Am 30. Januar wurden Dana von Suffrin und Rudi Hurzlmeier im Literaturhaus mit dem Ernst-Hoferichter-Preis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. Während Gerhard Polts Lobrede auf Rudi Hurzlmeier mit einem „Rudi…, Respekt!“ zusammenzufassen ist, war Kristof Magnussons Laudatio auf Dana von Suffrin ein elaboriertes Juwel:
Liebe Dana von Suffrin, verehrte Anwesende!
Wir sind heute hier, um
„Otto“ zu feiern, den großartigen Debutroman von Dana von Suffrin.
Das Wort „Debut“ ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig, schließlich ist das DER große Moment im Leben einer jeden Schriftstellerin und eines jeden Schriftstellers.
Zuvor hat man ja eigentlich nur vor sich hingelebt, wahrscheinlich auch schon länger vor sich hin geschrieben, doch dann kommt dieser Moment, den es in jedem Autorinnenleben nur ein Mal gibt, und ich frage mich manchmal, ob dieser Moment im deutschen Literaturbetrieb seiner Tragweite angemessen gewürdigt wird. In Island, zum Beispiel, ist es eine Zeitungsmeldung wert, wenn sich das Debut angesehener Autorinnen zum zwanzigsten oder vierzigsten Mal jährt. Da heißt es dann: „Wir gratulieren zum Schriftstellergeburtstag“.
Mein Schriftstellergeburtstag jährt sich dieses Jahr zum fünfzehnten Mal. Kurz vor Erscheinen meines ersten Romans saß ich in einem Münchener Restaurant, mit meiner Verlegerin Antje Kunstmann und ein paar anderen Leuten, darunter der britische Autor
Tim Parks. Als Tim Parks mich fragte, wer ich eigentlich sei, erzählte ich ihm stolz, dass im Kunstmann-Verlag demnächst mein erster Roman erscheine. Daraufhin fragte er:
„Und? Geht es um Familie?“
Der Inhalt meines ersten Romans tut hier nichts zur Sache, aber eins ist klar. Tim Parks hatte Recht.
„Ja, es geht um Familie“, sagte ich.
„Woher wussten Sie das?“
„In Debutromanen geht es immer um Familie“, sagte Tim Parks.
Diese These finde ich immer wieder bestätigt. Machen Sie sich mal den Spaß und achten Sie darauf. Von Thomas Manns „Buddenbrooks“ über Jonathan Franzens „Die 27ste Stadt“ bis zu „Die Straße in die Stadt“ von Natalia Ginzburg und „Vienna“ von Eva Menasse…es gibt eine erstaunliche Häufung von Familiengeschichten in ersten Büchern.
Ist ja auch irgendwie logisch. Wir alle sind von unseren Familien geprägt, diesen verschiedensten Menschen, die eine Mischung aus Liebe und Zufall zusammengewürfelt hat. Wer wünscht sich nicht, in diesen uns so nahe gehenden und letztendlich doch nie verstehbaren Flohzirkus ein bisschen Ordnung hineinzubringen, indem wir daraus eine Geschichte machen, die ordentlich zwischen zwei Buchdeckel passt?
Dana von Suffrins Debutroman ist ein Familienroman, wobei diese Familie hauptsächlich aus einem Vater besteht. Es geht um OTTO.
Auf den ersten Seiten des Buches könnte man noch glauben, es handele sich um eine Liebesgeschichte. Die Erzählerin erzählt von ihrem zweiten „Mann“, Tann, den sie kennenlernt, als sie beide im Krankenhaus alte Menschen besuchen, Tann seine Tante. Und Timna eben ihren Vater. Otto.
Doch dann drängt Otto sich mit brachialer Kraft in die Geschichte hinein und lässt sie nicht wieder los. So hinfällig er auch im Laufe seines sechsmonatigen Krankenhausaufenthalts geworden ist – seine Tochter Timna hat er im Griff, und ihre Schwester Babi ebenso.
Otto war schon immer ein Tyrann gewesen. Die Bedürfnisse anderer Leute sind ihm nicht nur egal, er scheint sie nicht einmal wahrzunehmen, selbst wenn es um seine eigenen Töchter geht.
Er hat gleich mehreren Ehefrauen das Leben zur Hölle gemacht und dann über jede einen Aktenordner angelegt, die er bei sich im Keller aufbewahrt, zusammen mit Dingen, die er auf der Arbeit geklaut hat. Wenn seine Töchter früher einmal schlechte Schulnoten mit nach Hause brachten, hat er sie als „dumm“ beschimpft, und beim Essen ist sein liebstes Gesprächsthema: sein Urin.
