Er war der Fescheste und am besten Vernetzte, damals, als Verleger noch ein Reich hatten, über das sie autokratisch herrschen konnten, und Edelfedern wie Husaren in die Schlacht um Auflagen und Sensationen zogen. Während ein Kardinal Richelieu nur an einem Hof die Strippen zog, war Josef von Ferenczy die allgegenwärtige Eminenz, die zwischen vielen Verlagshäusern, Redaktionen und Autoren vermittelte. Ein ganz großer Münchner, wunderbar von Fritz Muliar als Medienmanager Gregori Wiener in „Kir Royal“ dargestellt.
Und von einem unbarmherzigen Schicksal gebeutelt, wie es selbst den ganz Großen widerfährt. Beide Söhne tragisch früh verstorben, alle Besitztümer passé, der Einfluß verschwunden, in den Zeitungen von gestern im Rollstuhl, am Grab seiner Frau trauernd zu sehen. In seinem Grünwalder, längst verkauften Heim nur noch bis zum Frühjahr geduldet. Seine letzten Besitztümer am 2. Dezember bei Neumeister meistbietend zu ersteigern. Aber selbst im Schmerz immer noch ganz groß. Ein paar Jahrzehnte früher hätte er ein Schicksal wie seines als Fortsetzungsgeschichte an die „Quick“ verhökert.
Für das Oktober-Heft der „w&v Society“ hat Lisa Priller-Gebhardt die Medienlegende besucht, die heute „zu viel Zeit und zu wenig Zuhörer hat“ und den 91-Jährigen liebevoll porträtiert, seinen Aufstieg, der ebenso beispiellos war wie sein Abstieg. Heute ist selbst sein Telefon oft gesperrt, wenn er die Rechnung nicht zahlen kann.
Update: Wie die „BILD“ meldete, ist Josef von Ferenczy am 29. Mai gestorben. Die Bayerische Staatsregierung würdigte seine Lebensleistung.
Beate Wedekinds Porträt zum 90.
Donnerstag, 7. Oktober 2010
Mittwoch, 6. Oktober 2010
Die schöne neue Welt des Bayerischen Rundfunks
Wenn Ulrich Wilhelm am 1. Februar als Intendant des Bayerischen Rundfunk antritt, wird zumindest die Fernsehabteilung des BR nicht unbedingt mehr ganz dieselbe sein, sondern vielleicht großstädtischer, multikultureller, ja Berlinerischer.
Nicht daß die Münchner Programmdirektion nicht schon früher ihre Meriten mit „Türkisch für Anfänger“ im Ersten erworben hätte oder mit dem „Türkisch-bayerisch Kochen für Anfänger“ im III. Programm. Doch dieses Mal geht es um mehr als nur ein paar bunte Tupfer im Sendeplan, diesmal geht's ums Ganze. Um „EIN Fernsehprogramm für alle, bei jedem kulturellen Hintergrund, durch alle Genres, für jede Altersgruppe.“ Es geht um „Migranten/Migrantinnen in Deutschland und ihr Zugang zum deutschen Fernsehprogramm“, um das „Projekt einer Kundenbeteiligung“. Es geht um ein Zukunftsmodell für den Bayerischen Rundfunk.
Gerhard Engel, ehemaliger Präsident des Bayerischen Jugendrings und in dieser Funktion auch Rundfunkrat, hat von Andreas Bönte, dem Leiter des Programmbereichs Planung und Entwicklung, den Auftrag erhalten, diese Kundenbefragung durchzuführen. Und wer nun darauf wartet, daß die Ergebnisse dieser Studie der Öffentlichkeit präsentiert werden, kann lange warten, handelt es sich doch um eine interne Maßnahme zur Programmverbesserung.
Als der Münchner Ausländerbeirat diesen Montag aber im Rathaus über „Integration durch Medien“ diskutieren ließ, präsentierte Engel unter dem Fazit „Fernsehen kann und muß zur Integration von Zuwanderern beitragen“ in einem Impulsreferat einige Details seiner Zukunftswerkstatt. In Aschaffenburg, Bayreuth, Cham, Günzburg, München und Nürnberg setzte er sich mit jeweils ca. 60 Männer und Frauen aus 20 bis 30 Ländern zusammen. Im ersten Schritt sollten die Fernsehzuschauer das Programm bewerten, in einem Brainstorming dann entwerfen, wie ein Bayerisches Fernsehprogramm ihrer Wahl aussehen könnte und abschließend mit einem Vertreter der Fernsehdirektion über die tatsächliche Umsetzung diskutieren.
Während diese Peergroups die „Münchner Runde“ beispielsweise zu staatstragend fanden, gefielen die „Rundschau“, „Quer“ und „Dahoam is dahoam“. Letzteres wohl nicht uneingeschränkt, denn die Migranten können zwar deutsch, aber nicht unbedingt bayerisch. Deutsche Untertitel für dialektgefärbte Sendungen war daher ein Vorschlag beim Brainstorming.
