Auswärtsspiel. Drangvolle Enge in der Gästekurve. Den Blick aufs Spielfeld blockieren immer wieder die zahllosen hin und her geschwungenen Sechzger-Fahnen. Begeisterte, empörte oder auch nur betrunkene Fans rempeln dich an. Pyro vernebelt die Sinne. Im Fernsehen würde man mehr von der Partie sehen. Aber spüren, wirklich spüren kann man Fußball nur im Stadion.
Manne besaß deshalb noch nie ein Abo für Sky oder Magenta, die die Spiele im Fernsehen übertragen. Er ist selbst vor Ort. Nicht nur bei den Heimspielen im Grünwalder Stadion und den wichtigen Partien auswärts, sondern immer, wenn der TSV irgendwo antritt. Manne ist Allesfahrer. Schon sein Vater war Sechzger-Fan, damals als der Verein noch eine Größe war und international spielte. 1965 in Wembley. Europacup-Finale gegen West Ham United. Fünf Tage war der Vater mit Bus und Fähre nach London unterwegs. Für ein Spiel.
Damals hat die „Abendzeitung“ die Reise organisiert. Heutzutage sind solche Reisen für jeden allein machbar: DB-App, Google Maps – alles leicht zu managen, aber Manne kann sich noch an internationale Partien Ende der 90er-, Anfang der Nuller-Jahre erinnern, in Zeiten ohne Internet, bei denen er im UI-Cup oder in der Europa League zu gegnerischen ausländischen Clubs wie Kaučuk Opava oder FK Drnovice gefahren ist, ohne genau zu wissen, wo in Tschechien er hin muss, und sich von Prag aus durchfragte.
Inzwischen klingt Mannes Auswärtsbilanz heimeliger. Eben nach Dritter Liga, Vorbereitungsspielen, wichtigen Begegnungen der Jugendmannschaften oder dem nur bayernweiten Toto-Pokal: Sparkassen-Arena Neuburg, Sportzentrum Vaterstetten, Stadion im Brötzinger Tal. Seine Fähre brachte ihn nicht über den Ärmelkanal, sondern über die Förde zum Spiel gegen Holstein Kiel. Aber ein Match im oberbayerischen Pfarrdorf Pipinsried strahlt in den Erinnerungen eines Allesfahrers nicht weniger Glanz aus als jedwelche internationale Begegnung. In dreißig Jahren hat Manne nur fünf Pflichtspiele verpasst.
Und manchmal verschmelzen die glorreichen Zeiten der Vergangenheit mit der drittklassigen Gegenwart über die Generationen hinweg. Für Manne war es schon etwas besonderes 2021 beim Auswärtsspiel in der Roten Erde bei Dortmund zu sein: „In dem Stadion hat 1966 mein Papa die Löwen zum 2:0 Sieg geschrien und damit den Weg zur einzigen Meisterschaft geebnet. Ich und einer seiner Enkel waren dann als die nächsten beiden Generationen in demselben Stadion und haben die Löwen wieder zu einem 2:0 Sieg geschrien (der zweifelsohne nicht die gleiche sportliche Bedeutung hatte).“ Für Manne war das wahnsinnig emotional und auch sehr wichtig, mit dem Kind, das seinen Opa nie kennengelernt hat, am selben Ort zu sein.
Roman kennt die gute alte Zeit noch aus eigener Erfahrung. Als er den Fußball für sich entdeckte, stand der TSV 1860 München spielerisch noch nicht im Schatten des FC Bayern. Allesfahrer hießen Schlachtenbummler. Ein Fußballspiel dauerte auch damals gewöhnlich 90 Minuten. Aber in Romans Erinnerung leben die Partien über den Schlusspfiff fort. Sein erstes Auswärtsspiel? 4. Oktober 1970 in Ingolstadt. 0:1 verloren. Zu jedem Datum, Gegner oder Spielort scheint er die passenden Daten, wichtigsten Spielszenen aus dem Stegreif parat zu haben. Inzwischen hat er 1438 Auswärtsspiele besucht. In Deutschland, Europa und sogar in Südkorea. Peace-Cup 2003. Acht Mannschaften, darunter Beşiktaş, Olympique Lyon, Eindhoven – und eben der TSV 1860, der kurzfristig für den ausgefallenen Bayer 04 Leverkusen eingesprungen ist. Sieben Sechzger-Fans sind hingeflogen.
