Sonntag, 12. Dezember 2010

Agora (3): „Kein Glasperlenspiel“ von Prof. Dr. Martin Balle

„Zukunft der Zeitung. Zeitung der Zukunft.“ Kein halbes Jahr nachdem die Akademie für Politische Bildung Tutzing bereits über „Medienumbrüche“ diskutiert hatte, brach man dieses Wochenende das Thema auf die Printpresse herunter und präsentierte mit Martin Balle, dem Verleger des „Straubinger Tagblatt“, einen Referenten, der quasi den Gegenentwurf zu Jochen Wegners sommerlichen 23 Thesen zur Zukunft der Medien vortrug. Gleich einem Don Alphonso der Old Media weckte Balles belesene, polemische, dem Bildungsbürgertum huldigende Replik bei mir erst einmal Widerspruch und Empörung, aber je länger ich ihm zuhörte, desto bedenkenswerter fand ich seinen Vortrag. Nicht, daß ich ihm zustimmen würde, aber Balle, der auch dem Vorstand des Bayerischen Verlegerverbands angehört, beleuchtete durchaus kritische Fragen der Produktion und Rezeption digitaler Inhalte. Einige Statements, etwa daß man sich online nicht mit Gedichten beschäftige oder die heile Welt des gedruckten Worts ein Gegengift zu den Bites und Byts sei, hatte ich live getwittert (Christian Jakubetz zitiert daraus in einem Blogeintrag). Leider gibt es nicht ein Manuskript des Gesamtvortrags, sondern mehrere Texte, aus denen er am Redepult eine Art Potpourri improvisierte. Die Passagen zum Thema Angst möchte er nicht online sehen, da er diese Ausführungen noch ein paar Mal vortragen will, dafür überließ er mir aber seine Festansprache anläßlich des 150-jährigen Jubiläums des „Straubinger Tagblatt“ zur Veröffentlichung. Hier die meines Erachtens in Tutzing benutzten Passagen. Der Gesamttext ist im Verlag Attenkofer erschienen.
Updates: Im Juni 2014 gehört Balle zu den Bietern für die insolvente Münchner „Abendzeitung“.
Am 17. Juni gibt der Insolvenzverwalter bekannt, daß Balle zusammen mit dem Münchner Anwalt und Unternehmer Dietrich von Boetticher die „Abendzeitung“ samt ihres Onlineauftritts übernimmt.


In seinem zauberhaften Roman „Das Glasperlenspiel“ beschreibt der Schriftsteller Hermann Hesse in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine Welt, in der nicht nur alle Kunst und alle Wissenschaft abgelöst ist durch die jetzt einzige Kunst des Glasperlenspiels, sondern vor allem auch die Welt der Zeitungen, wie es der namenlose Erzähler, den Hermann Hesse sprechen lässt, uns im Rückblick auf das 20. Jahrhundert als auf die Welt des Feuilletons berichtet.
Denn in der Welt der Zeitungen, so schreibt es dieser Erzähler bei Hesse, „habe“, so wörtlich, „der Geist eine unerhörte und ihm selbst nicht mehr erträgliche Freiheit 'genossen', indem er die kirchliche Bevormundung vollkommen, die staatliche teilweise überwunden, ein echtes, von ihm selbst formuliertes und respektiertes Gesetz, eine echte neue Autorität und Legitimität aber noch immer nicht gefunden hatte.“ Ich darf jetzt ganz kurz etwas ausführlicher zitieren aus diesem wunderbaren Roman: „Wir müssen nämlich bekennen“, so schreibt er weiter, „dass wir außerstande sind, eine eindeutige Definition jener Erzeugnisse zu geben, nach welchen wir jene Zeit benennen, den 'Feuilletons', nämlich. Wie es scheint, wurden sie als ein besonders beliebter Teil im Stoff der Tagespresse zu Millionen erzeugt, bildeten die Hauptnahrung der bildungsbedürftigen Bürger, berichteten oder vielmehr 'plauderten' über tausenderlei Gegenstände des Wissens. Die Hersteller dieser Tändeleien gehörten teils den Redaktionen der Zeitungen an, teils waren sie 'freie" Schriftsteller, wurden oft sogar Dichter genannt, aber es scheinen auch sehr viele von ihnen dem Gelehrtenstande angehört zu haben, ja, Hochschullehrer von Ruf gewesen zu sein. Beliebte Inhalte solcher Aufsätze waren Anekdoten aus dem Leben berühmter Männer und Frauen oder deren Briefwechsel... Lesen wir die Titel solcher Plaudereien, so gilt unsere Befremdung weniger dem Umstand, dass es Menschen gab, welche sie als tägliche Lektüre verschlangen, als vielmehr der Tatsache, dass Autoren von Ruf und Rang und guter Vorbildung diesen Riesenverbrauch an nichtigen Interessantheiten 'bedienen' halfen. Zeitweise besonders beliebt waren die Befragungen bekannter Persönlichkeiten über Tagesfragen ... zum Beispiel namhafte Chemiker oder Klaviervirtuosen über Politik, beliebte Schauspieler, Tänzer, Turner, Flieger oder auch Dichter über Nutzen und Nachteile des Junggesellentums, über die mutmaßlichen Ursachen von Finanzkrisen und so weiter ...“
Das erinnert an Anne Will und Maybrit Illner, aber natürlich auch an so manche Feuilleton-Beiträge, die man sich vielleicht hätte schenken können. Ein letzter Satz aus Hesse: „Wechselte ein berühmtes Gemälde den Besitzer, wurde eine wertvolle Handschrift versteigert, brannte ein altes Schloss ab, fand sich der Träger eines altadeligen Namens in einen Skandal verwickelt, so erfuhren die Leser in vielen tausend Feuilletons nicht nur etwa diese Tatsachen, sondern bekamen schon am selben oder doch am nächsten Tage auch noch eine Menge von anekdotischem, historischem, psychologischem, erotischem und anderem Material ... Über jedes Tagesereignis ergoss sich eine Flut von eifrigem Geschreibe.“ Soweit Hermann Hesse. Und man kann zusammenfassen, weil die ganze Kultur einschließlich der Zeitungen als Firlefanz, als verzichtbar erscheint, wird jetzt bei Hesse in der einzigen Kunst des Glasperlenspiels, eines hochartifiziellen Spiels, das wie eine mathematische Ordnung alle traditionelle Kultur ersetzt, alle Kunst, alle Medienform und auch alle Wissenschaft eingebunden. Was ist das Glasperlenspiel bei Hesse also? Ich zitiere ihn wörtlich: „Ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur.“
In einem gleichsam neuplatonischen Reich aller Möglichkeiten des Schönen, also der Musik, der bildenden Kunst, der darstellenden Kunst, der Literatur, die alle übersetzt sind in die Welt des Glasperlenspiels, spielen die Menschen jetzt in einer neuen synthetischen Kultur miteinander und lassen die traditionelle Welt, wie sie sich über die Jahrhunderte entwickelte, einfach hinter sich. Wer heute diesen Roman liest, der kann kaum anders, als in diesem Glasperlenspiel, in dem immer alles gleichzeitig in eine einzige mathematische Sprache übersetzt ist, die heute wahr gewordene Welt des Internets sehen. Denn im Internet ist alle überlieferte Welt als herunterladbare Datei immer gleichzeitig und gleichförmig da. Es gibt keine Art mehr der Information, keine Art der Kommunikation, keine Kunstform, die nicht im Internet sich finden oder sogar kreieren lässt, um auf jede erdenklich Weise die User der Internetwelt zu bedienen. Alles ist vorhanden, jede Wissenschaft ist heute auf das Internet angewiesen. Künstler präsentieren sich und ihre Kunst im Medium des Internets, Musiker produzieren keine Schallplatten mehr, noch nicht einmal mehr CDs, die qualitativ bereits schlechter sind, sondern sie stellen ihre neuen Lieder einfach ins Netz und machen sie so für alle zu jeder Zeit verfügbar. Das Absetzen der Welt der Zeitung zugunsten des Glasperlenspiels Internet gipfelte vor wenigen Wochen für mich in dem Satz des Chefs der Internetredaktion des Focus, der wörtlich sagte: „In zehn Jahren wird es keine Printprodukte mehr geben, wozu auch, das macht doch in der Welt desInternets keinen Sinn mehr.“ Entscheidende Frage für uns, für unsere Zukunft: Stimmt das? Hermann Hesse gibt in seinem Roman eine ganz andere Antwort. Denn die Hauptfigur in diesem Entwicklungsroman, der auch noch Josef Knecht heißt, weil er sich völlig versklavt fühlt von dieser künstlichen, synthetischen Welt, der wird in der künstlichen Welt des Glasperlenspiels nicht glücklich und wendet sich am Ende von ihr ab, in der scheinbar völligen Freiheit des Glasperlenspiels entdeckt er mit zunehmender Dauer des Romans eine Weltfremdheit, eine Unnatürlichkeit, von der er sich lossagt. Die erste Ahnung aber, dass ein solches Glasperlenspiel, wie heute das Internet, der eigentlichen Natur des Menschen zuwiderläuft, überfällt Knecht im Gespräch mit einem zauberhaften Benediktinermönch. Denn dieser Mönch Pater Jakobus, der gibt dem Josef Knecht die entscheidende Eingebung, wenn er sagt, und das gilt ja für alle Internetuser auch: „Ihr Glasperlenspieler“, sagte der Mönch, „habt euch eine Weltgeschichte zurechtdestilliert. Ihr behandelt die Welt wie ein Mathematiker die Mathematik, wo es nur noch Gesetze und Formeln gibt, aber keine Wirklichkeit, kein Gut und Böse, keine Zeit, kein Gestern, kein Morgen, nur eine ewig flache, mathematische Gegenwart.“ Und wenn man an die ganzen User, die nächtelang vor den Schirmen sitzen, denkt, in ihrer flachen Bildschirmgegenwart, so scheint Hermann Hesse hier fast schon eine prophetische Aussicht gegeben zu haben. Es ist eben keine Wirklichkeit, sondern eine flache Gegenwart, was die Bildschirmwelt des Internets zu bieten hat. Eine Welt, die alle Lebensrhythmen, alle Tages- und Jahreszeiten in sich einzuschmelzen droht und die damit den Bedürfnissen von uns Menschen zuwiderläuft.
Vor Kurzem habe ich mit meinem Freund, dem Abt Marianus aus Niederaltaich, einen schönen Abend verbringen dürfen. Und der Vortrag, den Marianus damals gehalten hat, der war einer, der gesagt hat, unsere Zeit hat ein Tempo entwickelt, das keine Rhythmen, kein Atmen, kein Einatmen, kein Ausatmen mehr möglich macht und er hat es auch unter anderem mit dem Internet zusammengebracht und einen schönen Begriff geprägt, indem er gesagt hat: „Wir Menschen brauchen eigentlich eine gespannte Seele.“ Und der Begriff der gespannten Seele bedeutet, dass eine Seele ruhen darf, dass sie aufwachen darf, dass sie in der Früh die Morgenzeitung lesen darf und abends vielleicht sich bei einem guten Gespräch findet. Aber dass Menschen, die nur noch in den Bildschirm schauen, diese gespannte Seele eben verlieren, das wäre auch psychotherapeutisch ein Befund, den man als Therapeut stellen könnte.
Der Begriff der gespannten Seele trägt: Morgenlektüre oder auch ein Morgengebet, abends ein Glas Wein mit den Freunden oder ein gutes Buch; darum geht es und nicht um zeitloses Dauersurfen im Internet. Die Auflösung aller guter und gewohnter Lebensrhythmen in der digitalen Welt läuft doch unserem menschlichen Maß zuwider. Wir brauchen eher die berühmte Periodizität von Informationen, das heißt, die Zeitung erscheint eben sechs Mal die Woche, immer morgens um fünf Uhr liegt sie im Briefkasten und nicht um zehn Uhr schon wieder. Wir brauchen also eine Welt, in der wir vielleicht gar nicht beständig regelrecht überfallen werden von neuen Informationen, die am Ende sich für uns als gar nicht wichtig erweisen können. Von der Zeitung aber bis zu den Abendnachrichten, im BR oder im ZDF, müssen wir ja unserem Tag und unserem Leben einen Rhythmus, einen Atem geben, der uns dann dieses Leben, unser einziges Leben, wirklich spüren lässt. Die Allgegenwart von Kommunikation im Internet aber dient doch nicht so sehr einer echten Lebenserfahrung oder einem echten Gespräch von uns miteinander und untereinander und auch nicht der Selbstgewahrwerdung im Akt des Lesens, sondern sie bedient doch allzu häufig nur Muster der Selbstentfremdung, ja der Dauerablenkung von uns selbst. Mit einem wunderbaren Bild sprach deshalb vor wenigen Wochen der Feuilleton-Chef des nicht abgeschafften Feuilletons der FAZ, Frank Schirrmacher, vom Lesen der Zeitungen und Bücher als einer zunehmend „wichtigen Insel von therapeutischem Wert in einer zunehmend digitalisierten Welt“.
Zusammenfassend: Zeitungen, unsere Printkultur also, haben anthropologisch, also was das eigentliche Wesen des Menschen angeht, eine Bedeutung, die wir vielleicht nur deshalb nicht genügend schätzen, weil wir kulturell schon zu viel von dieser Bedeutung preisgegegeben haben.
Ein zweiter und letzter Punkt. Ich möchte einleiten mit einem kleinen, sehr liebenswürdigen Zitat aus einem frühen schönen Drama von Hugo von Hofmannsthal mit dem Titel „Gestern“. Und da sagt in diesem Drama der jugendliche Liebhaber Andrea: „Musst du mit Gestern stets das Heute stören, muss ich die Fessel immer klirren hören, die ewig dir am Fuß beengend hängt, wenn ich für mich sie tausendmal gesprengt. Das Gestern lügt, und nur das Heut' ist wahr, lass dich von jedem Augenblicke treiben, das ist der Weg, dir selber treu zu bleiben.“ Man soll es mit solchen Lebensführungen nicht unbedingt übertreiben, aber im Prinzip ist es ein Thema, das die Philosophie im Rahmen ihrer Bewusstseinsphilosophie sich genauso stellt. Die Philosophie stellt nämlich die Frage in Anbetracht der Länge unseres Lebens, wo sich alles erneuert, unsere Lebensverhältnisse, unser Körper, unsere Zellen alle sieben Jahre, die Frage, ob bei einem Menschen, bei dem wie bei einem Fahrrad erst die Kette gewechselt wird, dann das Blech, dann die Reifen, ob dieses Fahrrad am Ende noch dasselbe ist wie am Anfang. Ein Niederbayer würde sofort sagen, „so a Fahrrad gibt's gar net, des hau ma vorher weg, des Fahrrad is kaputt.“ Da zeigt sich, dass bestimmte Fragestellungen in der Philosophie kontraintuitiv sind, aber es gibt in der Philosophie auf diese Fragestellung trotzdem eine wunderbare Antwort. Die Philosophie sagt nämlich, in der Erinnerung seiner Selbst ist der Mensch in jedem Wandel, den er durchläuft, trotzdem in sich selbst in seiner Memoria für sich identisch. Er mag Tausend Personen, Tausend Rollen nach außen darstellen, weil er seiner Selbst ein Leben lang bewusst ist, kann er sich in seiner Erinnerung seiner Selbst versichern und bei allem Wandel seiner Selbst geht seine Identität auf diese Weise nicht verloren.
Wir brauchen also die Erinnerung. Wir brauchen aber diese Erinnerung, und das wissen wir auch aus der Psychologie, wir brauchen diese Erinnerung nicht nur individuell. Wir sind auch aufgerufen, uns gemeinsam zu erinnern, ein gemeinsames Bewusstsein unseres Heimatraumes, in dem wir leben, aufzubauen und zu bewahren. Ich gebe ein Beispiel: Ich war nicht wirklich in Südtirol, wo ich immer Urlaub mache, wenn ich nicht dort teilgenommen habe an der Selbstwahrnehmung der Südtiroler in ihrer zauberhaften Heimatzeitung „Dolomiten“. Wenn ich nicht einen Blick dort auf die Todesanzeigen, die zuletzt verunglückten Kletterer in den Südtiroler Bergen geworfen habe, das letzte Eishockeyergebnis der „Rittner Buam“ gesehen habe oder auch nur die Veranstaltungshinweise für die nächste Woche gelesen habe. Auch wenn ich nirgends hingehe, ein Heimatraum, in dem nicht unser aller Lebensweg von einer Heimatzeitung mitverfolgt und begleitet wird, der verliert buchstäblich an Raumqualität. Eine Heimatzeitung hilft den Raum zu spannen, den Heimat bildet. Sie bildet ihn eben nicht nur beschreibend und passiv ab.
Vom täglichen Stadtgeschehen bis zu den Heirats- und Todesanzeigen entstehen Räume, die als Heimat erlebt und erfahren werden. Heimatbewusstsein hat mit Heimatzeitungen zuinnerst zu tun. Und eine solche Chronistenpflicht, wo wir uns unserer selbst täglich gewahr werden, leistet die digitale Welt in keiner Weise. Wert und Würde des gedruckten Wortes sind eben nicht nur eine Floskel, sondern sie sind für ein funktionierendes Heimatgeschehen aus meiner Sicht unverzichtbar und unersetzbar. Digitale Todesanzeigen mögen ein interessantes Geschäftsmodell sein, der Nachricht in der Zeitung aber, dem erinnernden Nachruf, sind sie in keiner Weise ebenbürtig, denn sie fangen den Wert des gelebten Lebens nicht ein.