Nicht nur Bayerisch kann zum Problem werden. „Ich mußte Englisch lernen, um das deutsche Fernsehen zu verstehen“, beklagte sich eine 58-Jährige aus Sibirien und ermunterte: „Pflegt die deutsche Sprache und Tradition. Heimat ist das Wertvollste, das es gibt.“
Sie solle positiv präsentiert werden, ob nun die deutsche (Wahl-)Heimat oder die Heimat, aus der man stammt, überhaupt wollten die Befragten ihre Lebenswirklichkeit als Menschen mit Migrationshintergrund grundsätzlich nicht nur problemorientiert präsentiert sehen. „Stellt Migranten auch positiv dar, zeigt diejenigen, die's geschafft haben, das Zusammenleben im Viertel, in den Vereinen“.
So registrierte Engel in den Gruppen eine starke Sehnsucht nach Harmonie, Normalität und Schönheit, nach „lockerem und fröhlichen“ Fernsehen. Klingt nach einer schönen neuen Welt, die dem Bayerischen Fernsehen aber längst alles andere als fremd ist.
(Foto: „Türkisch-bayerisch Kochen für Anfänger“, Megaherz/BR)
Nicht daß die Münchner Programmdirektion nicht schon früher ihre Meriten mit „Türkisch für Anfänger“ im Ersten erworben hätte oder mit dem „Türkisch-bayerisch Kochen für Anfänger“ im III. Programm. Doch dieses Mal geht es um mehr als nur ein paar bunte Tupfer im Sendeplan, diesmal geht's ums Ganze. Um „EIN Fernsehprogramm für alle, bei jedem kulturellen Hintergrund, durch alle Genres, für jede Altersgruppe.“ Es geht um „Migranten/Migrantinnen in Deutschland und ihr Zugang zum deutschen Fernsehprogramm“, um das „Projekt einer Kundenbeteiligung“. Es geht um ein Zukunftsmodell für den Bayerischen Rundfunk.
Gerhard Engel, ehemaliger Präsident des Bayerischen Jugendrings und in dieser Funktion auch Rundfunkrat, hat von Andreas Bönte, dem Leiter des Programmbereichs Planung und Entwicklung, den Auftrag erhalten, diese Kundenbefragung durchzuführen. Und wer nun darauf wartet, daß die Ergebnisse dieser Studie der Öffentlichkeit präsentiert werden, kann lange warten, handelt es sich doch um eine interne Maßnahme zur Programmverbesserung.
Als der Münchner Ausländerbeirat diesen Montag aber im Rathaus über „Integration durch Medien“ diskutieren ließ, präsentierte Engel unter dem Fazit „Fernsehen kann und muß zur Integration von Zuwanderern beitragen“ in einem Impulsreferat einige Details seiner Zukunftswerkstatt. In Aschaffenburg, Bayreuth, Cham, Günzburg, München und Nürnberg setzte er sich mit jeweils ca. 60 Männer und Frauen aus 20 bis 30 Ländern zusammen. Im ersten Schritt sollten die Fernsehzuschauer das Programm bewerten, in einem Brainstorming dann entwerfen, wie ein Bayerisches Fernsehprogramm ihrer Wahl aussehen könnte und abschließend mit einem Vertreter der Fernsehdirektion über die tatsächliche Umsetzung diskutieren.
Während diese Peergroups die „Münchner Runde“ beispielsweise zu staatstragend fanden, gefielen die „Rundschau“, „Quer“ und „Dahoam is dahoam“. Letzteres wohl nicht uneingeschränkt, denn die Migranten können zwar deutsch, aber nicht unbedingt bayerisch. Deutsche Untertitel für dialektgefärbte Sendungen war daher ein Vorschlag beim Brainstorming.
Nicht nur Bayerisch kann zum Problem werden. „Ich mußte Englisch lernen, um das deutsche Fernsehen zu verstehen“, beklagte sich eine 58-Jährige aus Sibirien und ermunterte: „Pflegt die deutsche Sprache und Tradition. Heimat ist das Wertvollste, das es gibt.“
Sie solle positiv präsentiert werden, ob nun die deutsche (Wahl-)Heimat oder die Heimat, aus der man stammt, überhaupt wollten die Befragten ihre Lebenswirklichkeit als Menschen mit Migrationshintergrund grundsätzlich nicht nur problemorientiert präsentiert sehen. „Stellt Migranten auch positiv dar, zeigt diejenigen, die's geschafft haben, das Zusammenleben im Viertel, in den Vereinen“.
So registrierte Engel in den Gruppen eine starke Sehnsucht nach Harmonie, Normalität und Schönheit, nach „lockerem und fröhlichen“ Fernsehen. Klingt nach einer schönen neuen Welt, die dem Bayerischen Fernsehen aber längst alles andere als fremd ist.
(Foto: „Türkisch-bayerisch Kochen für Anfänger“, Megaherz/BR)
Mode & Sicherheit
oder: die Kleiderordnung der Stabi
Die Gefahr ist auf den ersten Blick zu erkennen. Bis in die frühen achtziger Jahre hing an Diskothekeneingängen oft der Hinweis, daß man in Lederjacken keinen Einlaß fände.