Und nun, wo Otto im Krankenhaus zum ersten Mal Schwäche zeigen muss, setzt er auch diese Schwäche als Waffe ein. Er betont bei jeder Gelegenheit die Wichtigkeit von Familie, wobei diese Familie natürlich in erster Linie eins ist: Er selbst.
La famille, c’est moi.
Wie ein genialer Regisseur benutzt Otto seine Hinfälligkeit, um seine Töchter nach seiner Pfeife tanzen zu lassen: Er stirbt, dann stirbt er wieder nicht, dann stirbt er wieder, dann wieder nicht. Selbst im Wachkoma scheint er seine Töchter noch vorwurfsvoll anzusehen.
Es gibt Gründe, warum Otto so ist, wie er ist. 1938 als Siebenbürger Jude in Kronstadt geboren, entkam er nur knapp der Vernichtung durch die Deutschen. Der Großteil seiner Familie hatte dieses Glück nicht.
Im kommunistischen Rumänien war Otto als Sohn einer jüdischen Unternehmerfamilie Anfeindungen ausgesetzt, nach seiner Auswanderung nach Israel kämpfte er dort gleich in VIER Kriegen. In den Sechzigerjahren geht Otto nach Deutschland und hat es auch hier alles andere als leicht. Umso wichtiger, eben: Die Familie.
Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, stehen hinter jeder Seite dieses Romans. Ottos Verfolgungs-Erfahrungen sind immer da, jahrelang hatte er eine Tasche mit den Ausweisen seiner Töchter bei sich, um vorbereitet zu sein, falls sie doch einmal deportiert würden. Ottos Traumata sind der sprichwörtliche Elefant im Wohnzimmer – und da Otto wiederum der Elefant im Wohnzimmer seiner Töchter ist, werden auch die immer wieder eingeholt von der Geschichte. SEINER Geschichte.
Wenn Timna gemütlich mit ihrem Love Interest auf dem Sofa liegt, muss Otto nur anrufen und sie springt auf und fährt ins Krankenhaus. Selbst als Timnas Schwester Babi einen Selbstmordversuch begeht und danach wochenlang in der Psychiatrie behandelt wird, nutzt sie ihre wenigen Ausgeh-Stunden, um zu Otto zu fahren, einen Menschen, der sie häufig mit „Arschloch“ anredet.
All das muss man aushalten, wenn man „Otto“ liest. Nein. Ich korrigiere mich. Das WILL man aushalten. Denn Dana von Suffrin ist es auf kaum mehr als zweihundert Seiten gelungen, mit großer Tiefe davon zu erzählen, wie Erfahrungen der Eltern in den Kindern fortwirken. Sie beschönigt nichts, nicht das Leid, das durch Nazideutschland über die Welt kam, und auch nicht die Folgen, die es haben kann, einen Egomanen zum Vater zu haben. Dennoch ist „Otto“ keine selbstmitleidig im Schmutz wühlende Anklageschrift, sondern ein großes Lesevergnügen.
Wie ist Dana von Suffrin das gelungen? Die Gründe dafür lassen sich auf allen Ebenen des Erzählens finden: In der Geschichte. In der Art, wie die Erzählerin Timna die Welt sieht. Und in der Sprache, mit der sie davon erzählt.
Dana von Suffrin verzichtet dankenswerter Weise darauf, einen klassischen Roman mit einem großen, auf einen Höhepunkt zulaufenden Bogen zu schreiben. Stattdessen erzählt sie in Episoden davon, wie Timna und ihre Schwester versuchen, sich in der Gegenwart zurechtzufinden, wie sie Ottos Pflege, ihr brüchiges Liebesleben und ihre nicht weniger brüchigen Karrieren organisieren. Und sie springt immer wieder in vergangene Jahrzehnte, in Geschichten aus ihrer Kindheit, vom Aufwachsen mit Otto und der alkoholkranken Mutter, von Urlauben im sparsamen Wohnwagen, Reisen nach Haifa zum Grab der Oma, erzählt davon wie Timna und ihre Schwester – Otto als Vorbild – anfingen zu klauen,. Und kombiniert das mit dem, was sie von Otto aus der Vergangenheit weiß: Die Migrationsgeschichte von Otto und seinen Vorfahren, aus dem Stetl in Galizien über Wien nach Siebenbürgen, nach Israel und schließlich nach München.