(Foto: Sebastian Haas/Akademie für Politische Bildung Tutzing)

Sonntag, 5. Dezember 2010

Wochenplan

Pressevorführungen „Burlesque“, „Die Chroniken von Narnia: Die Reise auf der Morgenröte“, „Biutiful“, „Black Swan“ und „The Tourist“, LeWeb 10 Paris / Les Docks, Taylor Momsen mit The Pretty Reckless / La Maroquinerie, Tutzinger Medien-Dialog zur „Zukunft der Zeitung – Zeitung der Zukunft“ mit Martin Balle, Birgit van Eimeren, Richard Gutjahr, Robert Haberer, Hans Werner Kilz, Christoph Neuberger, Horst Röper, Stephan Russ-Mohl, Wolfgang Stöckel, Kai Voigtländer u.a. / Akademie für politische Bildung, Zwirbeldirn: Bratschendatschi, Geigenstrudel, Dreigesang / Café Luitpold, Lesung „Stille Nächte im Weihnachtswald“ mit Nadaville / Young Gasteig

(Foto: Karen Curley/Chicks With Guns Magazine/flickr)

Samstag, 4. Dezember 2010

Berliner Jahre (5):
Kohl, Vogts, Kruse, Popa (1998)

Als der Berliner „Tagesspiegel“ sich 1995 mit „Ticket“ im Stadtzeitungsmarkt versuchte, war ich als freier Autor und – unter dem Pseudonym Dolce Rita – Klatschkolumnist mit von der Partie. Dann mutierte das ambitionierte, von Moritz Müller-Wirth konzipierte Kulturmagazin zum dünnen Supplement, aber es machte doch noch Spaß, nicht nur mitzumischen, sondern das Blatt sogar zwei Jahre als Redaktionsleiter mitzuprägen und die West-Berliner Abonnenten, etwa mit unserer Attacke auf „Tagesspiegel“-Herausgeber Hellmuth Karasek, zu verunsichern. Silvester 1998 hatte ich dann genug. Hier der in Heft 53/98 erschienene Abschiedsgruß meines Redaktionskollegen Christian Beck:

Popa?
Popa!
Vorname??
Dorin.
???
Wie Doris.
????
Nur mit n.
Noris?????
Alles hat ein Ende, nur dies' Ticket-Jahr hat zwei. Beziehungsweise drei. Oder vier: den 31. Dezember; den Abschied des Art Directors und Objektleiters Volkart Kruse; die Demission dessen Redaktionsleiters Dorin Popa; und beider letztes Heft, das Sie, geneigte Leserschaft, gerade offenbar in Händen halten. Der Rest ist Anfang. Doch dazu nächstes Mal. Denn vor den Ritt in die Zukunft unter neuem Kommando hat der alte Commandante die Rückschau gesetzt. Auf drei bis vier Jahre Ticket, von denen einiges bleiben wird, auch wenn nun beide Alt-61er mit Überschreitung der 37er-Grenze ins wirkliche Leben entlassen werden.
Erinnern wir uns an „Dolce Vita“ mit der unvergeßlichen Dolce Rita, das „Stehrumchen“, die „Amuse-gueule“: Noris, wie er leibte und lebte. Ein griffiges „Möpse Mörder Mutationen“ über Pamela Andersons besten Stücke zum Thema „10 Jahre Fantasy Filmfest“: Noris, wie er liebte und ins Wesentliche lappte. Den Hinweis „Falls man beim Dolly-Buster-Video nicht aufgepaßt hat, kann man bei der Rückgabe auch gleich die Hose für 2,99 wieder reinigen lassen“ über die L&M Voll-Reinigungs/Videowelle im legendären Videothekentest: Noris, wie er laberte und läpperte.
Schade nur, daß eine höhere weibliche Instanz (Apropos: Danke, Anke!) ihrem Nachfolger seine Weihnachtswitze 96 nicht durchgehen ließ: „Süßer die Glocken nie klingen“ und „Hängepartie unterm Weihnachtsbaum“ hätten – mit der entsprechendem Optik – Kollegen Kruse, Art Director von Ticket-Beginn an und seinerzeit längst auch schon so eine Art Direktor, sicher mindestens ebenso gut gefallen wie ihrem Schöpfer. So mußte El Chefe bis Weihnachten 98 warten, bis er der anderen großen Führungspersönlichkeit der westlichen Welt ihrer beiden Lebensmotto returnieren konnte: Freßetage im KaDeWe? „Schmeckt gut!“
Mindestens so gut wie die Weihnachtssuppe eines alten Kruse-Spezis aus seligen taz-Tagen: Wiglaf Droste. Oder desselben Meinung zum Thema „Das Magazin“, die bekanntlich nicht jedem im Hause und dem Hause verbundenen Partnerhäusern so gut mundete. Aber so ist es eben, wenn die Gedanken frei sind, ein Journalist eine eigene Meinung haben darf, und Synergieeffekte und Vetternwirtschafterei der Wahrheit von souveränen Blattmachern zumindest gelegentlich noch mal ein Stück weit aus dem Weg gehalten werden.
Bahn frei, Kartoffelbrei! Und nach Kruse und Popa die Sintflut konkurrierender Medien, die sich an Tickets Wirken und Werken mitunter enger orientieren, als man gern glauben möchte. Jetzt dürfen andere von beider Fähigkeiten profitieren – von ihrer Gelassenheit, ihrem Spielwitz, ihrer Kreativität: uns doch wurscht!
Nehmt euren Prosecco, für den ihr – je nach Fasson – weit über die Grenzen der Redaktion hinaus berühmt und/oder berüchtigt seid, und verpißt euch! Wie „Hut ab“! Nur mit a: Haut ab! Bis nächstes Mal...

Freitag, 3. Dezember 2010

Die Unbestechlichen von der Frankfurter Allgemeinen

Wenn eine Redaktion nicht käuflich ist, dann die Kollegen von der Frankfurter Allgemeinen. Selbst eine als Weihnachtsgeschenk übersandte Saftpresse im Wert weniger Euro landet postwendend wieder beim Absender, mit dem eindringlichen Hinweis, von weiteren Geschenken an die Redaktion Abstand zu nehmen.
Und ich kann mich noch gut an eine Reisereportage des „F.A.Z.-Magazins“ erinnern, die ihren Autor mit der Queen Elizabeth 2 nach New York schickte. Das mehrere tausend Mark teure Ticket für die Transatlantikpassage hatte die Redaktion selbstverständlich selbst bezahlt und nicht als Pressereise abgewickelt. Zum Beweis wurde der Beleg im Editorial dokumentiert.
Um so koketter erschien mir eine Titelstory der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die ihren Lesern letztes Wochenende gestand, von einem Anonymus wg. Hannover 10.000 Euro in bar zugesteckt bekommen zu haben: Empfänger war ihr Korrespondent „Robert von Lucius, adressiert allerdings an die Frankfurter Redaktion. Das Kuvert, normale Größe, fand sich im Postkoffer, mit dem Material zwischen der Frankfurter und der Berliner Redaktion ausgetauscht wird. Es war nicht frankiert und vollkommen durchsichtig, transparenter noch als Butterbrotpapier, so dass man schon von außen den gedruckten Text auf dem gleichfalls durchsichtigen Zettel lesen konnte, der in dem Kuvert lag: 'Danke, dass wir Frankfurter das gegen die Hannoveraner geschafft haben. Auf weitere gute Zusammenarbeit'.
Vielleicht noch interessanter als der Zettel war das Geld in dem Umschlag, ebenfalls von außen gut zu sehen: pinkfarbene 500-Euro-Scheine, gleich zwanzig Stück. Also 10.000 Euro in bar. Über den Hintergrund kann man nur spekulieren. Über eines nicht: Dem anonymen Absender fällt es nicht schwer, 10.000 Euro für obskure Zwecke auszugeben.“

Viel mehr stand am Sonntag dazu nicht in der Zeitung, und wer die Empfindlichkeit der Kollegen in Sachen Landschaftspflege kennt, konnte sich nur wundern. Denn der normale Leser könnte doch naiverweise glauben, man hätte das Geld behalten.
Und während ich noch rätselte, ob man eine anonyme Spende wie eine Erbschaft ausschlagen könne, antwortete Robert von Lucius postwendend auf meine neugierige Mailanfrage: „Den Umschlag (und das Geld) habe ich selber erstmals am Sonntag in der Abbildung gesehen. Als mich Mitte August eine Verlagsmitarbeiterin aus Frankfurt anrief und vom Brief berichtete mit der Frage, ob sie das mir zusenden solle, ließ ich ihn mir beschreiben und bat sie dann, das sofort dem Justiziar weiterzuleiten. Anfangs erwogen wir eine Strafanzeige gegen Unbekannt, da wäre aber der Straftatbestand schwierig zu finden gewesen. So entschloss sich mW der Verlag dazu, den Brief vorerst zu tresorieren. Mittlerweile hörte ich, dass der Umschlag mit den 20 Geldscheinen à Euro 500 in einer Frankfurter Anwaltskanzlei verwahrt wird. Da die Zeitung nicht damit rechnet, dass sich der Eigentümer der Geldscheine melden wird, wird sie das Geld im kommenden Jahr der gemeinnützigen Stiftung F.A.Z.-Leser helfen zur Verfügung stellen.“
Bei der „taz“ hätte der unbekannte Gönner weniger Probleme gehabt. Er hätte einen entsprechenden Artikel nur ebenso generös flattrn müssen.

Update: Telefonisch hat mich Robert von Lucius inzwischen informiert, daß das Geld einer gemeinnützigen Stiftung zur Verfügung gestellt werden soll, aber noch offen sei, welcher.

Donnerstag, 2. Dezember 2010

Sind alle Blondschöpfe für die Abendzeitung gleich?

„Wer sind diese Frauen eigentlich?“, fragt die Münchner „Abendzeitung“ stellvertretend für ihre Leser bei der „Top Ten der weiblichen Dauer-Gäste“ und verspricht: „Die AZ stellt die Party-Dauergäste vor“.
Zu dumm, daß der namentlich nicht gezeichnete Beitrag (der Graeter Michael wie auch Dumpfbacke sind sich für solche Klickstrecken sicherlich zu schade, aber etwas Kompetenz hätte selbst dort nicht geschadet), zu dumm jedenfalls, daß der Anonymus dann auch mal daneben haut und die Natascha-Grün-Seiten mit Bildern der Schauspielerin Noémi Matsutani illustriert. Blond gleich blond? In der Druckfassung am nächsten Morgen wie auch inzwischen auf der Homepage sind die Bilder dann korrigiert worden – vielleicht auch aufgrund meines Tweets?

Samstag, 27. November 2010

Wochenplan

Pressevorführung „Another year“; Political Lounge: Zwei Jahre Barack Obama – eine Zwischenbilanz mit US-Generalkonsul Conrad Tribble und SFFC-Chef Sebastian Seiguer / San Francisco Coffee Company; Vernissagen: Isca Greenfield-Sanders / Galerie Klüser 2, Subjektiv. Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert / Pinakothek der Moderne, save me – face me – welcome me / Gartenhaus der Akademie der Bildenden Künste, Goldenes Zeitalter – Gruppenporträts des 17. Jahrhunderts aus Amsterdam / Alte Pinakothek; Gogol Bordello / Tonhalle; BGH-Urteilsverkündung: SZ & F.A.Z. ./. Perlentaucher; Black in dark – Fotografien von Hubertus Hamm, präsentiert durch Christoph Amend (Redaktionsleiter „ZEITmagazin“) / Pinakothek der Moderne; Vorbesichtigung und Versteigerung von Objekten aus dem Besitz von Katharina und Josef von Ferenczy / Neumeister

(Abbildung: Adriaen Backer: Die Anatomie des Dr. Frederik Ruysch, 1670, Öl auf Leinwand, 168 x 2 44 cm, © Amsterdams Historisch Museum)

Freitag, 26. November 2010

To pixel or not to pixel (5): Bernd Eichinger

Die Älteren unter uns mögen sich noch gut erinnern, daß die Constantin Film, bevor sie unter Eichingers Regie zur Neuen Constantin und dann wiederum ganz einfach zur Constantin mutierte, in der Albert-Roßhaupter-Straße residierte. Dort in Sendling, wo heute rund um den Harras die Gentrifizierung ansteht und wieder einmal ein weiteres neues Zentrum der Subkultur und Kreativen entstehen soll, oder auf gut deutsch: die Mieten steigen und die alteingesessenen Mieter aus ihren Wohnungen und Werkstätten vertrieben werden.
Die Constantin ist nun schon lange in Schwabing, da, wo sich auch Bernd Eichinger gern aufhält, und auch wenn er nur ein paar Steinwürfe von den Firmenzentrale wohnt, habe ich ihn jahrzehntelang – anders als ein Kollege von der „Süddeutschen Zeitung“ – nie zu Fuß gehen sehen, sondern kenne den „I bin's“ (so meldet er sich am Telefon) nur im Fonds seiner chauffeurgelenkten Limousine.