Heutzutage wird man in dem Outfit nicht mehr als prügelnder Halbstarker abgekanzelt, sondern als Bücherdieb. Denn die Türsteher residieren jetzt am Lesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek und sie lassen keinen in Lederjacken hinein. Sakkos? Ja. Sackartige Pullis? Ja. Ausladenden Strickjacken? Ja. Hoodies? Ja. Lederjacken? Nein.
Tatsachenentscheidungen nennt das die Hausordnung, und wie beim Fußball ist das so eine Sache mit den Tatsachenentscheidungen. Denn neben Mänteln und Anoraks sind eben auch „Jacken, die überwiegend im Freien getragen werden“, im Lesesaal untersagt, was der Interpretation freies Spiel läßt. Nur bei Lederjacken nicht. Die kommen nicht rein.
Bei Computern etwa ist selbst eine Staatsbibliothek großzügiger oder einfach in der Gegenwart angekommen, denn laut Benützungsordnung der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken (ABOB) bedarf in den Lesesälen „die Verwendung von technischen Geräten, wie Schreibmaschine, Computer oder Diktiergerät, der besonderen Genehmigung durch die Bibliothek“ – stört aber kein Schwein, sind ja auch keine Lederjacken.
Der Türsteher läßt sich auf gar keine Diskussion ein, sondern läßt sich ob meiner Kritik den Stabi-Ausweis zeigen und notiert sich meine Ausweisnummer. Darf er ja, trägt ja schließlich Uniform.
Der Pressesprecher Peter Schnitzlein, natürlich im Anzug, nennt Sicherheitsbedenken als Grund, die Angst vor dem Bücherklau, läßt sich dann aber auch nicht weiter auf die durchaus spannende Frage ein, ob so ein Foliant nicht eher unter einen Winterpulli paßt, denn in eine eng geschnittene Lederjacke. Von den Möglichkeiten meinesTweetTweedsakkos daheim gar nicht zu sprechen.
Irgendwo muß ich doch noch eine lederne Bettjacke aus meiner Fetischphase haben, definitiv nicht fürs Freie geeignet, einen Versuch wäre es wert, ist doch die Stabi auch als Kontaktbörse und erotischer Laufsteg bekannt.
(Foto: digital cat/flickr)
Heutzutage wird man in dem Outfit nicht mehr als prügelnder Halbstarker abgekanzelt, sondern als Bücherdieb. Denn die Türsteher residieren jetzt am Lesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek und sie lassen keinen in Lederjacken hinein. Sakkos? Ja. Sackartige Pullis? Ja. Ausladenden Strickjacken? Ja. Hoodies? Ja. Lederjacken? Nein.
Tatsachenentscheidungen nennt das die Hausordnung, und wie beim Fußball ist das so eine Sache mit den Tatsachenentscheidungen. Denn neben Mänteln und Anoraks sind eben auch „Jacken, die überwiegend im Freien getragen werden“, im Lesesaal untersagt, was der Interpretation freies Spiel läßt. Nur bei Lederjacken nicht. Die kommen nicht rein.
Bei Computern etwa ist selbst eine Staatsbibliothek großzügiger oder einfach in der Gegenwart angekommen, denn laut Benützungsordnung der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken (ABOB) bedarf in den Lesesälen „die Verwendung von technischen Geräten, wie Schreibmaschine, Computer oder Diktiergerät, der besonderen Genehmigung durch die Bibliothek“ – stört aber kein Schwein, sind ja auch keine Lederjacken.
Der Türsteher läßt sich auf gar keine Diskussion ein, sondern läßt sich ob meiner Kritik den Stabi-Ausweis zeigen und notiert sich meine Ausweisnummer. Darf er ja, trägt ja schließlich Uniform.
Der Pressesprecher Peter Schnitzlein, natürlich im Anzug, nennt Sicherheitsbedenken als Grund, die Angst vor dem Bücherklau, läßt sich dann aber auch nicht weiter auf die durchaus spannende Frage ein, ob so ein Foliant nicht eher unter einen Winterpulli paßt, denn in eine eng geschnittene Lederjacke. Von den Möglichkeiten meines
Irgendwo muß ich doch noch eine lederne Bettjacke aus meiner Fetischphase haben, definitiv nicht fürs Freie geeignet, einen Versuch wäre es wert, ist doch die Stabi auch als Kontaktbörse und erotischer Laufsteg bekannt.