So wirft Dana von Suffrin, wenn Sie mir das etwas drollige Bild verzeihen, mit jeder Episode einen Dartpfeil auf den Elefanten im Wohnzimmer. Diese Dartpfeile treffen ihn nie, das wäre übererklärt. Aber sie sind so präzise geworfen, dass dessen Umrisse am Schluss des Buches erkennbar sind.
Dort heißt es:
„Meine Gedanken waren kein Monument, meine Familie war nicht bedeutend, und meine Geschichte war es nicht. Nichts davon verdiente eine Gedenkstätte. Meine Gedanken waren nur so lange da wie ich, und sie waren Gedanken des Hasses und der Liebe.“
Gedanken des Hasses und der Liebe. Ohne diese Gemengelage würde der Roman nicht funktionieren. Es gibt nicht viele Szenen, die Otto als liebevollen Vater darstellen. Und doch ist diese Liebe von Timna zu ihm da. Sonst würde man sich ja dauernd fragen, warum sie sich von ihm manipulieren lässt. Aber das, auch eine große Kunst dieses Romans, fragt man sich nie. Woher kommt also diese Liebe, die wir selbst für Familienmitglieder empfinden, die nicht gut zu uns sind?
Am Anfang des Romans heißt es dazu:
„Diese Liebe ist einfach da. Eine Liebe, die durch alle Tümpel der Lächerlichkeit watet.“
Ich spüre diese Liebe dadurch, wie Timna auf Otto mit allen seinen Fehlern sieht. Sie ist empört, wütend, ergriffen, amüsiert, doch eins tut sie nie: sie begibt sich nie in eine überlegene Position, um Otto dann, von oben herab, zu richten. Timna ist nie in der der moralischen Pole Position.
Vielmehr muss ich gestehen, dass ich irgendwann angefangen habe, diesen Otto zu bewundern. Sicher, ein schlimmer Vater. Aber der Einfallsreichtum, mit dem er alle manipuliert – das hat schon was. Und dann diese beeindruckende Beharrlichkeit, mit der er im höchsten Alter weiterhin Auto fährt mit der Begründung, er habe einen Panzerführerschein von der rumänischen Armee. Und die Hybris, mit der er sich als großer Patriarch aufspielt, obwohl er nicht einmal eine Frau hat, sondern nur, wie es im Roman heißt,
„Herr über ein Reihenhaus und zwei unglückliche Töchter ist.“
Otto lässt sich von nichts vereinnahmen, erst Recht nicht von der Realität. Und seine Töchter sind ihm in dieser Realitätsverweigerung gar nicht so unähnlich. Timna weiß ja, dass es nicht gut für sie ist, für Otto alles stehen und liegen zu lassen. Aber sie tut es trotzdem, sie folgt dem alten Familienprogramm mit derselben Beharrlichkeit, mit der Otto durch sein Leben gegangen ist.
Doch machtlos ausgeliefert ist sie dieser Dynamik nicht, denn sie kann davon erzählen!
Wenn Timna beschreibt, wie Otto sie und ihre Schwester am Telefon tyrannisiert, erzählt sie auch die Geschichte, wie er immer wieder aus Versehen den ADAC anruft, weil der im Telefonbuch seines Handys direkt über ihrer Schwester Babi steht.
Und in der extrem belastenden Situation, als Otto zu Hause allein nicht mehr zurechtkommt, zelebriert sie geradezu den Moment, in dem sie verzweifelt Ottos alte Siebenbürger Freunde auf der Suche nach einer Pflegekraft um Hilfe bittet:
„Binnen zwei Stunden formierte sich ein Bataillon aus duftenden alten Herren mit pomadisierten welligen Haaren, das wie im Wahn Wählschreiben drehte und auf Faxgeräten herumdrückte, das in Telefonhörer sprach, altmodische Vornamen und endlos lange Telefonnummern aufschrieb und sich erst wieder zu einem Gläschen Bier niedersetzte, als es erfolgreich gewesen war.“
Von der, Timnas Kindheit schwer beschädigenden Alkoholkrankheit der Mutter erfahren wir quasi nebenbei. Timna beschreibt eigentlich den Geruch ihres Freundes Tann, der viel Parfüm benutzt, und mitten in dieser Beschreibung kommt auf einmal, IN KLAMMERN folgendes:
„(Das erinnerte mich ein bisschen an meine Mutter, die, wie fast alle Alkoholikerinnen, nach Shalimar, Spirituosen und Zigarettenrauch gerochen hatte.)“
Und wenn Timna von der größten Katastrophe erzählt, klingt das so:
„Dann kamen die Jahre nach 1941, in denen Gott nahm und die Juden wie Gänseblümchen von der Erdoberfläche pflückte. Fast alle unsere Verwandten kamen um, denn sie blieben in Ungarn zurück. (Die Grenze zwischen Rumänien und Ungarn war im Norden, heute gibt es dort kein Rumänien mehr, sondern Ukraine und Ruthenien und Weißderteufelwas, sagte mein Vater, Länder, von denen wir Schwestern nur dank des Eurovision Song Contest eine Vorstellung hatten.)“
Wer erzählt, hat die Wahl, kann sich von den Problemen seiner Figuren überwältigen lassen oder eben nicht. Timna tut das nicht. Sie holt sich durch die Wahl ihrer Worte die Souveränität zurück. Ihr Erzählen ist ein dauerhafter Akt der Selbstermächtigung. Dadurch entfaltet diese Prosa ihre enorme Kraft.