Eine Million Kilometer hat Roman als Allesfahrer insgesamt bereits zurückgelegt. Das sind viele Niederlagen. Und ihm genügt es nicht, nur dabei zu sein. Das Spiel bloß als Feier in der Fankurve genießen, egal wie es endet. „Für mich ist der Sport, der Fußball, das Ergebnis das Wichtigste. Lieber gewinnen und keine Party als umgekehrt.“
Die Zuversicht zu gewinnen, bleibt. Aber wenn man die Entwicklung des Vereins über die letzten Jahrzehnte verfolgt, kann es nicht nur das sein. Wer Siege braucht, ist in München eher Bayern-Fan. Wer sich traut, mit Niederlagen zu leben, ein Blauer. Und niemand sammelt neben all den Begegnungen, Erinnerungen, Höhepunkten auch so viele schmerzliche Momente wie die Allesfahrer*innen. Sie sind bei einem Drittligaverein wie dem TSV 1860 Leidensgenoss*innen. Vereint im Schmerz wie im Siegesjubel. Nur dass letzteres weit seltener ist.
Und diese Gemeinschaft wird auch schon seit Bundesligazeiten in der Vereinshymne beschworen. Der Sechzger-Marsch mit seinem „57, 58, 59, 60“ wird bei jedem Heimspiel gespielt. Und auswärts stimmen ihn die Fans an: „Mein Verein für alle Zeit wird 1860 sein! Ein Verein, der hat es gar nicht leicht, wenn er will, dass er sein Ziel erreicht. Aber wir, wir sind fein heraus: Die Kameradschaft, ja die Kameradschaft, die macht bei Sechzig alles aus.“
Bei Heimspielen ist ganz Giesing ein einziges Vereinslokal. Bei Auswärtsspielen werden es die Regionalzüge. Für Bundespolizei, Bereitschaftspolizei und DB-Sicherheit Großkampftage, an denen sie auch schon einmal normale Fahrgäste grundlos davor warnen, Zugteile zu betreten, die in der Hand der Sechzger-Fans sind, die ordentlich vorgeglüht haben. Die gute Laune äußert sich laut, bleibt aber zumeist friedlich. Bis dann auf dem Weg vom Bahnhof zum Stadion Bus oder Tram einem Belastungstest unterzogen wird, wenn auf und ab gehüpft oder mit den Händen gegen die Scheiben geklopft wird. Aber nicht jeder Ultra ist ein Allesfahrer und nicht jeder Allesfahrer ein Ultra. Es gibt Schnittmengen, Trennlinien und in der Regel können auch alle miteinander. Nur die Neonazis, die einem vor einigen Jahren mit ihren verbotenen Tattoo noch überproportional bei den Auswärtsspielen der Sechzger in der Gästekurve auffallen konnten, weil sie dort unter einigen hundert oder tausend prozentual stärker vertreten waren als im ausverkauften Grünwalder Stadion, sind von den anständigen Fans erfolgreich verdrängt worden.
Die Fanblase ist ein durchaus effizientes, sich selbst regulierendes Gebilde, das auch Busse zu den Auswärtsspielen organisiert, inklusive Essen und Trinken. Auf dem Parkplatz der Stadien bilden die Busse eine laut beschallte Fanmeile. Jeder Bus sein eigener Dancefloor, es gibt die neuesten T-Shirts, Schals und Fanmagazine zu kaufen, eine Sinfonie in blau, argwöhnisch beäugt von den Spezialkräften der Polizei.
Blau. So hat Manne sein Haus in Neuaubing gestrichen. Silvia trägt blauen Nagellack und Roman trägt auch an spielfreien Tagen Sechzger-Klamotten, wenn er durch Berg am Laim läuft. Das sind keine Wochenendrebellen. Allesfahrer*innen geben ihr Leben und erhalten dafür mehr als eine Kameradschaft, sie bilden eine Familie.
An jedem Spieltag steht Silvia aus Röhrmoos als Erste im Stadion, um ihre eigene Zaunfahne aufzuhängen und Platz für die Banner befreundeter Fans freizuhalten. Sie ist erst spät zur Allesfahrerin geworden. Ihr Vater, ein Schuster in Dachau, war zwar auch schon Löwenanhänger, aber nie bei einem Spiel gewesen. Sie selbst war vor fünf Jahren das erste Mal überhaupt bei einem Sechzger-Spiel und dann „hängengeblieben“. Als Dorfgewächs mag sie München nicht sonderlich, aber Giesing schon. „Wenn ich ins Grünwalder gehe, ist das ein schönes Gefühl. Das ist mein Stadion, einfach einzigartig.“ Und etwas davon begleitet sie auch zu jedem Auswärtsspiel, „wenn man immer dieselben Leute trifft. Das ist total nett. Jeder redet mit jedem.“
Hunderte, wenn nicht sogar Tausende begleiten den TSV 1860 bei jedem Auswärtsspiel. 1250 nach Saarbrücken, 1400 nach Köln, 2500 nach Pipinsried, über 3000 nach Ingolstadt, an die 10.000 nach Ulm. Manche folgen nur gelegentlich ihrem Verein, viele regelmäßig und einige immer. 102 Namen zählt die offizielle Allesfahrer-Liste des TSV 1860 München. Alles treue Fans, denen jeweils zwei Eintrittskarten für Auswärtsspiele vorab reserviert oder entsprechende Links zu den gastgebenden Vereine vermittelt werden. Silvias Kollege bei der Raiffeisenbank steht auf der Liste und so ist sie auch immer dabei im Stadion.
