. Ich werde sie auf diesem schwülen Tropentrip brauchen.
Nur zehn Tage habe ich Zeit, dem Winter zu entkommen und mein Defizit an Sonne, Sanftmut und Sinnlichkeit auszugleichen. Borneos malaysischer Nordteil schien perfekt: Die Kopfjäger längst ausrangiert, aber noch keine Touristenhorden an der Tagesordnung. Sonne satt bei 35 Grad, doch genug Action, um mich nicht zu langweilen. Eintauchen in mystisch klingende Provinzen wie Sabah und Sarawak – aber mit Flipflops an den Füßen und nicht ausstaffiert wie Indiana Jones. Pure Projektion? Vielleicht, aber schließlich beginnt der Urlaub im eigenen Kopf.
Und der traf eine weise Vorentscheidung: die Individualität zurückzustellen und organisiert zu reisen. Natürlich gibt es auf Borneo Rucksacktouristen, die sich wochenlang dahintreiben lassen. Und sogar deutsche Fahrradfundis, die sich die Insel kilometerweise erstrampeln. Mit Blick auf meinen Zeitplan schloß ich mich aber einer geführten Gruppe an, schließlich haben selbst auf Borneo Nationalparks Öffnungszeiten.
Und die klassische Dschungelnacht im Langhaus will auch organisiert sein: Zu acht machen wir uns auf ins Herz der Finsternis, steigen vom Bus in Langboote um, oftmals das einzige Transportmittel zu den landeinwärts gelegenen Siedlungen. Das Gepäck bleibt im bewachten Bus zurück, wir tragen nur das Nötigste für eine Nacht und Gastgeschenke für den Stamm mit uns.
Der Fahrtwind den Lemanak-Fluß hoch bietet eine unerwartete Erfrischung, denn seit meiner Ankunft schwitze ich nur noch, wenn auch auf die denkbar (zweit-)schönste Art: Borneo bettet mich in einen schwülen Tagtraum. Ob zu Land, in der lauwarmen Südchinesischen See oder in einem der Hotelpools: Ständig umgibt mich ein feuchtwarmer, durchaus entspannender Kokon, der alles frischer und lebendiger wirken lässt.
Hoch über dem Fluss wartet Borneos Antwort auf den Club Med: Ringelpitz beim Häuptling. Doch auch wenn der Chief wahrscheinlich jeden Tag eine andere Gruppe zu Gast hat, gibt er uns das Gefühl, einen besonderen Abend zu erleben – und das nicht mit angestellten Animateuren, sondern im Herzen eines Iban-Clans. Im Langhaus wohnen sie alle unter einem Dach. Es gibt Kunsthandwerk zu Schnäppchenpreisen und nach dem Chefmenü ein Besäufnis mit Reiswein und -schnaps. Die Hauptattraktion erwartet mich im Gästehaus: Unterm Moskitonetz lausche ich dem nächtlichen Regenwald. Die wildesten Klänge stammen zwar von den unscheinbarsten Grillen, aber in der Fantasie wird daraus ein wüstes Spektakel.
Näher will ich dem brünftigen Stück Natur aber nicht rücken. Während ich im Boot zurückfahre, laufen die anderen bei strömenden Regen durch den Wald. So apart ich es auch finde, dass dort weibliche Blutegel nur Männer anspringen und männliche die Frauen, bleiben es doch Dschungelparasiten, denen ich gerne aus dem Weg gehe...
Borneos grünes Herz betrachte ich lieber aus der zweimotorigen Twin-Otter, die uns nach Mulu fliegt. Wieder ist nur kleines Gepäck erlaubt, angeblich lässt der Pilot jeden Passagier wiegen. Aber davon keine Spur. Dabei hätte ich gern gewusst, ob die Borneo-Diät (Reis, Fisch, Geflügel, scharf angebratenes Gemüse aus dem Wok) anschlägt...
Wie die meisten Hotels auf Borneo ist auch das Royal Mulu Resort keine durchklimatisierte Trutzburg, sondern ein Ensemble offener Veranden. Im lichten Nebeneinander von Lobby, Restaurant und Bar tummeln sich Geckos auf Insektenjagd. Den Eidechsen entgehen die Riesenbrummer natürlich – prompt knallt mir ein handtellergroßer Käfer an die Brust. Zum Glück kann man zumindest sein Zimmer herunterklimatisieren – in diesen Breitengraden reichen 20 Grad, um Spinnen in Kältestarre verfallen zu lassen.