(Foto: digital cat/flickr)
Samstag, 2. Oktober 2010
Wochenplan
Wiesnfinale, Podiumsdiskussion „Integration durch Medien“ mit Sabine Schiffer (Institut für Medienverantwortung), Eleni Iliadou (BR) Georg Thanscheidt („Abendzeitung“), Rahmi Turan („Sabah“), Nihat Yildirim („Türkiye Gazetesi“) und Serkan Önder („Türkiye Gazetesi“) / Großer Sitzungssaal des Rathauses, „24“ – die 8. Staffel / Kabel 1, „Art Cars“ / BMW-Museum, Pressevorführungen „Gainsbourg“, „Machete“ und „Fair Game“, Vernissage „typisch! Klischees von Juden und Anderen“ / Jüdisches Museum, Vernissage „Urban Jungle“ / Lumas, Opening Reception Jake & Dinos Chapman / Galerie Daniel Blau, mein Cameo-Auftritt am roten Teppich der „Popstars“ / Pro Sieben, Barcamp München, DJV-Tagung Besser Online / Bayerischer Rundfunk (mit mir als Koreferent zum Thema „Wie können sich Journalisten als Marke positionieren – ob mit Twitter, Facebook oder WordPress?“), DJV-Kongreß Prosa trifft Pixel / Hochschule Magdeburg-Stendal, München-Premiere von Patrick Banushs „Die Liebe und Viktor“ / Valentinstüberl
Freitag, 1. Oktober 2010
Wenn Eunuchen von Sex labern – Klaus Lemke und sein Hamburger Manifest
Neben manchen Torries und Liberalen ist Klaus Lemke wahrscheinlich der einzige, der die Auflösung des britischen Film Councils gut heißt, obwohl es genau jene kleinen, schmutzigen Filme förderte, die Lemke selbst zu machen nur vorgibt. Aber nun gut, „Film muss noch nicht mal gut sein“, konstatiert Lemke in seinem Hamburger Manifest, das dieser Tage für Aufsehen sorgte beziehungsweise von der „Süddeutschen Zeitung“ für unterhaltsam erklärt wurde. Die darin angegriffene deutschen Filmförderungsgremien wollten sich zu Lemkes Pöbeleien offenbar mit einer Ausnahme nicht äußern, weshalb der Münchner Studentensender m94,5 auch mich um ein Statement bat, nachdem ich mich offenbar unlängst als Lemke-Experte etabliert habe. Hier Brit Ullrichs Beitrag:
Dienstag, 28. September 2010
Störfall Liebe – „Der alte Affe Angst“ von Oskar Roehler
Manchmal muß man abgrundtief durch den Dreck waten, um Schönheit erkennen zu können. Manchmal muß die Pille bitter schmecken, die uns heilen soll. Manchmal wirkt eine Beziehung wie der blanke Haß. Und wenn in Oskar Roehlers Liebesdrama von der ersten Einstellung an mit Worten kartätscht und Blicken füsiliert worden ist, liegt das Schlimmste noch längst nicht hinter uns.
Der Drehbuchautor und Regisseur erspart seinem Zuschauer nichts: Krebs und AIDS. Koks und Chemotherapie. Suizid- und andere Fluchtreflexe. Und als ob der selbst erfahrene eigene Schmerz nicht ausreichen würde, spiegeln die Menschen auch noch die Verletzungen ihrer Eltern wider. Die Kadenzen des Unglücks schwillen hier zu einem steten Grundrauschen an.
„Der alte Affe Angst“ ist physisches Kino, bei dem man das Parfüm des Betrugs zu riechen meint, den Tod zu fassen, die Angst zu schmecken. Und zwischendurch dann auch das kleine Glück. Denn Robert (André Hennicke) und Marie (Marie Bäumer) lieben sich. Wirklich, vorbehaltlos, intensiv, bis hin zur Selbstverleugnung. In kleinen, unschuldigen, so gut beobachteten wie selten gezeigten Gesten zeigt uns Roehler dieses Urvertrauen, bei dem beide, neugierigen Kindern gleich, sich gegenseitig bespucken, miteinander balancieren, einander zum Würgen bringen und selbst in einem Pups noch Verbundenheit finden.
Viel mehr passiert aber auch nicht mehr zwischen den Bettlaken, denn Robert liebt Marie so sehr, daß er nicht mehr mit ihr schläft, weil all seine früheren Beziehungen in einem ekstatischen halben Jahr verglüht sind. Er war stets ganz der hemmungslose Künstler, der Beziehungen nur als einen Rausch aus Sex und Eifersucht kennt, der jede kreative Arbeit unmöglich macht, aber dann auch schnell wieder verfliegt. Diesmal will der Dramatiker die Liebe bewahren, indem er sie sich aufspart.
Als ob er die Leidenschaft wie eines seiner Bühnenwerke beherrschen und kühl inszenieren könnte, glaubt er, Marie nur dauerhaft begehren zu können, indem er seine Liebe zu ihr nicht verspritzt. Und Marie, die Kinderärztin, reagiert auf Roberts Impotenz mit dem Beziehungsarsenal der aufgeklärten Akademikerin: Rollenspiele, scharfe Wäsche und der gemeinsame Besuch beim Therapeuten (Christoph Waltz).
Den Sex lebt Robert heimlich andernorts aus, mit Prostituierten. Hinter Maries Rücken, die erst durch einen blutigen Zufall davon erfährt. Ein Zwischenfall, den Roehler so fulminant arrangiert, daß der Zuschauer mit seinen Protagonisten ins Bodenlose stürzt und vollends dem Wirbel dieses Berliner Dramas erliegt.
In der Provinz der Elterngeneration ist man keineswegs glücklicher: Roberts Vater Klaus (Vadim Glowna), ein Schriftsteller, der seinen Sohn lange verleugnet hat, zelebriert Familienwerte nur als Romanstoff und will bis zuletzt, ganz Egoist, keine Last tragen und niemandem zur Last fallen. Er arbeitet an einem „Solaris“-Stoff, schreibt von einem „Ozean des Erinnerns, wo nichts stört“. Unfähig diesen Störfall Liebe selbstlos zu akzeptieren.