To pixel or not to pixel (4): Angela Merkel

Young Gasteig: Dance around Munich


 
Benedict Mirows Tanzvideo „Dance around Munich“, mit den beiden „25 werden 25“-Finalistinnen Marie Preußler und Amanda Billberg sowie Eva Svaneblom, Mariella Aranda und Johannes Härtl, läutet heute abend bei der Eröffnung des Gasteig Open Video Festivals gleichzeitig auch die Young-Gasteig-Saison ein.

Montag, 22. November 2010

To pixel or not to pixel (3): Patricia Riekel

Wikipedia verortet sie im Herzogpark, in der „Süddeutschen Zeitung“ erzählte sie von ihren Nachbarn am Starnberger See, aber ich halte mich an eine Anschrift, die sie für juristische Zwecke nutzt...

Update: Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 15. Mai 2011  ortet sie inzwischen auch im Herzogpark, in der Flemingstraße. Dann sollte sie vielleicht einmal das Impressum ihrer Webseite aktualisieren...

Sonntag, 21. November 2010

Samstag, 20. November 2010

Wochenplan

Plan B / Freiheizhalle, Picasso Künstlerbücher / Museum Brandhorst, Präsentation der Frühjahr-/ Sommerkollektion 2011 / Louis Vuitton, Pressevorführungen „127 Hours“ und „Otto's Eleven“, Isobel Campbell & Mark Lanegan / Friedenskirche Dachau, „TV total“ Turmspringen / Olympia-Schwimmhalle, on3 Festival / BR-Funkhaus, „Into the dark“ – Lesung Dennis Cooper / Amerikahaus, M.I.A. / Muffathalle

(Foto: Brainpool TV Gmbh)

Freitag, 19. November 2010

To pixel or not to pixel (1): Mario Adorf

„Burda hat sein Haus in der Arabellastraße nicht verpixeln lassen“, twittert „Clap“-Ernie (oder Bert?) Daniel Häuser. Aber was ist mit dessen Junggesellenbude in der Schackstraße oder dem Anwesen im Herzogpark? Wie halten es Patricia Riekel, Philipp Welte & Co? Ich starte heute mit Brockhaus-Promi Mario Adorf, werde aber natürlich Burdessen und andere Mediengrößen nachreichen.

Dienstag, 16. November 2010

Ganz ohne Entourage –
„Somewhere“ von Sofia Coppola

Mein Haus, mein Auto, mein Boot? Nun ja, zu einem Boot hat es Johnny Marco (Stephen Dorff) vielleicht nicht gebracht, und meist schlurft er unrasiert, mit kunstvoll verwuscheltem Haar in Jeans und T-Shirt herum, forever young. Wir Münchner kennen diese betont jugendlichen, aber eben doch schon fickunddreißigjährigen Kreativen aus dem Glockenbachviertel oder der Maxvorstadt, halb gelangweilt, voll cool und niemals einem Flirt abgeneigt. Kein Mensch weiß, worin nun genau ihre Arbeit besteht, und ob das Café ihr Büro ist oder ob sie dort nur Halt machen, um gut auszusehen, was ja auf der Arbeit nur wenige mitbekämen.
Bei Marco läuft das alles einige Nummern größer ab: statt einem Loft bewohnt er als Dauergast Hollywoods legendäres Chateau Marmont, er fährt einen – unauffällig schwarzen – Ferrari, und flirtet selten, sondern knallt die Mädels lieber gleich. Johnny Marco ist ein Filmstar. Vielleicht ist er aber auch schon längst erloschen und zu einem schwarzen Loch kollabiert, während wir noch immer vom früheren Stellarglanz geblendet sind – und nur die professionellen Sternenbeobachter, die Paparazzi schlauer scheinen. Stets wähnt sich Marco von ihnen gejagt, doch offenbar folgt ihm mittlerweile keiner mehr, weil andere verführerischer fürs Objektiv glitzern. (So wie sein Darsteller Stephen Dorff vom schalkhaft glitzernden, schwer gehypeten Star zu „Blade“-Zeiten Ende des letzten Jahrhunderts zum traurigen Charakterdarsteller der Gegenwart gereift ist.)
Johnny Marco kreist recht einsam am Firmament, bar jeder Entourage. Nur wenige streifen, kometenhaft, seine Bahn, ein Kumpel aus seiner Jugend (Chris „Jackass“ Pontius), eine Tochter aus einer gescheiterten Ehe (Elle „Ich-bin-die-Schwester-von-Dakota“ Fanning). Letzte Spuren der Normalität (wenn es normal ist, seine Teenagertochter ins Feriencamp zu hubschraubern), letzte Pulsschläge in einem Schauspielerleben, das gar nicht mal mehr aus Dreharbeiten zu bestehen scheint, sondern aus dem In-between, dieser Twilight Zone aus Kostümproben, Pressekonferenzen, Festivalbesuchen.
Tristesse Royal – quasidokumentarisch von Sofia Coppola gefilmt, der bewährten Chronistin der Gelangweilten wie Leidgeprüften zwischen Tokio, New York und Versailles. Nahezu unbewegt, ja kalt, folgt sie dem Lauf, vielleicht sogar den letzten Tagen eines nicht mal mehr Getriebenen, sondern abgeklärt Dahinsinkenden, folgt ihm auch gar nicht konsequent, sondern lässt ihn durchs Bild kreuzen und irgendwann verschwinden.
Als Romantiker konnte ich die Schlussszene von „Lost in translation“, den unverständlichen Dialog zwischen Bill Murray und Scarlett Johansson natürlich nur als Happy-end interpretieren. Kirsten Dunsts „Marie Antoinette“ erfreute sich immerhin noch des prallen Lebens vor dem Schafott. Doch im Vergleich mit Johnny Marcos unaufgeregter wie finaler Einsamkeit erscheinen mir sogar die Selbstmordschwestern aus „Virgin Suicides“ fidel und selbstbestimmt. Was nicht ausschließen muß, dass man dem Hollywood-Beau Marco jede Party, jeden Quickie mit dem Model in der Nachbarsuite, jede Bono-Anekdote neidet, ohne aber letztendlich mit ihm tauschen zu wollen.
Niemand hat in „Somewhere“ seine Seele verkauft, Hollywoods Boulevard der Dämmerung wird von Sofia Coppola völlig unfaustisch inszeniert, mit der Nonchalance einer Zeitzeugin, die nur bei einem Abstecher in Berlusconis Italien der Farce verfällt, aber sonst die Oberflächlichkeit dieser Kunstwelt, das Gehabe der scheinbar nie alternden Dorian Grays im Film- und Popbusiness mit einer unprätentiösen Selbstverständlichkeit skizziert, die man derart präzise wohl nur erlangt, wenn man in dieser Welt aufgewachsen ist, ohne ihr Opfer geworden zu sein. Und natürlich hofft man, dass auch Marco nicht dem Hollywood-Talmi geopfert wird, sondern vielleicht einfach aussteigt und in dem Augenblick, wo ihn die Kamera aus dem Blickwinkel verliert, als einfacher Fischer auf einer Schaluppe sein Auskommen findet. Irgendwo. Ist ja schließlich großes Kino.

Diese Filmkritik erschien – leicht gekürzt – im „In München“ 23/2010 vom 11. November 2010