Hier in Mulu komme selbst ich nicht um den Dschungel rum. Auf einem kilometerlangen Steg marschieren wir durchs Tropenholz, über uns träge flatternde Nashornvögel, rechts von uns der erste Orang-Utan. Ohne Führer hätten wir ihn nie im Unterholz entdeckt, und selbst jetzt verdichten sich Schattenspiel und Knackgeräusche eher zu einer Ahnung denn zur Gewissheit.
Heute steht der Rotschopf auch noch gar nicht auf dem Programm. Unser Interesse gilt den Tropfsteinhöhlen von Mulu, mit 554 Quadratkilometern die größte Höhlenkette der Welt. Fasziniert betreten wir Borneos offenen Bauch, erkunden die Unterwelt und nutzen die Gelegenheit, um uns vor der Clearwater Cave in einem Bach abzukühlen, den die Höhlenquelle speist. Die Führer bereiten ein Picknick vor, und wir fühlen uns so wohl wie die Millionen Fledermäuse, die hier hausen und abends bei ihrem Formationsflug ein spektakuläres schwarzes Himmelsband knüpfen.
Das ist nicht Draculas Reich, aber auf dem Nomadenbazar von Mulu treffe ich doch gewisse Vorkehrungen. Während sich die Mitreisenden auf Flechtwerk, Blasrohre und Ethnoschmuck stürzen, entdecke ich bei einer greisen Nomadin finger- bis faustgroße Kreuze aus neonbunten Plastikperlen und kaufe die halbe Produktion auf – denn wer will schon jeden Tag dasselbe Kreuz tragen?
Was soll man auch sonst aus Borneo mitbringen? Ob auf dem Nachtmarkt von Sibu oder in den Boutiquen von Kuching: überall meist schlechte Sportswear-Kopien und Pokemons aus chinesischen Sweatshops. Erst die Einkaufsmeile von Sandakan rettet meine Stimmung: Ob Satteltaschen, Denim-Look oder Graffiti-Muster: alles da, alles Fake, aber keine langweiligen Kopien, sondern einzigartige Variationen.
Bei aller Tropenromantik lebt Malaysia am Puls der Zeit: keine Stadt ohne McDonald's. Der Mangosaft kommt selbst im Langhaus aus der Nestlé-Dose, dafür setzt man im Fremdenverkehr auf Öko-Tourismus. Auf dem Markt gibt es nicht nur die neuesten George-Clooney-DVDs, sondern sogar Tom Tykwers „Lola rennt“, und unser spleeniger Führer Fernando behauptet, er hätte einen pink gefärbten Riesenpudel daheim. Nach dem gemeinsamen Bootstrip zur Sukau Rainforest Lodge traue ich ihm das zu.
Denn Fernando ist unser Dr. Dolittle. Während um uns Reisegruppen mit schweren Außenbordern Amok fahren, führt er uns mit lautlosem Elektroantrieb mitten unter die Tiere. Pirscht sich an Nasenaffen heran, lässt uns Warane und Paradiesvögel entdecken, zeigt uns den Fischer, der die Flusskrebse für das Abendessen aus dem Wasser holt.
Meinen letzten Naturfilm sah ich, als Grzimek noch lebte. Tiere bevorzuge ich auf einem Teller, schmackhaft zubereitet. Aber auf Borneo, als Gast in freier Wildbahn, lässt mich das tägliche Tête-à-tête nahezu hyperventilieren. Die Augen weit aufgerissen, den Finger ausgestreckt, bleibt mir nur stotterndes Staunen. Zum Glück knipsen alle die Tiere und nicht mich. Aber wer kann cool bleiben, wenn man in Sepilok den Orang-Utans so nah kommt, dass sie einem in die Tasche greifen oder das Handy wegnehmen können?
Wobei ich diesen Verlust auch erst nach zehn Tagen gemerkt hätte, als mich die Realität inklusive hektischer Klingeltöne einholte. Der Powertrip durch die Orchideeninsel, in videoclipschnellem Wechsel der Orte, Reisemittel und Erlebnisse war bei allen Strapazen eine belebende Kur für die Sinne: Neues sehen, fühlen, schmecken.
Ich habe zwar in Malaysia eine Welt kennen gelernt, in der ich kaum ständig leben will: die Polizei rigide, das Regime so muslimisch, dass man Alkohol gerade noch toleriert, im importierten „Stern“ aber alle nackten Brüste überklebt. Doch während man sich im indonesischen Südteil der Insel zurzeit die Köpfe einschlägt, leben im malaysischen Borneo die Dschungelstämme friedlich mit Malaien, Chinesen und Europäern zusammen, heiraten untereinander und erwecken den Eindruck eines toleranten kleinen Paradieses.