Fast immer. Denn ein Spiel, in Münster am 15. Oktober, haben Silvia, Oskar und viele andere Allesfahrer*innen ausfallen lassen müssen. Denn in der Woche fand die Jahreshauptversammlung des 1. Löwen-Fanclubs Mallorca statt, eine Art Meta-Community der Sechzger-Anhänger. Sonst findet dieser Betriebsausflug des Löwenrudels immer in einer spielfreien Woche statt, aber heuer hat die FIFA die Pläne durchkreuzt, der dritten Liga doch nicht spielfrei gegeben und die Allesfahrer*innen mussten sich plötzlich entscheiden: Kameradschaft oder Pflichtspiel beim SC Preußen Münster? Die Kameradschaft siegte.
Dabei verpaßt Oskar ungern eine Partie. Es ist für ihn nicht nur eine „Herzensangelegenheit“, jedes Mal im Stadion zu sein, er guckt sich das Match danach noch einmal daheim im Lohhof an, um jeden Spielzug, jeden Moment genau zu analysieren. Selbst die Historie der Unparteiischen checkt er online und hat parat, wenn ein Schiedsrichter nicht nur gegen Sechzig exzessiv zu den gelben oder roten Karten griff, sondern zuvor bereits bei einem Spiel in Niedersachsen neun Karten zückte.
„Ich lese alles, mich interessiert alles.“ Und damit endet es nicht für Oskar. Denn: „Viele schauen nur, aber ich bin einer, der mitreden will.“ Er produziert den Podcast
„Löwenfrühstück“, bezeichnet sich selbst mit über 4500 Sechzger-Bildern als Selfie-König und kandidierte schon – erfolglos – als Präsident und für den Verwaltungsrat. Wenn der Verein kurzfristig einen neuen Profispieler engagiert, klingelt das Telefon bei Oskar und er besorgt ihm binnen ein, zwei Tagen eine Wohnung im hart umkämpften Münchner Immobilienmarkt. Er ist der begnadete Netzwerker. Und dabei doch nur ein Spätberufener. Als gebürtiger Wiener war für ihn die Frage: Rapid oder Austria? Und weil sein Vater Austria-Fan war, entschied sich der Sohn für Rapid.
Später wanderte er nach Bayern aus und auf der Suche nach einer örtlichen Mannschaft folgte er seinem Landsmann Peter Pacult. Als der Wiener die Löwen trainierte, entdeckte auch Oskar den Verein für sich und wurde Mitglied. Beim TSV 1860 und zwölf Sechzger-Fanclubs. Bei einigen davon auf Lebenszeit.
Der Fußball beherrscht ihn. „Wenn Anpfiff ist, bin ich im Tunnel. Dann kann mich sogar meine Frau nicht ansprechen.“ Die er übrigens bei einem Auswärtsspiel, in der „blauen Wand“, der Gästefankurve im Nürnberger Stadion kennengelernt hat. Und auch nach dem Spiel ist er nicht zugänglich, steht vielleicht irgendwo unter den anderen Fans, muss aber erst innerlich das auf dem Platz Erlebte verarbeiten. Und doch steht für ihn an jedem Spieltag im Vordergrund, „viele aus der Löwenfamilie zu treffen“. Das sei momentan „einfach das beste, was mich am Fußball so wirklich interessiert und motiviert“. Besser als den Kick zu sehen, den Sechzig aktuell, wenn nicht seit Jahren, spielt.
Auch Peter empfindet die spielerische Qualität der Sechziger so sehr als Stillstand, dass es für ihn mindestens genauso wichtig ist, an Spieltagen die anderen Fans zu treffen und mit ihnen zu quatschen. Da er dazu aus dem Landkreis Passau anreisen muss, sind für ihn selbst die Partien im Grünwalder Stadion zumindest entfernungstechnisch nicht unbedingt Heimspiele. Noch lieber fährt er aber zu den richtigen Auswärtsspielen. „Ich war schon in jedem Stadion von Plattling bis Leeds.“ Auswärts sei „die Stimmung immer fantastisch“. Daran ändert selbst der Empfang durch die Anhänger der anderen Mannschaft nichts. „Ich habe nie gesehen, dass jemand Stress mit den gegnerischen Fans hatte.“
Dabei ist Peter schnell als Blauer auszumachen. Er trägt seit 1985 Fankutten, mit einem kleinen Löwen auf der Schulter und vielen Aufnähern. Die Aufnäher sind älter als die Weste, „weil man immer rauswächst“ und die Aufnäher übernommen werden, so lange Platz ist. „Irgendwann ist Schluß.“ Inzwischen trägt er schon die dritte Kutte.