Sonntag, 14. November 2010

Louis Vuitton: Luxus in Bewegung

Die Messingbeschläge schimmern vom jahrzehntelangen Polieren, die zarten Linien des verwitterten Leders zeichnen eine imaginäre Landkarte vergangener Reisen und dem Leinenbezug haben Regengüsse diesseits und jenseits des Äquators Patina verliehen.
Die mächtigen Schrankkoffer stammen aus einer Zeit, als Reisen noch ein großes Abenteuer war, verbunden mit wochenlangen Schiff- und Zugfahrten. Die Welt ist kleiner geworden seither, wie all die Amerikaner, Chinesen, Japaner, Russen und Deutschen im Pariser Global-Store von Louis Vuitton beweisen. Die dekorativen Gepäckstücke sind längst nicht mehr auf großer Fahrt, sondern schweben diskret über der aktuellen Kollektion der Boutique in der Avenue Montaigne.
Doch wo immer man dort hinschaut, entdeckt man Details der ehrwürdigen Koffer wieder: Pumps zitieren das zum Markenzeichen gewordene Schachbrettmuster des Gepäcks, an der Abendtasche „Theda“ glänzen die traditionellen Messingnieten und in der Schmuckkollektion baumeln Miniaturtaschen und das berühmte Monogramm.
Der Mythos lebt, auch wenn er nicht mehr mit den Gepäckbergen einer Marlene Dietrich, Audrey Hepburn oder eines Cary Grant assoziiert wird. Wer heute an Louis Vuitton denkt, sieht Madonna, Gwyneth Paltrow oder Sophie Marceau auf ihrer Reise durchs Blitzlichtgewitter einer Filmpremiere. In der Hand das Must-have der Saison – und damit 150 Jahre* Meisterhandwerk.
1854 gründete der professionelle Kofferpacker Louis Vuitton in Paris seine eigene Firma und legte damit den Grundstein für das Luxusimperium. Wer damals verreisen wollte, musste noch einen speziell geschulten Verpackungskünstler bestellen, um die ausladenden Roben und den wertvollen Hausrat in eigens gezimmerten Kisten und schwere, bucklige Truhen verstauen zu lassen.
Um seiner noblen Klientel ihre an Umzüge erinnernden Reisen zu erleichtern, erfand Louis Vuitton das adäquate Gepäck: den flachen, stapelbaren Koffer, dessen Konstruktion aus Pappelholz und imprägniertem Segeltuch nicht nur platzsparend war, sondern auch trageleicht und regenfest.
Schon seit langem deckt das Traditionsunternehmen nicht mehr nur die Bedürfnisse von Weltenbummlern. Konsequent hat Vuitton die handwerklichen Fertigkeiten im Umgang mit Leder, Metall und Stoffen auf Handtaschen, Schuhe, Accessoires, Mode, Uhren und Schmuck ausgeweitet und dem Zeitgeist mit Sneakers, Yoga-Sets und Etuis für MP3-Player gehuldigt.
Einen entscheidenden Modernitätsschub brachte 1997 der Entschluss, den New Yorker Designer Marc Jacobs als künstlerischen Direktor nach Paris zu holen. Jacobs verwandelte das legendäre Markenzeichen in ein neues Trendlabel. Ob bei seinen eigenen verspielten Entwürfen für die Prêt-à-porter-Kollektion oder in der Zusammenarbeit mit internationalen Künstlern wie Takashi Murakami, Stephen Sprouse und Robert Wilson: In immer neuen Farben, Materialien und Schnitten interpretiert Jacobs den Mythos neu.
Und vergisst trotzdem seine Wurzeln nicht: Wer Muss-ich-haben-Stücke wie die türkisfarbene Express-Tasche sieht, erkennt sofort, dass sich auch Jacobs vom Canvas und den Beschlägen der alten Gepäckstücke inspirieren ließ.
Natürlich wird auch der klassische Vuitton-Schrankkoffer noch immer hergestellt. Von Hand unter der Aufsicht des Urenkels Patrick-Louis Vuitton in einem Atelier, das seit dem vorletzten Jahrhundert in Betrieb ist. Kein Logo verrät den Stammsitz, der sich wie ein klösterliches Refugium zwischen moderne Villen und Mehrfamilienhäusern duckt. Am Eingang nur ein schlichtes Klingelschild: Louis Vuitton.
Wer dort läutet, ist ein besonderer Gast, denn in dem Pariser Vorort Asnières entstehen neben den Schrankkoffern und Prototypen neuer Modelle vor allem Sonderanfertigungen für V.I.P.s: eine Wickeltasche für Schauspielerin Sarah Jessica Parker, ein Gitarrenkoffer für Rockstar Willy DeVille, ein Reiseschreibtisch für Regisseur Luc Besson – insgesamt mehr als 200 Einzelstücke jährlich.
Nicht selten finden die Maßarbeiten ihren Weg in die feste Kollektion – so wie der Vanity Case, ein kleiner Reise-Schrein für Kosmetik und Schmuck, den Sharon Stone selbst vor Ort entworfen hat.
Das Reisen hat in anderthalb Jahrhunderten an Rasanz dazugewonnen, doch wer eines der 15 Ateliers von Vuitton betritt, erlebt die Entdeckung der Langsamkeit. Zwischen drei und zwölf Jahre trocknen die Pappel- und Buchenhölzer für die Koffer, bedächtig wird das Leder mit Pflanzenextrakten gegerbt. Wie zur Gründerzeit prägt Handarbeit die Herstellung, weshalb Wartelisten kein Marketing-Kniff sind, sondern ein Zugeständnis an die handwerkliche Sorgfalt.
Asnières ist die Seele des Unternehmens. In einem schmalen Gang nimmt dieser gute Geist Gestalt an: Ein Handwerker restauriert einen alten Schrankkoffer und scheint dabei die Welt um sich herum zu vergessen. Wenn in dem Lichtjahre entfernten Paris Marc Jacobs seine neuesten Kreationen präsentiert, denkt vielleicht niemand mehr an die zahllosen beteiligten Schreiner, Gerber, Kürschner, Koffermacher, Schneider und ihre Kunstfertigkeit. Doch sie sind Louis Vuitton. Und niemand weiß das besser als Jacobs, der aus dieser Tradition schöpft und sie in atemberaubende Mode verwandelt.

*Dieser Text erschien zuerst unter der Überschrift „150 Jahre Luxus“ in der „Cosmopolitan“ September 2004

Samstag, 13. November 2010

Wochenplan

Pressegespräch zum neuen Internetauftritt der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Pressevorführung „Betty Anne Waters“, BJV-Werkstattgespräch „Audio Slide Show“ mit Matthias Eberl /Presseclub, Restaurant-Opening Coco de Mer, Ina Lane ./. Michael Graeter / Landgericht München, Edition 46 des SZ-Magazins: Hans-Peter Feldmann / Pinakothek der Moderne, HeimAZabend mit den „Abendzeitung“-Kolumnisten Ponkie, Eduard Augustin & Joseph von Westfalen / Vereinsheim, Birthday & Supperclub Party / Daylesford Organic, euward-Verleihung / Haus der Kunst, Verleihung der Bayerischen Kunstförderpreise 2010 / Residenz, Let's party for a piece of art / Pinakothek der Moderne

Foto: Hans-Peter Feldmann | Ohne Titel (Zwei Mädchen), o. J. Schwarz-Weiß-Fotografie, ausgeschnitten, 92 x 60 cm © VG Bild-Kunst, Bonn 2010

Freitag, 12. November 2010

Die Weisheit des Verlierers

Manche Lektüre macht es einem nicht leicht. Jürgen Todenhöfers neues Buch sollte ursprünglich mal „Die Weisheit der Sieger“ heißen, und ein erster Umschlagentwurf rückte es in die Nähe von Lebensratgebern à la „Simplify your life“.
Todenhöfers Anekdotenschatz aus einem erfüllten Berufsleben zwischen Bundestag und Burda-Verlag steht dagegen in Hans-Jürgen Jakobs' Exegese für die „Süddeutsche Zeitung“ heute im Mittelpunkt.
Und natürlich findet man beides in Todenhöfers nächste Woche erscheinendem „Teile dein Glück und du veränderst die Welt“: Tugendtafeln zum Abhaken, wie es keine Frauenzeitschrift oder Karrierebibel besser auf ihren Ratgeberseiten als To-do-Liste anbieten könnte. Und äußerst unterhaltsames Geplaudere, etwa über eine Kissenschlacht mit Michael Jackson, Klassenkeile mit Hubert Burda oder die Polit-und PR-Tricks eines CDU-Politikers.
Mutig, interessant und lesenswert ist diese Abrechnung zu seinem 70. Geburtstag aber eher, weil Todenhöfer mit sich selbst abrechnet, statt der Weisheit der Sieger lieber Erkenntnisse aus seinen Niederlagen teilt und dabei – schonungslos mit sich selbst – dahin geht, wo es weh tut.
Aus einer Aphorismenkladde, mit denen er seinen drei Kindern Orientierung schenken wollte, ist stattdessen eine doppelt so umfangreiche Rückschau geworden, die Nathalie, Valérie und Frédéric Todenhöfer überrascht haben dürfte, weil wohl kaum ein Vater so offen über sein Scheitern spricht. Und schon gar kein langjähriger Politprofi und Vorstandsmitglied eines international agierenden Konzerns.
Eine „Halbzeitbilanz“ wollte der fußballbegeisterte Todenhöfer ziehen, der heute seinen 70. Geburtstag feiert. Sein Verlag, offenbar hinsichtlich der Lebenserwartung nicht ganz so optimistisch, fand „Zwischenbilanz“ angemessener. Auf jeden Fall scheint Todenhöfer noch lange nicht am Ziel.
Mir kommt seine Welt so kalt vor, daß es mich friert, und auch wenn er in dem Buch ausgiebigst von seinen Reisen durch Asien und den dortigen Begegnungen mit weisen Männern und einfach glücklicheren Menschen erzählt, scheint er keineswegs deren innerem Feuer zu vertrauen. Wärme scheint bei Todenhöfer kinetische Wärme zu sein: Mach was, erreiche was, leiste was. Die Geschichten seiner Niederlagen werden so zu keiner Ode an die Demut, das Selbstbild vom Pausenclown wirkt wie Koketterie, denn schlußendlich sehen wir ein Stehaufmännchen, einen Selfmademan, einen Mann, der trotz aller Niederlagen durchhielt und oft gegen alle Widerstände – etwa bei der Wiedervereinigung – recht behielt.Auch wenn er bei sich selbst viele Fehler der Vergangenheit ungeschehen machen will.
Daß und vor allem wie er diese Fehler vor großem Publikum (Startauflage: 50.000, Vorabdruck in der „BILD“) eingesteht, liest sich spannend und läßt für ihn hoffen.

Update: „Die meisten dieser Aphorismen beleuchten die sehr singuläre Geschichte Todenhöfers. Sie vermitteln die Einsicht, dass sozialer Zusammenhalt, Freunde und Familie wichtiger sind als Reichtum. Das Buch ist dort am besten, wo er aus seinem eigenen Leben erzählt, etwa vom bizarren Wurstdosenkrieg mit Helmut Kohl“, Nils Minkmar in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 21. November 2010.

Mittwoch, 10. November 2010

Im Preisfieber: die wild fabulierenden Trittbrettfahrer der „Bunten“

Wird Orlando Bloom jetzt dank des Bambi 2010 in „Die drei Musketiere“ den Duke of Buckingham spielen dürfen? Erhält Udo Lindenberg mit Burdas Unterstützung vielleicht den Jacob-Grimm-Preis? Oder war das nicht alles längst schon vorher erledigt? Können die Kollegen der „Bunte“-Redaktion tatsächlich Wunder vollbringen und in der Zeit zurückreisen oder liegen in der Arabellastraße einfach nur die falschen Pillen herum?
Beim am 23. April 2009 verliehenen new faces award, dem kleinen Bruder des Bambi, war unter anderem auch Alina Levshin Anfang April für ihre Rolle in „Rosa Roth – Das Mädchen aus Sumy“ nominiert worden. Gewonnen hat schließlich Nora von Waldstätten, aber Levshin ist anderthalb Jahre später als Hauptdarstellerin von Dominik Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“ (ARD, Freitag, 21.45 Uhr) in aller Munde. Und wird jetzt als „echtes BUNTE-Gesicht“ gefeiert.
„2009 wurde sie für den BUNTE new faces award nominiert, verpasste knapp den Sieg, aber hatte danach etwas, was sie vorher nicht gehabt hatte: eine Agentur, die der Schauspielschülerin diese Rolle vermittelte – und diese Chance hat sie genutzt.“ Zu dumm, daß Dominik Grafs Serie im Januar 2009, also lange vor der Nominierung bereits abgedreht war. (Levshins Agentur ließ meine Anfrage dazu unbeantwortet, aber wer will es sich auch schon mit Patricia Riekels Truppe verscherzen.)