Dieser Reisebericht erschien zuerst in der „Cosmopolitan“ 2/2002
(Foto: Daniel Kleeman/flickr)

Sonntag, 2. Januar 2011

Vive la chanson: Ein paar Lieblingsalben

Diese Plattenempfehlungen erschienen 2010 in Zusammenhang mit meinem Grundsatzartikel zum französischen Chanson: „Ein ganzer Roman in drei Minuten; Vive la chanson“

Charles Aznavour: „Jazznavour“
Mehr Nightclub, denn Jazzkeller: 14 von Aznavours Klassikern wie „She“ , mit dessen Hilfe uns Julia Roberts in „Notting Hill“ zu Tränen rührte, oder die bitterböse Macho-Hymne „Tu t’laisse aller“ („Du lässt Dich gehen“), die hier aber allesamt nicht mit Leidenschaft prahlen, sondern lässigst mit Unterstützung von Dianne Reeves, Michel Petrucciani und anderen Jazzgrößen eingespielt wurden.
Capitol (EMI Austria), 1999

Benjamin Biolay: „Trash Yéyé“
Nicht vom Titel irreführen lassen, der an den Chanson Yéyé des frühen Johnny Halliday denken lässt. Biolay, Gallionsfigur des Nouvelle Chanson ist zwar wie Gainsbourg von Amerika fasziniert, schwelgt hier aber – nach der Trennung von seiner Ehefrau Chiara Mastroianni – in Pariser Melancholie und Liebeskummer. Also keine Spur von Bubblegum, sondern verführerisch-trauriges Gesäusel von meditativer Klarheit, damit einem diesen Wintert warm ums Herz wird.
Virgin (EMI), 2007

Jane Birkin: „Arabesque“
Paris-London-Algier: Serge Gainsbourg und Jane Birkin waren so etwas wie das Power-Couple des französischen Chansons – und sorgen selbst nach Gainsbourgs Tod für immer neue Facetten. In diesem Konzertmitschnitt einer Begegnung Birkins mit arabischen Musikern rund um den algerischen Geiger Djamel Benyelles werden Gainsbourgs Klassiker wie „La javanaise“, „Baby alone in Babylone“ oder „Élisa“ orientalisch interpretiert.
EMI, 2003

Georges Brassens: „Le pornographe“
Ein Säle füllender Top-Star und zugleich Anarchist, einer von Frankreichs bedeutendsten Dichter und zugleich ob seiner obszönen Texte oft nicht radiotauglich: War Brassens ein einziges Paradoxon oder eben gerade die Quintessenz der Chansonkultur? Der „Pornograf des Phonographen“ mit einem Schlüsselwerk. (Oder alternativ lieber ganz unschuldig: „Georges Brassens chante les chansons de sa jeunesse“, Mercury, 2001, französische Lieder seiner Jugend von Charles Trenet und anderen – letzteres in der Regel nur über französische Händler)
Mercury (Universal), 2009

