Die Messingbeschläge schimmern vom jahrzehntelangen Polieren, die zarten Linien des verwitterten Leders zeichnen eine imaginäre Landkarte vergangener Reisen und dem Leinenbezug haben Regengüsse diesseits und jenseits des Äquators Patina verliehen.
Die mächtigen Schrankkoffer stammen aus einer Zeit, als Reisen noch ein großes Abenteuer war, verbunden mit wochenlangen Schiff- und Zugfahrten. Die Welt ist kleiner geworden seither, wie all die Amerikaner, Chinesen, Japaner, Russen und Deutschen im Pariser Global-Store von Louis Vuitton beweisen. Die dekorativen Gepäckstücke sind längst nicht mehr auf großer Fahrt, sondern schweben diskret über der aktuellen Kollektion der Boutique in der Avenue Montaigne.
Doch wo immer man dort hinschaut, entdeckt man Details der ehrwürdigen Koffer wieder: Pumps zitieren das zum Markenzeichen gewordene Schachbrettmuster des Gepäcks, an der Abendtasche „Theda“ glänzen die traditionellen Messingnieten und in der Schmuckkollektion baumeln Miniaturtaschen und das berühmte Monogramm.
Der Mythos lebt, auch wenn er nicht mehr mit den Gepäckbergen einer Marlene Dietrich, Audrey Hepburn oder eines Cary Grant assoziiert wird. Wer heute an
Louis Vuitton denkt, sieht Madonna, Gwyneth Paltrow oder Sophie Marceau auf ihrer Reise durchs Blitzlichtgewitter einer Filmpremiere. In der Hand das Must-have der Saison – und damit 150 Jahre* Meisterhandwerk.
1854 gründete der professionelle Kofferpacker Louis Vuitton in Paris seine eigene Firma und legte damit den Grundstein für das Luxusimperium. Wer damals verreisen wollte, musste noch einen speziell geschulten Verpackungskünstler bestellen, um die ausladenden Roben und den wertvollen Hausrat in eigens gezimmerten Kisten und schwere, bucklige Truhen verstauen zu lassen.
Um seiner noblen Klientel ihre an Umzüge erinnernden Reisen zu erleichtern, erfand Louis Vuitton das adäquate Gepäck: den flachen, stapelbaren Koffer, dessen Konstruktion aus Pappelholz und imprägniertem Segeltuch nicht nur platzsparend war, sondern auch trageleicht und regenfest.
Schon seit langem deckt das Traditionsunternehmen nicht mehr nur die Bedürfnisse von Weltenbummlern. Konsequent hat Vuitton die handwerklichen Fertigkeiten im Umgang mit Leder, Metall und Stoffen auf Handtaschen, Schuhe, Accessoires, Mode, Uhren und Schmuck ausgeweitet und dem Zeitgeist mit Sneakers, Yoga-Sets und Etuis für MP3-Player gehuldigt.
Einen entscheidenden Modernitätsschub brachte 1997 der Entschluss, den New Yorker Designer
Marc Jacobs als künstlerischen Direktor nach Paris zu holen. Jacobs verwandelte das legendäre Markenzeichen in ein neues Trendlabel. Ob bei seinen eigenen verspielten Entwürfen für die Prêt-à-porter-Kollektion oder in der Zusammenarbeit mit internationalen Künstlern wie
Takashi Murakami,
Stephen Sprouse und
Robert Wilson: In immer neuen Farben, Materialien und Schnitten interpretiert Jacobs den Mythos neu.
Und vergisst trotzdem seine Wurzeln nicht: Wer Muss-ich-haben-Stücke wie die türkisfarbene Express-Tasche sieht, erkennt sofort, dass sich auch Jacobs vom Canvas und den Beschlägen der alten Gepäckstücke inspirieren ließ.
Natürlich wird auch der klassische Vuitton-Schrankkoffer noch immer hergestellt. Von Hand unter der Aufsicht des Urenkels Patrick-Louis Vuitton in einem
Atelier, das seit dem vorletzten Jahrhundert in Betrieb ist. Kein Logo verrät den Stammsitz, der sich wie ein klösterliches Refugium zwischen moderne Villen und Mehrfamilienhäusern duckt. Am Eingang nur ein schlichtes Klingelschild: Louis Vuitton.
Wer dort läutet, ist ein besonderer Gast, denn in dem Pariser Vorort Asnières entstehen neben den Schrankkoffern und Prototypen neuer Modelle vor allem Sonderanfertigungen für V.I.P.s: eine Wickeltasche für Schauspielerin Sarah Jessica Parker, ein Gitarrenkoffer für Rockstar Willy DeVille, ein Reiseschreibtisch für Regisseur Luc Besson – insgesamt mehr als 200 Einzelstücke jährlich.
Nicht selten finden die Maßarbeiten ihren Weg in die feste Kollektion – so wie der Vanity Case, ein kleiner Reise-Schrein für Kosmetik und Schmuck, den Sharon Stone selbst vor Ort entworfen hat.
Das Reisen hat in anderthalb Jahrhunderten an Rasanz dazugewonnen, doch wer eines der 15 Ateliers von Vuitton betritt, erlebt die Entdeckung der Langsamkeit. Zwischen drei und zwölf Jahre trocknen die Pappel- und Buchenhölzer für die Koffer, bedächtig wird das Leder mit Pflanzenextrakten gegerbt. Wie zur Gründerzeit prägt Handarbeit die Herstellung, weshalb Wartelisten kein Marketing-Kniff sind, sondern ein Zugeständnis an die handwerkliche Sorgfalt.
Asnières ist die Seele des Unternehmens. In einem schmalen Gang nimmt dieser gute Geist Gestalt an: Ein Handwerker restauriert einen alten Schrankkoffer und scheint dabei die Welt um sich herum zu vergessen. Wenn in dem Lichtjahre entfernten Paris Marc Jacobs seine neuesten Kreationen präsentiert, denkt vielleicht niemand mehr an die zahllosen beteiligten Schreiner, Gerber, Kürschner, Koffermacher, Schneider und ihre Kunstfertigkeit. Doch sie sind Louis Vuitton. Und niemand weiß das besser als Jacobs, der aus dieser Tradition schöpft und sie in atemberaubende Mode verwandelt.
*Dieser Text erschien zuerst unter der Überschrift „150 Jahre Luxus“ in der „Cosmopolitan“ September 2004