Sonntag, 7. November 2010

Buntepedia: Kurschatten und Leine

Keep it simple, stupid, KISS, nach dieser Devise wird in Redaktionen gern getextcheft, von der Headline bis zum Lauftext. Den Kollegen von der „Bunten“ scheint das nicht zu genügen, sie helfen ihren Lesern, die sie alles andere als zu überschätzen scheinen, gern mit Erläuterungen auf die Sprünge, mit in Klammern nachgereichten Begriffserklärungen, um nur ja kein Mißverständnis aufkommen zu lassen.
„Bunte“ 44/2010, Seite 25
Die Nachricht vom „Kurschatten“ (volkstümlich für Heilbad-Bekanntschaft) sprach sich bald im internationalen Jetset herum und erreichte schnell Monaco.
„Bunte“ 45/2010, Seite 13
Die 53-Jährige hat gerade einen Deutschen von der Leine (Fluss durch Hannover) verloren. Diesen vierbeinigen Deutschen hält sie fest an der Leine (Ausführstrick) ...

Samstag, 6. November 2010

Wochenplan

Aura Dione / Ampère, Pressevorführungen „Au revoir Taipei“, „La danse - Le ballet de l'Opéra de Paris“, „Black Swan“ und „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“, Charity-Vernissage „Lebenslinien“ unter Schirmherrschaft von Claudia Effenberg / 8 seasons, Vernissage Ahmet Öğüt / Villa Stuck, Buchpräsentation „Teile dein Glück und du veränderst die Welt“ und Mittagessen mit Jürgen Todenhöfer / Spatenhaus, die neue Staffel des „Kaiser von Schexing“ / Bayerisches Fernsehen, Querdenker-Kongress & Award, Fachtagung „Alles auf dem Schirm – Jugendliche in vernetzten Informationswelten“ / BLM, Ateliereröffnung Wanja Belaga, Webfontday / Halle 27

Freitag, 5. November 2010

Popa pöbelt (2)

Das Internet vergisst nicht. Und während es sich früher versendet hätte, dass Nachrichtensprecherin Christiane Gerboth mitten in der Sendung ihren Stiftzahn verlor, sorgte eine Zuschauerin dafür, dass der Mitschnitt des dentalen Worst Case auf YouTube selbst vier Jahre später einen rätseln lässt, wie die Veränderung der Kauleisten und die des Body-Mass-Index in Relation stehen.
Doch das Web hat nicht nur das unerbittliche Gedächtnis eines böswilligen Pförtners, es ist auch genauso indiskret. Giovanni di Lorenzo kommt einem nicht mehr nur persönlich klein vor, an der entlarvenden Begegnung mit dem Tee trinkenden Nicht-Riesen im RL (Real Life) nimmt nun via Twitter die ganze Welt teil.
Und während früher in den Redaktionen und Agenturen jeder still vor sich hin während der Arbeitszeit mit den Freunden chatten, witzige Videos gucken, schicke Hotels recherchieren und Shopping-Reisen buchen konnte, kriegen es jetzt alle mit, was man so faved und liked.
Selbst das finale Dislike, die innere Kündigung, erfährt man längst nicht mehr vertraulich via Flurfunk, sondern fett und öffentlich im Xing-Profile unter „Ich suche“: Wer da alles trotz gemütlichen, ungekündigten Anstellungsverhältnisses unverschämt offen um neue Herausforderungen heischt, besitzt entweder viel Chuzpe oder die Gewissheit, dass auf den Chefetagen der Rechner immer noch reine Deko ist und selbst Mails weiterhin vom Chefsekretariat ausgedruckt und in die Vorlagenmappe gepackt werden. Dabei erfährt man aus Statusmeldungen inzwischen mehr als aus den einschlägigen Branchendiensten. Boris Hächler sucht neue Mitarbeiter, Eve Maren Büchner hat ein neues Start-up: Xing brachte es als erstes, obwohl das People-Portal immer noch eher den Charme der Ärmelschoner vom Arbeitsamt ausstrahlt, denn hippe Medienkompetenz.
Entsprechend klingen viele Einträge dort eher wie das einsame, höchstens selbstbefriedigende Quäken im Wald, während man sich auf den Flirtwiesen von Facebook und Twitter gern gemeinschaftlich verlustiert. BR-Late-Moderator Richard Gutjahr hat so nicht nur neue Kanäle eröffnet, um sich bei Chefredakteur Sigmund Gottlieb einzuschmeicheln, sondern kann jetzt auch jene Menschen anvisieren, die nicht um Mitternacht bayerische Regionalnachrichten gucken, also nahezu jeder von uns. Gutjahrs Social-Media-Hobby führte kurioserweise dazu, dass der juvenile Beau für die „Abendzeitung“ old-media-mäßig eine Printkolumne schreiben darf, wofür er sich prompt bedankte, indem er lautstark allen Zeitungen nur noch wenige Jahre zu leben prophezeite. Sind ja auch keine BR-Granden, der Rundfunk-Benjamin muß ihnen also nicht schöntun.
Beate Wedekind kann dagegen offenbar mit jedem gut und sich entsprechend vor Freunden kaum retten, 3479, nein, 3480 waren es bei Facebook, als ich diese Zeilen schrieb, und ich habe das Gefühl, dass der Andrang sich exponential vergrößert hat, seitdem es sich herumspricht, dass Wedekind an ihrer im Sommer 2011 erscheinenden Autobiografie sitzt.
An Freunden dürfte es dagegen Gustav Jandek eher mangeln. Nicht weil er bei schnellem Vorbeiblicken optische Gemeinsamkeiten mit einem von Luc Bessons Mangalores zu haben scheint, sondern weil der frühere „BILD“-Mann eine so eindringliche Art besitzt, Strippen zu ziehen, dass sich mancher lieber einen abgeschnittenen Pferdekopf im Bett wünscht als einen Anruf des Beraters und Klatschreporters.
Aber wer braucht schon Freunde, wenn er einen Feind wie das deutsche Finanzamt hat. Erst, so klatschte die Journaille*, waren es nur Steuerschulden, dann eine Anklage wegen Beleidigung seiner Sachbearbeiter. Inzwischen hat Jandeks Kampf mit dem „Fiskal-Terror“ episches Ausmaß, und da die Sender seine Idee von einer Fernsehserie zu dem Thema ablehnten („will keiner sehen“), hat der 57-Jährige seinen eigenen Kanal gefunden: das Internet. Sein Steuer-Wahnsinn.de strahlt zwar den unbeholfenen Charme einer digitalen „Bäckerblume“ aus, aber wenn selbst dieser Digital Naïve im binären Leben angekommen ist, ist das Internet in der bürgerlichen Mitte endgültig angekommen.

Diese Kolumne erschien zuerst im „Clap-Magazin“ #30 Oktober/November 2010
*Ich vermeide den von Goebbels mißbrauchten Ausdruck „Journaille“ sonst, aber die „Clap“-Redaktion hat ihn mir in die Kolumne hineinredigiert. Sorry.

Sonntag, 31. Oktober 2010

Wochenplan

Lykke Li / Heimathafen Berlin, Patrick Mohrs Dreieckstorte und die neue Tortenkollektion / Das Neue Kubitscheck, Pressebriefing HTC Windows Phone 7 Smartphone / Heart, Pressevorführung „Unstoppable“, Memphis Night mit Hans Leo Höger, Tobias Madison und Bart van der Heide / Kunstverein, Buchpräsentation von Werner Schmidbauers „Gipfeltreffen 4“ / Vereinsheim, „How to make a book with Steidl“ / 3sat, Premiere „Beatz“ / GOP., CocoRosie / Muffathalle und vielleicht sogar 100 Tage Bücher

(Foto: Benoît Derrier/flickr)

Freitag, 29. Oktober 2010

Bryan Ferrys nette, unkomplizierte Schwärmerei für Nazis

So langsam mache ich mir Sorgen um Alexander Gorkow. Seine männlich-pubertäre Schumann's-Phase, als er beim Saufen nur in Ruhe gelassen werden und mit jedem Störenfried vor die Tür gehen wollte oder zumindest so tat, war ja noch putzig. Seitdem er aber im SZ-Hochhaus direkt neben der Chefredaktion sitzt, scheint ihn entweder die Midlife Crisis erwischt zu haben oder er regrediert in die vorpubertäre Phase eines bedingungslosen Fans. Nichts gegen seine einfühlsamen Porträts älterer Herren wie Klaus Lemke, Phil Collins oder – in der gestrigen „Süddeutschen Zeitung“ – Bryan Ferry. Aber es fällt schon auf, wie er dabei alles Negative ausblendet.
„Im Interview schwärmte er damals, wie leicht das Leben sogar für ihn sein könne, hach ja, und erzählte vom Landleben in Surrey und seinen fünf Hunden. Nett, dieser plötzlich unkomplizierte Bryan Ferry“
, so Gorkow über das Jahr 2007, als Ferry in Gorkows Augen wohl nur einen Fehler begang: Bob Dylan zu covern.
Dabei schwärmte der Dandy im März 2007 nicht nur fürs englische Landleben, sondern in einem berüchtigten Interview mit der „Welt am Sonntag“:
Ferry: Ich möchte auf ein Leben zurückblicken, in dem ich Dinge vollbracht habe. Deshalb nenne ich mein Studio in Westlondon auch ... aber halt, das darf ich Ihnen als Deutscher gar nicht erzählen.
WamS: Etwa "Führerbunker"?
Ferry: Da haben Sie mich ertappt. Normalerweise behaupte ich gegenüber deutschen Journalisten immer, ich würde mein Studio als mein "Hauptquartier" bezeichnen. Das ist weniger verfänglich. Aber die Art und Weise, wie sich die Nazis inszeniert und präsentiert haben, meine Herren! Ich spreche von den Filmen von Leni Riefenstahl und den Gebäuden von Albert Speer und den Massenaufmärschen und den Flaggen - einfach fantastisch. Wirklich schön.