Und daher rührt auch der Humor dieses Buches. Es ist kein Humor der Pointenfrequenz. Kein parodistisches Zerrbild eines „alten Sacks“, sondern ein Humor, der sich einlässt auf die Beschädigungen dieser Welt und ihrer Menschen.
„Wir waren eine Familie von Negativisten, wie mein Vater sagt. Wenn ich in ein Flugzeug stieg, schaltete mein Vater viertelstündlich zum Videotext, um zu überprüfen, ob ich schon abgestürzt war. Kurze und kürzeste Verspätungen konnten wir uns nur damit erklären, dass jemand überfahren oder ausgeraubt worden war. Wenn wir einen Krankenwagen hörten, scharrten wir nervös mit den Füßen, denn sicherlich brannte gerade unser Wohnhaus; wenn der Sanka in die entgegengesetzte Richtung fuhr, dann hatte er sich eben verfahren; kein Grund ruhig zu bleiben.“
Und es ist ein Humor, der sich immer wieder mit Schwermut mischt, wie zum Beispiel bei der Beschreibung von Ottos ungarischer Pflegerin Valli:
„Valli trug in ihren Turnschuhen sehr bunte, weiche Socken aus reinem Polyester und hatte ein großes, merkwürdiges Gesicht: Augen, Augenbrauen und Mund waren ein wenig nach innen gerutscht und nahe an die Nase herangerückt, so blieb eine flächige hohe Stirn, die Valli das Aussehen einer mittelalterlichen Madonna verlieh, nur noch trauriger.“
Valli wird im Laufe ihres Aufenthalts bei Otto immer dicker. Darüber heißt es:
„Einerseits tat uns Vallis Übergewicht sehr leid, andererseits ging es uns hier wie mit den meisten Dingen des Lebens: Wir fanden die Entwicklung von Vallis Körper unendlich traurig und gleichzeitig sensationell komisch und beobachteten verzückt, wie sie sich kiloweise gebratene Geflügelschenkel in den Rachen stopfte, als sei sie ein Vogel, der sein Küken füttert, nur war sie gleichzeitig der Vogel und das Küken.“
„Unendlich traurig und gleichzeitig sensationell komisch.“ So ist „Otto“ von Dana von Suffrin. Ein Buch darüber, wie wenig die Vergangenheit vergangen ist, weil sie in unseren Familien weiterlebt. Oder, um ein letztes Mal aus dem Buch zu zitieren:
„Wir bleiben Kinder von Kindern.“
Darin liegt eine immense Tragik. Idealerweise sollten wir Menschen nicht so sein. Doch dann kommt zum Glück das Komische und zeigt uns, wie wir als die Menschen leben können, die wir nun einmal sind.
„Kinder von Kindern.“
Am Schluss des Buches ist Otto tot. Wir haben einen weiteren Zeitzeugen verloren aus der Zeit, die bis heute – ich hoffe, Sie finden das jetzt nicht anmaßend – der Elefant in unser aller Wohnzimmer ist, auf mehr oder weniger traumatisierende Weise. Einige Jahre noch, dann wird kein Zeitzeuge mehr da sein. Doch das Erzählen geht weiter, denn zum Glück gibt es die Literatur. Zum Glück gibt es solche Literatur wie „Otto“ von Dana von Suffrin.
Das wollen wir heute feiern. Liebe Dana, ich gratuliere Dir von ganzem Herzen zu diesem Buch und zum Ernst-Hoferichter-Preis 2020.
(Foto von Dana von Suffrin mit Kulturreferent Anton Biebl und Laudator Kristof Magnusson: Amrei-Marie)