Jacques Brel: „L'Integrale“
Gesamtausgabe mit 15 CDs in einer Samtbox – und damit eine veritable Bibliothek des Belgiers, der mit jedem Chanson in drei Minuten ausdrücken wollte, wozu ein Schriftsteller einen ganzen Roman braucht. Wem das zu viel ist, der kann stattdessen zu Brels prägnanten Livemitschnitten greifen. Seine Auftritte 1961 und 1964 in der Pariser Music-Hall Olympia, dem wichtigsten Auftrittsort der Chansonniers, findet man einzeln (Philips/Universal 1988 bzw. Barclay/Universal 2004) oder als Doppel-CD (mit „Ne me quitte pas“, „Amsterdam“ aber auch einigen bei beiden Auftritten gespielten Dubletten. D.R.G. 2007).
Mercury (Universal), 2004

Camille: „Le fil“
Fast schon a cappella, sehr zurückhaltend nur mit Kontrabaß und gelegentlich auch noch einem Klavier instrumentiert, mit einer extrem ausdrucksstarken wie vielseitigen Stimme, die sich um einen alle Lieder durchziehenden Halteton windet, ihn umspielt und dann immer wieder auf eine andere Weise geradezu explodiert. (Und damit so ziemlich das Gegenteil zu Camilles säuselnden Mitwirkung bei Nouvelle Vague.) Ihre Videoclips (etwa auf YouTube oder Dailymotion) sind nicht weniger exzentrischer.
Virgin (EMI), 2005

Matthieu Chedid: „Bapteme & Je Dis Aime “
Doppel-CD mit den ersten beiden Alben von – M - alias Matthieu Chedid, der uns zwischen Rock und Chanson changierend in einen Strudel der Emotionen zieht. Nicht umsonst mit „Close to me“ von The Cure als französischsprachige Coverversion – seine eigenen Titel halten da mühelos mit. Wer eine französische Bezugsquelle hat, findet auf dem Anfang Dezember erscheinenden Live-Doppelalbum „Les saisons de passage“ (Barclay, 2010) sein aktuelles Tourneeprogramm samt einer DVD.
EMI France, 2007

Coeur de pirate: „Coeur de pirate“
Dem doch recht stupiden, aber eben gerade darum eingängigen Dance-Remix von „Comme des enfants“ ist es zu verdanken, dass die 20-jährige Béatrice Martin alias Coeur de pirate ihr Album jetzt auch in Deutschland veröffentlichen durfte. Eine unverwechselbare Stimme, mit diesem süßen frankokanadischen Akzent – und wahrscheinlich weltweit die Chansonsängerin mit den meisten Tattoos.
Le Pop (Groove Attack), 2010

Julie Delpy: „Julie Delpy“
Zwar nicht mehr lieferbar, aber gebraucht erhältlich. Und die Suche wert! Die Schauspielerin („Before sunrise“, „Homo faber“, „2 Tage Paris“) singt nicht nur vor der Kamera, sondern auch wo es sich sonst immer anbietet über Liebeskummer, One-night-stands und ihr Leben als Französin in Los Angeles. Jeder Mann, der ein Date mit ihr hat, sollte sich Mühe geben. Sonst verewigt sie ihn, kaum wieder daheim, in einem Chanson.
Pias, 2003

Jacques Dutronc: „Best Of – 3 CD “
Mit Sicherheit der coolste Hund unter all den Chansonsängern und das schon seit über 50 Jahren. Fast ebenso lange nahezu immer mit der Sonnenbrille auf der Nase, Alkohol zur Hand und an einer Zigarre herumspielend. Françoise Hardy liebt ihn trotzdem. Und ich empfehle nur ausnahmsweise eine „Best of“-Edition, nur meine Lieblingstitel wie „J’aime les filles“, „Les Playboys“, „Il est cinq heures, Paris s’eveille“ und „L’hôtesse de l’air“ beisammen sind.
Vogue (Sony Music), 2009