(Foto: Neil K./EMI)

Mittwoch, 27. Oktober 2010

Berliner Jahre (4): Das Florian, 1996

Geduld, Toleranz und die Fähigkeit zuzuhören, das sind Qualitäten, die die Nürnbergerin Ute Gilow als Hauswirtschaftsleiterin gelernt hat. Waren es früher Altersheimbewohner und Rabauken aus dem Kinderheim, so sind es heute Künstler und Kulturmanager wie Matthieu Carrière, Meret Becker, Conny Konzack und Vadim Glowna, die ihre Aufmerksamkeit beanspruchen.
1978 wechselte die Fränkin in die Gastronomie, als Künstlerfrau gewohnt, ein offenes Haus mit anspruchsvollen Gästen zu führen. „Nun sollten die Gäste auch dafür bezahlen.“ Mit dem Schöneberger Gottlieb ging es los. Die Studentenkneipe war zwar nur gepachtet, zeichnete sich aber bereits durch Utes fränkisch-bayerische Küche aus. Und durch eine kellnernde Jura-Studentin, Gerti Hofmann, mit der die Wirtin nicht nur den fränkischen Zungenschlag gemeinsam hatte, sondern bald auch den Traum von der eigenen Wirtschaft, von einem Goldenen Schwan oder Schwarzen Ochsen, in dem man etwas feiner essen können sollte.
Die Wahl fiel schließlich auf eine Immobilie in der Grolmanstraße und den Namen Florian, für den Frankens einziger Freiheitsheld Florian Geyer Pate stand. Utes Mann schuf noch ein „Wunderwerk an Tresen“, das ein Schiff darstellt, dann blieben sich Ute und Gerti in dem Zweimäderlhaus allein überlassen. Die Ältere in der Küche, die Jüngere hinterm Tresen, beide unterstützt von einer kuriosen Schar dilettierender Violinvirtuosen, Theologiestudenten und anderer Gelegenheitskellner, von denen einige nach vierzehn Jahren* immer noch dabei sind und „es inzwischen können“.
Das künstlerisch angehauchte Publikum kam aus dem Zwiebelfisch und der Paris Bar – und schließlich von einem Nachtdreh, der die Legende vom Florian als Filmkantine schuf. Peter Keglevic drehte mit Brigitte Horney, Erland Josephson und Krystyna Janda um die Ecke und bekam nach Drehschluß zu später Stunde nur im Florian noch etwas zu essen. Produzent von Vietinghoff und die Schar der Filmtechniker sind dem Florian seitdem treu geblieben. Die Wirtschaft wurde zum Filmertreff, und Ute erlitt ihre Kachelkrise.
Ständig in der Küche zu stehen und zu schwitzen, während vorne das Leben tobte, das war nicht mehr auszuhalten. So beschlossen Ute und Gerti, in Zukunft nur noch Gastgeberinnen zu sein und die Küchen- wie die Tresenarbeit Angestellten zu überlassen. Die Speisekarte umfaßt seitdem nicht mehr nur Utes „Kochküche“, sondern auch Kurzgebratenes und Edleres wie Scampi.
Das eingespielte Duo, das sogar zusammen wohnt, versuchte bereits mehrmals, die gemeinsame Stärke andernorts zu nutzen. So sehr auch die Stammgäste im Florian quengeln, sobald ihre Mamis nicht vollzählig anwesend sind. Bereits Mitte der 80er Jahre gründeten Ute und Gerti mit einer weiteren Partnerin ein Lokal am Halleschen Ufer, das aber nicht so richtig ankam beim Publikum. Nachdem die Gründungsschulden abgetragen waren, zogen sie sich aus der Partnerschaft zurück.
André Heller begeisterte sie dann für seinen Traum eines Künstlerlokals im neuen Wintergarten an der Potsdamer Straße. Doch die Realität verlangte nach einer Veranstaltungsgastronomie, wie sie Ute und Gerti nicht bieten wollten. Erfolgreicher ist ihr Engagement in der Bar jeder Vernunft, wo die Ladies nicht in eigener Regie, sondern eher „beratend“ für das leibliche Wohl der Zeltgäste sorgen. Während Gerti mit ihrem Glück in der Grolmanstraße zufrieden zu sein scheint, träumt Ute von einem Landgasthof im Oranienburger Raum.
*Dieses Porträt erschien in der Kulturbeilage des Berliner „Tagesspiegel“: „Ticket“ 21/1996, am 23. Mai 1996 im Rahmen einer Serie über „Berlins wichtigste Wirte“.

(Foto: Hans Brückner)

Dienstag, 26. Oktober 2010

Landschaftspflege (3): Journalistenbuchung bei Air Berlin

Wenn Journalisten so oft mit Air Berlin reisen, dann sicherlich nicht wegen des berüchtigten Kundenservices oder der legendären Unpünktlichkeit, sondern weil der Billigcarrier einen Journalistentarif anbietet. Theoretisch.
Aber nicht gleich wieder auf die Schnorrerpresse schimpfen, denn nicht nur bei der Telekom ähneln manche Pressevergünstigungen eher Apothekenpreisen.
So fliege ich nächste Woche als ganz gewöhnlicher Passagier mit Air Berlin für 39 Euro von Berlin nach München. Mit dem Journalistenrabatt hätte es mehr als das Doppelte gekostet, denn innerdeutsch löhnen Journalisten für einen einfachen Flug grundsätzlich 109 Euro – und es gibt nicht einmal Bonusmeilen dafür, aber dafür ist der Flug kostenlos umbuchbar und stornierbar. Das lohnt sich immerhin, wenn die günstigeren Klassen des Spartarifs ausgebucht sind. Wobei aber die Presseplätze ebenso kontingentiert und damit oft nicht mehr verfügbar sind.
„Bitte entnehmen Sie unsere Preise und Verfügbarkeiten der Homepage www.airberlin.com und senden Sie uns anschliessend Ihren vollständigen Buchungsauftrag.“ Was nicht unbedingt so einfach ist, denn auf der Webseite sieht man nur die Verfügbarkeit der regulären Spar- und Flextarife, die kaum Rückschlüsse auf die Presseplätze zuläßt. Bei meinem Testversuch gab es beispielsweise zwischen München und Berlin freie Plätze zum Spar- und Flextarif ab 158 Euro aufwärts, aber kein Journalistenkontingent mehr. Bei einem anderen Flug mit Flextickets ab 263,95 Euro war dann aber wiederum der ermäßigte Journalistenflex zu 109 Euro erhältlich.
Die Buchung erschwert auch, daß sie per Mail (journalistenbuchungen@airberlin.com) zu erfolgen hat und bis zu drei Arbeitstagen dauern kann. „Sollte eine Reservierung zu den von Ihnen gewünschten Terminen nicht möglich sein, benachrichtigen wir Sie umgehend.“ Theoretisch.
In meinem Testfall wurde weder gebucht, noch benachrichtigt. Bis auf die automatisierte Eingangsbestätigung passierte nichts und es war im Nachhinein auch nicht mehr feststellbar, wer was mit der Mail angestellt hatte. Wenn überhaupt.
Es empfiehlt sich daher, möglichst frühzeitig zu buchen, zuvor – abweichend von den offiziellen Regeln – die Vakanzen zu Journalistenkonditionen telefonisch zu erfragen: 030/34 34 15 25 (Montag bis Freitag zwischen 9 und 18 Uhr), und rechtzeitig nachzufragen, wenn 48 Stunden nach der Bestellmail keine Buchungsbestätigung erfolgte.
Auf internationalen Strecken gewährt Air Berlin einen Rabatt von 25 Prozent auf den Flugpreis (ohne Steuern und Kerosinzuschläge). Im In- und Ausland gelten die Sondertarife auch für eine Begleitperson. Kinder (unter 12) erhalten 33 Prozent Ermäßigung.
Babys (unter 2) zahlen 10 Prozent des Erwachsenenvolltarifs bei internationalen Flügen und reisen innerdeutsch kostenfrei.
Mit der ersten Buchung erhält der Journalist eine Kundennummer, die auch für spätere Reisen gilt. Bei dieser ersten Akkreditierung benötigt Air Berlin daher neben Abflug- und Zielflughafen sowie Daten des Hin- und Rückflugs mit Flugnummer oder Abflugzeit auch:
  • Vor- und Zunamen der Reisenden
  • bei Kindern und Babys Angabe des Geburtsdatums
  • Angabe des Mediums / Redaktion
  • private Bankverbindung oder Kreditkarte
  • Privatanschrift
  • Telefonnummer, Faxnummer und E-Mail- Adresse
  • Kopie des gültigen Presseausweises

Update: Pressekonditionen.de meldet im März 2011, daß Air Berlin zum einen das Kontingent an Pressetickets reduziert hat. Außerdem „sind Erstbuchungen nur noch per Fax oder E-Mail möglich während Folgebuchungen ab sofort nur noch telefonisch möglich sind.“