Maries Eltern, ein Brandenburger Pastorenpaar, strahlen jene vorwurfsvolle Kälte von Gutmenschen aus, die nicht nur Kinder in den Selbstmord treiben kann. Roehlers Geniestreich besteht darin, zu sehen, ohne zu verurteilen, und all diese Fehler und Charakterschwächen hinzunehmen, ja dafür sogar Zuneigung zu entwickeln.
Mutvoll sprunghaft in seinem Erzählfluß, scheinbar unentschlossen zwischen Cinemascope und Videoästhetik wechselnd, sehr persönlich, auch wenn er alles Autobiografische abstreitet, zieht Oskar Roehler uns – wie schon bei „Die Unberührbare“ oder „Suck my dick“ – in eine vor Kälte klirrende Konsumwelt der Beziehungen hinein, nur daß sein Film diesmal, dann natürlich außerhalb Berlins, eine unerwartete Wende zur sommerlichen Pastorale nimmt. Sehenden Auges, im Angesicht allen Leids, aber nicht ohne Hoffnung. Der Winter ist vorbei.
Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 9/2003
(Foto: BR/Marco Meenen)
Der Drehbuchautor und Regisseur erspart seinem Zuschauer nichts: Krebs und AIDS. Koks und Chemotherapie. Suizid- und andere Fluchtreflexe. Und als ob der selbst erfahrene eigene Schmerz nicht ausreichen würde, spiegeln die Menschen auch noch die Verletzungen ihrer Eltern wider. Die Kadenzen des Unglücks schwillen hier zu einem steten Grundrauschen an.
„Der alte Affe Angst“ ist physisches Kino, bei dem man das Parfüm des Betrugs zu riechen meint, den Tod zu fassen, die Angst zu schmecken. Und zwischendurch dann auch das kleine Glück. Denn Robert (André Hennicke) und Marie (Marie Bäumer) lieben sich. Wirklich, vorbehaltlos, intensiv, bis hin zur Selbstverleugnung. In kleinen, unschuldigen, so gut beobachteten wie selten gezeigten Gesten zeigt uns Roehler dieses Urvertrauen, bei dem beide, neugierigen Kindern gleich, sich gegenseitig bespucken, miteinander balancieren, einander zum Würgen bringen und selbst in einem Pups noch Verbundenheit finden.
Viel mehr passiert aber auch nicht mehr zwischen den Bettlaken, denn Robert liebt Marie so sehr, daß er nicht mehr mit ihr schläft, weil all seine früheren Beziehungen in einem ekstatischen halben Jahr verglüht sind. Er war stets ganz der hemmungslose Künstler, der Beziehungen nur als einen Rausch aus Sex und Eifersucht kennt, der jede kreative Arbeit unmöglich macht, aber dann auch schnell wieder verfliegt. Diesmal will der Dramatiker die Liebe bewahren, indem er sie sich aufspart.
Als ob er die Leidenschaft wie eines seiner Bühnenwerke beherrschen und kühl inszenieren könnte, glaubt er, Marie nur dauerhaft begehren zu können, indem er seine Liebe zu ihr nicht verspritzt. Und Marie, die Kinderärztin, reagiert auf Roberts Impotenz mit dem Beziehungsarsenal der aufgeklärten Akademikerin: Rollenspiele, scharfe Wäsche und der gemeinsame Besuch beim Therapeuten (Christoph Waltz).
Den Sex lebt Robert heimlich andernorts aus, mit Prostituierten. Hinter Maries Rücken, die erst durch einen blutigen Zufall davon erfährt. Ein Zwischenfall, den Roehler so fulminant arrangiert, daß der Zuschauer mit seinen Protagonisten ins Bodenlose stürzt und vollends dem Wirbel dieses Berliner Dramas erliegt.
In der Provinz der Elterngeneration ist man keineswegs glücklicher: Roberts Vater Klaus (Vadim Glowna), ein Schriftsteller, der seinen Sohn lange verleugnet hat, zelebriert Familienwerte nur als Romanstoff und will bis zuletzt, ganz Egoist, keine Last tragen und niemandem zur Last fallen. Er arbeitet an einem „Solaris“-Stoff, schreibt von einem „Ozean des Erinnerns, wo nichts stört“. Unfähig diesen Störfall Liebe selbstlos zu akzeptieren.
Maries Eltern, ein Brandenburger Pastorenpaar, strahlen jene vorwurfsvolle Kälte von Gutmenschen aus, die nicht nur Kinder in den Selbstmord treiben kann. Roehlers Geniestreich besteht darin, zu sehen, ohne zu verurteilen, und all diese Fehler und Charakterschwächen hinzunehmen, ja dafür sogar Zuneigung zu entwickeln.
Mutvoll sprunghaft in seinem Erzählfluß, scheinbar unentschlossen zwischen Cinemascope und Videoästhetik wechselnd, sehr persönlich, auch wenn er alles Autobiografische abstreitet, zieht Oskar Roehler uns – wie schon bei „Die Unberührbare“ oder „Suck my dick“ – in eine vor Kälte klirrende Konsumwelt der Beziehungen hinein, nur daß sein Film diesmal, dann natürlich außerhalb Berlins, eine unerwartete Wende zur sommerlichen Pastorale nimmt. Sehenden Auges, im Angesicht allen Leids, aber nicht ohne Hoffnung. Der Winter ist vorbei.