Der Hang zu Sechzig ist bei ihm familiär angelegt. Die Oma, eine gebürtige Münchnerin, kannte die Löwen-Stars der 1960er-Jahre, Radi Radenković und Rudi Brunnenmeier, DFB-Pokalsieger 1964 und Deutscher Meister 1966, persönlich. Mit dem Opa war er 1977 das erste Mal im Stadion.
Ein Vereinskult ist auch immer ein Personenkult. Weniger, was die Funktionäre betrifft. Gerade beim traditionell zerstrittenen TSV 1860. „Ich hasse diesen Personenkult bei uns. Hasan raus? Sitzberger raus? Reisinger raus? Für mich zählt nur Sechzig!“, kritisiert Oskar die ständigen Anfeindungen gegenüber dem Investor Hasan Ismail, dem Vizepräsidenten Hans Sitzberger und dem Vereinspräsidenten Robert Reisinger.
Mit den Spielern ist es dagegen ganz anders. Manche prägen sogar den Stammbaum ihrer Fans. Als Mannes Ehefrau Marija („Ich hasse Fußball“) schwanger wurde, schwor er, falls es ein Bub wird, ihn nach dem Spieler zu benennen, der im nächsten Match ein Tor für Sechzig schoss. Und dank der Treffer von Bierofka und Winkler heißen die Kinder nun Daniel und Bernhard. Es gab damals auch Spieler mit ungewöhnlicheren Vornamen, da hat Manne „Blut und Wasser geschwitzt“, wenn Torgefahr herrschte.
Selbstverständlich hat Manne seine Frau zu Bernhards Geburt ins Pasinger Krankenhaus begleitet und war die ganze Nacht anwesend. Aber unmittelbar danach, Marija war von der Niederkunft noch benommen, fragte er: „Wie schaut’s aus, kann ich da hin? Wenn ich jetzt fahre, dann würde ich es noch nach Ulm schaffen.“ Von Marija kam aus dem Wochenbett kein Widerspruch und so ging es ab ins Donaustadion, zur Auswärtspartie Dienstagabend gegen Ulm. Die Löwen verloren 3:0, wie er sich 23 Jahre später noch gut erinnert. Es war eine Schlammwüste. Aber Manne war dabei und daher glücklich. Bernhards Geburtstag wird er so nie vergessen. Schließlich hat da Sechzig gespielt. Er geht ganz offensiv mit seiner Liebe zu den Löwen um: „Ich rauche nicht, ich saufe nicht, mein einziges Laster ist Sechzig.“ Und sowohl seine Ehefrau als auch sein Arbeitgeber hätten von vornherein gewusst, dass er „mit Sechzig einen Schuss habe“.
Bei Silvia in der Bank weiß auch jeder, dass sie eine Blaue ist. Man nimmt bei der Urlaubsplanung Rücksicht darauf, ob sie für eine Partie oder den Besuch des Trainingslagers frei haben will. Wenn sie ausnahmsweise mal etwas Rotes in der Arbeit trägt, äußern sich die Kolleg*innen verwundert.
Roman war zum 70. Geburtstag einer guten Bekannten eingeladen. Dann wurde für denselben Sonntag ein Auswärtsspiel in Münster terminiert. Also sagte er ihr ab. Vielleicht klappt es ja zum 80.
So viel Vereinsliebe ist nicht jedem geheuer. Manche vertuschen sie deshalb als wäre es eine Sucht, ein Wahn, wie etwa … nennen wir ihn mal Franz. Auch Allesfahrer. Auch jemand, der sein Leben nach dem Spielplan der Sechzger ausrichtet. Ohne Kompromisse. Einer dieser Fans, die selbst Beerdigungen verschieben und Einladungen zu Hochzeiten absagen, weil sie sonst nicht zum Auswärtsspiel reisen könnten. Und deswegen Ausreden erfinden, „weil das kein Mensch versteht“. Sie leben auch für Sechzig, nur im Stillen, Geheimen. Für alle Zeit.
Eine Version dieser Reportage ist Anfang Dezember 2023 in „Mucbook“ #21 erschienen. Schwerpunktthema der Ausgabe war Mut, Zuversicht.