Montag, 25. Oktober 2010

Das Münchner Panini-Album: Kostspieliger Werbemüll

Ein Hort redaktioneller Unabhängigkeit waren Panini-Alben noch nie, schließlich wollen die Fans bestimmter Vereins- oder Nationalmannschaften sich an den Klebebildern erfreuen und nicht mit unangenehmen Fragen konfrontiert werden.
Aber das heute erschienene Album „München sammelt München“, eine Kooperation von Juststickit! mit Panini, zieht die Tradition des Bildersammelns und vor allem Tauschens einfach in den Dreck.  Denn hier zahlt man nicht etwa nur füs Sammelheft und eine Menge Sticker-Tütchen, sondern für eine satte Portion aufdringlicher Werbung.
„Die ganze Stadt in 216 Klebebildchen“ auf 36 Seiten? Das sind dann allein schon sieben offensichtlich komplett gekaufte Werbeseiten von BMW, dem Flughafen, der Bavaria Filmtour und dem Bezahl(!)sender Sky, die man dann mit Produkt- oder Moderatorenbildchen bekleben darf.
In Sachen Kunst & Kultur findet man statt der Münchner Philharmoniker nur die Münchner Symphoniker – offenbar weil letztere von der Stadtsparkasse gesponsert werden, oder zwischen Pinakothek und Lenbachhaus den Giesinger Kulturpreis der Versicherungskammer Bayern, während etwa die Kammerspiele oder das Residenztheater unerwähnt bleiben.
Bei der knappen Auswahl architektonischer Glanzeistungen haben sich anscheinend die Messegesellschaft, die Börse und Siemens in die Top 12 der Sehenswürdigkeiten eingekauft, letztere nicht einmal mit ihrem Konzernpalais, sondern mit einem leuchtenden Weihnachtsstern in Fröttmanning. Dafür firmiert die Siemens-Zentrale mit ihrem Public Viewing am Wittelsbacher Platz unter den bedeutendsten Sportereignissen – wie auch die athletisch kaum bedeutendere Disziplin „House Running“ des Funsportvermarkters und Köpfeklopfers Jochen Schweizer.
Alles in allem bis zu ein Drittel der Klebebildchen teuer bezahlte Werbung? Und zwar sowohl von den Inserierenden, als auch von den dafür zahlenden Sammlern. Ein cleveres Geschäftsprinzip der beiden Journalisten (!) Alexander Böker („Max“, „Ivy“) und Oliver Wurm („Player“), die das Panini-Prinzip auf Städte umgesetzt haben.
Dann darf man sich nicht wundern, daß bei dieser kapitalkräftigen Themensetzung Originale wie Franz Xaver Kroetz, Herbert Achternbusch oder Oskar Maria Graf, die München nachhaltig geprägt haben,  schlichtwegs fehlen.

Samstag, 23. Oktober 2010

Freitag, 22. Oktober 2010

Agora (2): Mercedes Riederer - beharrlich inmitten all des Bling-Blings und Ballyhoos

Am Mittwoch wurde Mercedes Riederer, Chefredakteurin des BR-Hörfunks und früher langjährige Leiterin der Deutschen Journalistenschule, im Literaturhaus mit dem Publizistikpreis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede beteuerte Riederer, daß sie trotz der Auszeichnung ihres „Lebenswerkes“ noch lange nicht ans Aufhören dächte. Wieso das eine gute Nachricht ist, läßt Dagmar Reims hinreißende Laudatio ahnen. Reim, eine ehemalige Kollegin Riederers zu Christoph Lindenmeyers „Zündfunk“-Zeiten und gute Freundin, ist inzwischen Intendantin des RBB:

Dies ist vielleicht eine etwas unübliche Laudatio, weil ich kurz, knapp und einprägsam begründen will, warum der Publizistikpreis der Landeshauptstadt München in diesem Jahr 2010 an die Falsche geht. Insofern ist es bedauerlich, dass Sie, sehr verehrter Herr Dr. Küppers bereits Tatsachen geschaffen haben.

3 Punkte sprechen nämlich gegen Ihre Entscheidung:

1. Mercedes Riederer kommt für diesen Preis nicht in Frage, weil sie kein berstendes Ego ist. Die hier zahlreich versammelten Journalisten können bezeugen: Wer in unserer Branche nicht permanent die Ego-Bongo-Trommel rührt, geht unter. Wer wie Mercedes leise, aber beharrlich, seinen Weg geht, der kann gar nicht ankommen. Vier von mir zu Mercedes befragte Berufs- und Zeitgenossen gaben ihr unabhängig voneinander das Prädikat „uneitel“. Das geht gar nich’.

2. Mercedes Riederer ist eine ungeeignete Preisträgerin, weil sie andere in unserem Beruf für wichtiger hält als sich selbst. Sie sucht und findet Talente im Komposthaufen der Medien, angelt nach Begabungen im Brachwasser der Branche und entlässt manch’ unscheinbaren Stichling später als stolzen Koi-Karpfen aus ihrer Obhut. Sie braucht keine Selbst-Illumination in einer Szene des Talmi-Glanzes, voller Bling-Bling und Ballyhoo.

3. Mercedes Riederer kommt für den Publizistikpreis der Landeshauptstadt nicht in Frage, weil sie sich der Hebammenkunst verschrieben hat, der Mäeutik, und auf beharrliche, sehr geduldige Weise anderen zu den herrlichsten Ergebnissen verhilft, von denen diese bis anhin nicht einmal wussten, dass sie sie würden zustande bringen können.

Drei schlagende Beweise gegen die Auszeichnung. Ihnen allen noch einen schönen Abend. Noch ein kleines P.S., biografisch, das ich der einladenden Landeshauptstadt schulde, in die mich heute 578,31 Kilometer Weges führten.

Mercedes Riederer, unsere Preisträgerin, beschloss mit 14, Journalistin zu werden. Die Familie, konservativer, aber toleranter bayerischer Adel, fand das schräg, gleichwohl akzeptabel. Das Kind machte ein Praktikum beim Rottaler Anzeiger, einer allseits gefürchteten Journalisten-Talentschmiede und brillierte sowohl mit Reportagen über das Ende der Freibadsaison als auch über die Preisverleihung eines Lego-Bau-Wettbewerbs durch Inge Meisel. Weitere Praktika führten zum Sender Freies Berlin und zur Berliner Morgenpost. Dort flötete niemand: „Willkommen im Traumberuf!“ sondern Mercedes fand sich als Stellvertreterin des Stellvertreters des Zooberichterstatters im Lokalteil wieder. (Rolf Hochhuth hat einem anderen Stellvertreter ein literarisches Denkmal gesetzt, die Stellvertreterin des Stellvertreters bei Panda, Gorilla & Co, ist bis heute unbesungen.)

Da lief es als freie Mitarbeiterin im Jugendfunk des Bayerischen Rundfunks dann schon erheblich besser, wo man Mercedes die unter allen Freien verhassten Umfragen mit dem Mikrofon zutraute – vorzugsweise unter der weiblichen Landjugend. Als Mercedes Riederer 1978 eine feste Stelle bekam, warnte sie der Personalchef des BR: „Das ist Ihnen schon klar, dass sie so gut wie keine Entwicklungsmöglichkeiten haben. Nach dem Jugendfunk geht nur noch der Familienfunk oder der Kinderfunk.“ Mercedes wechselte alsbald in den Zeitfunk, den Oberpersonaler Lügen strafend, obwohl dort – wegen der vielen, vielen jungen Frauen hier im Saal muss ich es sagen – die Überzeugung herrschte, Frauenstimmen, zumal hellere, seien nicht seriös genug für die Vermittlung aktueller politischer Inhalte. Auch daran hat Mercedes sich nicht weiter gestört. Sie hat’s einfach gemacht.

1985 verließ sie den BR und fand ihre Passion in der Ausbildung. Hunderte von Journalistenschülern hat sie in der Deutschen Journalistenschule den steinigen, schwierigen, kurvenreichen Weg in unseren schönen Beruf geebnet. Sie hatte und hat einen unbestechlichen Blick dafür, wer was können könnte, wer mit wem ein tolles Team bilden, und wer als Solist seine Pirouetten drehen sollte. Noch nie hatte vor Mercedes eine Frau die ruhmreiche Deutsche Journalistenschule geleitet. Sie hat in schweren Zeiten das Ansehen der Institution gemehrt, Gelder beschafft, die Schüler geliebt.

2001 saß ein gewisser Thomas Gruber, Intendant des Bayerischen Rundfunks, mit zwei Männern (Namen auf Anfrage) auf seinem Balkon im Chiemgau, und es kam ihm die Idee, Mercedes Riederer zurückzuholen zum BR. Als Chefredakteurin. Muss ich sagen, selbstverständlich als erste Chefredakteurin in der damals dreiundfünfzigjährigen Geschichte des BR? Muss ich nicht. Muss ich sagen: Zur sehr gedämpften Freude mancher männlicher BR-Kollegen? Muss ich nicht. Jedenfalls beschreibt Thomas Gruber Mercedes als nachhaltig sanftmütig im Auftreten und sanftmütig nachhaltig im Handeln. Wer sich durch ihre großen Augen und deren so sanften Blick täuschen lässt und vermutet, dahinter könne sich weder Zähigkeit noch Durchsetzungskraft verbergen, der ist einfach selbst schuld. Mercedes beweist im nicht immer durchgängig intrigenfreien BR: Es geht ohne. Es geht ohne Intrige, ohne Über-Taktiererei, ohne politisches Kalkül, ohne kleinen Betrug und große Attitüde. Auch hier erkennt sie – wie an der Journalistenschule – Talente und fördert sie, bringt Menschen an die richtige Stelle, knüpft Netzwerke und scheut sich nicht, den ihr Anvertrauten auch unangenehme Botschaften zu übermitteln. Taktvoll, überaus diskret.

Und deswegen ist das, was uns heute zusammenführt, ein doppelter Anlass zum Feiern und zum Gratulieren. Und ein etwas längeres P.S. als es eigentlich werden sollte. „Wie kommen die denn ausgerechnet auf mich?“ hast Du, liebe Mercedes, gefragt, als Du von der Auszeichnung hörtest.
Schön, dass sie gerade auf dich gekommen sind. Gegen alle äußeren Anzeichen, gegen die ungeschriebenen Gesetze unserer Branche, haben sie die drei Thesen vom Anfang meiner kleinen Laudatio widerlegt. Herzlichen Glückwunsch, Landeshauptstadt, zu dieser Preisträgerin. Wir alle freuen uns mit Dir, liebe Mercedes!

(Foto: BR/Ralf Wilschewski)

Petit Déjeuner Musical (74 bis): Coeur de Pirate

Messieursdames, Coeur de Pirate (Le Matos Andy Carmichael Remix)!


Coeur de pirate | Comme des enfants [LMAC remix]