Diese Filmkritik erschien zuerst im „In München“ 9/2003
(Foto: BR/Marco Meenen)
Montag, 27. September 2010
Samstag, 25. September 2010
Wochenplan
Twiesn / Augustiner, Schauspielerempfang der Landeshauptstadt München / Altes Rathaus, Multimediale Kommunikation in internationalen Märkten, Bewegtbild in der Kommunikation / Presseclub, Energy Slam / LMU, Pressevorführung „Von Menschen und Göttern“, Wiesn
„The Social Network“:
„Ich bin Unternehmer“ – „Du bist arbeitslos“
Justin Timberlake als Napster-Gründer Sean Parker in David Finchers „The social network“. Natürlich steht im Film Mark Zuckerberg im Mittelpunkt, ist aber bei weitem nicht so sexy wie Parker. Wobei Fincher („Se7en“, „Fight Club“, „The Game“) Facebook-Gründer Zuckerberg als Citizen Kane des 21. Jahrhunderts feiert, und Facebook selbst – anders als sein Obernerd – so sexy rüberkommt, daß sich jeder Zuschauer gleich nach dem Kino sofort anmelden wird, so er nicht schon längst dabei war.
Sonntag, 19. September 2010
Wochenplan
Wiesn, Social Media Club: „Corporate Transparency" / MOCCAR – Pompidou, Pressevorführung „Vergißmichnicht“, ZDF-Präsentation „100 % Leben“ / Deutsche Journalistenschule, Vernissage Al Taylor / Pinakothek der Moderne, Niederländische Filmreihe: „Duska“ / Gasteig, Vernissage Tobias Madison mit einer Liveperformance der japanischen Taiko-Gruppe Waruko- kai Shou / Kunstverein, Palm / Käferschänke, „Bluebeard's Eighth Wive“ / Filmmuseum, Ballettgala Junghanns / Stadthalle Germering
Samstag, 18. September 2010
Zum 200-Jährigen: Viva Mexiko!
Träge gleiten wir den kandierten Äpfeln entgegen. Von halb links kündigt sich mit blechernen Fanfaren eine Mariachi-Kapelle an, während rechts Blumen- und Spielwarenhändler auf und ab tanzen, bis sich eine kleine Garküche halsbrecherisch zwischen sie drängt und uns fast rammt. Alles fließt. Doch trotz meines Jetlags vom zwölfstündigen Flug nach Mexiko-Stadt halluziniere ich nicht etwa, sondern gondle auf einem bunt geschmückten Boot durch das kilometerlange Kanalgeflecht der Schwimmenden Gärten von Xochimilco. Während auf dem kleinen Kahn ein Picknick aus Hühnchen in schwarzer Schokoladensoße, gerösteten Schweineschwarten und mariniertem Kaktussalat mit frischem Koriander serviert wird, begegnen wir Hunderten von Barken mit Musikern, Händlern und einheimischen Ausflüglern – eine einzige Regatta der Sinnenfreuden.
Denn ich habe den Urlaub entspannt angepackt, die Reiseführer liegen lassen und mich auf eine organisierte Studienfahrt ins Reich der Azteken und Maya begeben: Ferien aus der prall gefüllten Wundertüte. Nur die groben Umrisse des Überraschungspaketes ließen sich erahnen: die Stufenpyramiden von Palenque und die Tempelanlagen von Teotihuacán, die Indiodörfer in Chiapas und zum Einstieg eben Mexiko-Stadt.
Wie Mexiko überhaupt aus dem Zusammenprall zwischen Indianern und spanischen Conquistadoren entstanden ist, zeigen Diego Riveras monumentale Fresken im Nationalpalast. Von 1926 bis 1945 hat der Künstler auf 450 Quadratmetern Aztekenherrscher und spanische Eroberer, Machos und Freiheitskämpfer, Maisbauern und Kautschuksammler, Pfaffen und eine indianische Liebesgöttin (mit den Gesichtszügen von seiner Ehefrau Frida Kahlo) in ihren Lebenswelten porträtiert. Ein farbenprächtiges Historienbild, zumal hier und heute auch noch vor dem Palasttor Nachfahren der Azteken in ihren traditionellen Kostümen tanzen, als wären sie eben diesen Wandgemälden entsprungen. Reine Touristenshow? Eher nicht, denn – wie nahezu überall in der Hauptstadt – ausländische Touristen sind rar. Um uns herum lauter Einheimische, die der Folkloregruppe zuschauen, beim Straßenhändler Tortillas aus blauem Mais naschen oder Schlange stehen, um sich von einem Schamanen ihre katholische Seele reinigen zu lassen. Jahrmarktstimmung scheint hier alltäglich zu sein, und wir lassen uns gern von ihr einfangen.