Serge Gainsbourg: „Comic Strip“
Zwar kein Originalalbum, sondern nur eine posthume Kompilation, die aber mit ihren Pop-Klassikern („Je t’aime“, „Bonnie and Clyde“, „Ford Mustang“) wie aus einem Guß wirkt. Und alle Klischees bedient, die Tugendwächter wie das DDR-Standardwerk zur Chansonkultur in Wallung versetzt: die „Sprache, ein verstümmeltes, von Amerikanismen und Rauschgift-Modetermini durchsetztes Französisch“, das – mit tatkräftiger Unterstützung Brigitte Bardots und Jane Birkins – „alle humanistischen Werte in Frage“ zu stellen scheint.
Philips (Universal), 1997

France Gall: „Babacar“
Kein bisschen Baby Pop wie bei ihrem Grand-Prix-Sieg 1965 mit „Poupée de cire, poupée de son“ mehr. Schließlich ließ sie sich das Material auch nicht mehr von dem zynisch-verspielten Gainsbourg schreiben, sondern von Michel Berger, ihrem Ehemann und einem der bedeutendsten Chansonkomponisten. Nicht zuletzt dank ihm war France Gall hier mit 40 auf dem Höhepunkt der Kunst. Ihre Ella-Fitzgerald-Hommage „Ella elle l’a“ und „Babacar“ wurden auch außerhalb Frankreichs zu Hits.
Wea (Warner), 1988

Katerine: „RoBOTS après tout“
Daft Punks „Human after all“ setzt Philippe Katerine die Roboter entgegen. Extrem tanzbarer Elektro-Chanson, bitterböse und so schnell, als ob ein Duracell-Hase auf Speed wäre. In den USA müsste man vor den „explicit lyrics“ warnen. In Frankreich folgerichtig Katerines erfolgreichstes Album, bei dem er nicht nur mit den Identitäten von Menschen und Maschinen spielt, sondern auch mit den Geschlechterrollen.
Bungalow (rough trade), 2006

Sandrine Kiberlain: „Manquait Plus Qu'Ça“
Vor allem wegen der Coverversion des Beatles-Songs „Girl“ (oh Gott, ist das sexy, wenn Französinnen englisch singen). Aber die rotblonde sommersprossige Schauspielerin ist auch bei ihrem eigenen Chansonmaterial mehr als überzeugend – und so ganz anders als in ihren Filmen. Während sie auf der Leinwand meist etwas Verschlossenes, Geheimnisvolles in sich trägt, ist dieses Debütalbum von einer ansteckenden Beschwingtheit.
Virgin (EMI), 2006

Louise Attaque: „Comme on a dit“
Das seltene Phänomen einer Chanson-Gruppe. Oder doch eine Rockband? Denken Sie einfach an „Element of crime“: wenn sie deren Alben mögen und als Chanson durchgehen ließen, dann erst recht auch die Jungs von Louise Attaque. Mit Akustikgitarre, Geige, Baß und Schlagzeug sehr nahe am Folk.
Atmospherique (Alive), 2007

Henri Salvador: „Chambre avec vue“
Der legendäre, seit den dreißiger Jahren an der Seite von Django Reinhardt oder Boris Vian gefeierte Jazzpianist, Chansonsänger und Schauspieler war in Vergessenheit geraten, bis Benjamin Biolay und Keren Ann dem 83–Jährigen mit diesem ausgesprochen relaxten Album ein sensationelles Comeback verschafften. Der Charme quillt hier mit jeder Note aus dem Lautsprecher.
Virgin (EMI Austria), 2001

Emilie Simon: „Végétal“
Ihren Durchbruch feierte sie mit dem englischsprachigen Soundtrack („All is white“, „The frozen world“) zu dem oscargekrönten Dokumentarfilm „Die Reise der Pinguine“, aber ihr überwiegend französisches Konzeptalbum „Végétal“ mit seinen Blumen des Bösen ist einfach sinnlicher. Als ob Alice statt ins Wunderland den botanischen Garten aufsuchte und sich dem Klatschmohn und Lotus hingäbe.
Barclay (Universal), 2008

Surftip: Le Hall de la chanson (französischsprachiges Dokumentationszentrum, aber mit vielen Bildern, Klangproben und Podcasts)
Dieser Text ist zuerst in „Sono Plus“ Dezember 2010 veröffentlicht worden