Natürlich ist Mathias, unser Reiseleiter, in Kultur und Geschichte bewandert, aber uns begeistert ebenso, dass er auch Mexikos beste Konditorei kennt. Bis spätabends verkauft die „Pastelería Ideal“ in der Ave. 16 de Septiembre Feingebäck und Kuchen. Die bis zu 90 Kilo schweren, mehrstöckigen Torten sind schon recht unhandlich. Aber ein kleiner Flan mit Früchten ist die perfekte Stärkung, denn wir wollen anschließend im Alameda-Park noch mitfeiern, wenn mehrere Kapellen lautstark um ihr tanzendes Publikum wetteifern.
Zu spät darf es nicht werden, denn am nächsten Morgen geht es in aller Herrgottsfrühe ins Anthropologische Museum, der nationalen Schatzkammer vorkolonialer Kunst. Jade-Mosaiken und Alabasterfiguren, Türkismasken und Perlmuttarbeiten, aus Muscheln geknüpfte Rüstungen und prachtvolle Federkronen, Kalendersteine und Kolossalfiguren zeigen die Vielfalt bekannter indianischer Kulturen wie die der Mixteken, Maya oder Azteken und der bis heute unbekannten wie namenlosen Erbauer der Tempelstadt Teotihuacán. Als wir später 50 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt auf der über 60 Meter hohen Sonnenpyramide von Teotihuacán stehen und die kilometerweite Monumentalanlage mit ihren Stufenbauten, Tempeln und der Zitadelle überblicken, verstehe ich, dass für die Azteken nur Riesen oder Götter als Baumeister in Frage kamen.
Einige Stämme halten ihre jahrtausendealte Tradition bis jetzt am Leben. Mit dem Flugzeug reisen wir 1000 Kilometer in Mexikos südlichsten Bundesstaat Chiapas, ein Zentrum der Maya-Kultur, wo heute noch zwölf Maya-Sprachen in Gebrauch sind und jedes Dorf seine eigene Tracht pflegt. Einer bunten Auswahl von ihnen begegnen wir bereits auf dem Indiomarkt von San Cristóbal de las Casas. In dem Gewirr der Marktstände reißt unsere zwölfköpfige Reisegruppe rasch auseinander. Ich bleibe bei den kitschigen Votivkerzen hängen, während Ditmar auf der Suche nach der regionalen Kaffeespezialität, dem „Tostador“, verloren geht und Tanja nach der schärfsten Salsa picante als Mitbringsel sucht. Außerhalb des Marktes finden wir uns schnell wieder, da das Städtchen mit seinen einstöckigen Kolonialbauten im maurischen Stil recht überschaubar ist. Mittendrin unser Hotel „Diego de Mazariegos“, das mit seinen Kolonnaden, Brunnen und Patios die schönste Kulisse für einen Zorro-Film böte. Doch wahrscheinlich hätte selbst Antonio Banderas Respekt vor der hauseigenen Cocktailbar, in der Tequila mit Maggi, Wodka, Rum, Weißwein und Bier zusammengemixt wird.
Den starken Mokka, den uns Tomasa, Catalina und Maria am nächsten Morgen servieren, kann ich gut gebrauchen. Wir sind zu Gast im Indiodorf San Lorenzo Zinacantán, wo die drei bei sich zu Hause den traditionellen Hüftwebstuhl vorführen und Ponchos, Taschen und Decken verkaufen. Zwischendurch laden sie uns auf ein paar frisch gebackene Tortillas ein, die wir mit Bohnen, Avocado, Salsa, Würstchen oder Käse füllen. Die von ihnen beim Backen benutzte Maismühle gleicht den im Anthropologischen Museum ausgestellten archäologischen Funden. Doch in Glaubensfragen hat die Maya-Kultur sich scheinbar modernisiert. Statt gefiederter Schlangen und Jaguarköpfen hängt am Hausaltar das Marienbild der Jungfrau von Guadalupe.
„Solange sich meine Schäfchen als katholisch empfinden, sind sie katholisch“, freute sich ein Bischof von San Cristóbal. Ihn störte nicht, dass die Indios ihrem Glauben nicht wirklich abschworen, sondern die Verantwortung für Regen, Fruchtbarkeit oder Ernte einfach katholischen Heiligen übertrugen, aber zugleich Bänke, Altäre und Priester aus den Kirchen entfernten und fortan einen heidnisch-katholischen Kult in Eigenregie betrieben. In der weißen Dorfkirche von Zinacantán finden wir sogar noch alte Tiergottheiten wie Hirsch, Jaguar und Ozelot. Leider ist Fotografieren verboten, und auch bei unserer nächsten Station dürfen wir die Kamera nicht benutzen.
Den Bus lassen wir bereits am Dorfrand stehen. Heute ist San Mateo, kein wichtiger Feiertag, aber in San Juan Chamula, wo ein wahnhaft-religiöser Kult das Leben bestimmt, Grund genug für eine mitreißende Kirmes. So weit das Auge reicht, bieten Indios Leckereien und Grundbedarfsmittel an wie Stockfisch, Zuckerrohr, die süße Zitronenfrucht Lima oder den Cremeapfel Cherimoya, während mit langen Holzknüppeln bewaffnete Dorfpolizisten in schwarzen und weißen Wollumhängen patrouillieren. Durch die überfüllte Hauptstraße schiebt sich eine maskierte Prozession, aus der heraus Feuerwerksraketen abgefeuert werden. Auf dem Kirchplatz trinken sich Männer Mut an, bevor sie unter die mit Böllern bestückte Stierattrappe schlüpfen und zu lautem Gekrache herumtänzeln. Das Geballere soll böse Geister vertreiben. Aus einem ähnlichen Grund hat das Land den weltweit größten Cola-Verbrauch. Cola ist in Mexiko heilig. Ein Zaubertrank, mit dem man die globale Macht des Coca-Cola-Konzerns auf sich übertragen und zugleich schlechte Energie wegrülpsen kann. In einigen Regionen hat sich die Pepsi-Reformation durchsetzen können, doch in Chamula gibt Coke den Ton an.
Deshalb sind Cola-Flaschen im Gottesdienst ebenso wichtig wie das Kerzenmeer und die Hühneropfer, wenn Hunderte von gläubigen Chamulas lautstark mit ihrem himmlischen Schutzpatron schachern. Der Erfolg der Fürbitten lässt sich leicht erkennen: Wirkungsvolle Heiligenfiguren glänzen in Festkleidung, die oft gewechselt wird, und sind vielfach mit Spiegeln behängt, um böse Wünsche auf den zurückfallen zu lassen, der sie äußert. Die Erfolglosen stehen dagegen ungeschmückt in der Ecke und können froh sein, wenn ihnen nicht ein Körperglied abgeschlagen wird. Offenbar hat unsere Reisegruppe den richtigen Heiligen angefleht, denn das angekündigte Unwetter setzt erst ein, als wir das Hochland verlassen, um 200 Kilometer weiter ins tropische Palenque zu fahren. Danke, San Mateo!
Ausgerechnet im Regenwald lacht uns die Sonne wieder zu. Wir sind bereits in der archäologischen Zone von Palenque, doch die Maya-Palastanlage entdecken wir erst, als wir unmittelbar davor stehen, so innig werden die Residenzbauten vom Dschungel umarmt. Die Tempel und Gemächer sind spektakulär gut erhalten: Schwitzbäder und ein Ballspielplatz, fließend Wasser und ausgeklügelte Belüftungsbauten, großzügige Zimmerfluchten und ein kleines Observatorium, prächtige Altäre und Grabmäler – würden wir nicht auch so wohnen wollen, wenn wir Herrscher des Jaguarthrons wären? Ein Deutscher hat das schon mal ausprobiert: Der Forschungsreisende und charmante Hochstapler Johann Friedrich Graf von Waldeck, dessen Zeichnungen Palenque berühmt machten, hat jahrelang in diesen Ruinen gelebt. Statt musealer Stille umgibt uns wie damals der Singsang der Brüllaffen, Zikaden und Grillen. Er hallt in unseren Ohren wider, während wir Fürstin San Kuk mit ihrem Sohn Pakal, Drachen, Göttervögel und viele andere Stuckfiguren, Reliefbilder und Schriftzeichen, die das Leben der Maya anschaulich vorführen, bestaunen. Jetzt erwartet uns leider ein Donnervogel der profanen Art: das Flugzeug Richtung Heimat.
Dieser Text erschien zuerst in der „freundin“ 10/06 vom 26. April 2006
(Foto: Martijn Munneke/flickr)
Das von Indianern angelegt Wasserlabyrinth ist nur ein kleiner Rest des weitläufigen Seengebiets, das die Hauptstadt der Azteken umgab. Heute leben im trockengelegten Hochtal von Mexiko-Stadt 25 bis 30 Millionen Menschen. Auf den ersten Blick ein Wirrwarr aus tristen Vorstädten und überfüllten Schnellstraßen, grauen Häuserblöcken und kalt glitzernden Wolkenkratzern wie mein Hotel „Gran Meliá México Reforma“. Man muß nach Oasen wie den Schwimmenden Gärten schon gezielt suchen. Oder bekommt sie wie ich auf dem Präsentierteller gereicht.
Denn ich habe den Urlaub entspannt angepackt, die Reiseführer liegen lassen und mich auf eine organisierte Studienfahrt ins Reich der Azteken und Maya begeben: Ferien aus der prall gefüllten Wundertüte. Nur die groben Umrisse des Überraschungspaketes ließen sich erahnen: die Stufenpyramiden von Palenque und die Tempelanlagen von Teotihuacán, die Indiodörfer in Chiapas und zum Einstieg eben Mexiko-Stadt.
Wie Mexiko überhaupt aus dem Zusammenprall zwischen Indianern und spanischen Conquistadoren entstanden ist, zeigen Diego Riveras monumentale Fresken im Nationalpalast. Von 1926 bis 1945 hat der Künstler auf 450 Quadratmetern Aztekenherrscher und spanische Eroberer, Machos und Freiheitskämpfer, Maisbauern und Kautschuksammler, Pfaffen und eine indianische Liebesgöttin (mit den Gesichtszügen von seiner Ehefrau Frida Kahlo) in ihren Lebenswelten porträtiert. Ein farbenprächtiges Historienbild, zumal hier und heute auch noch vor dem Palasttor Nachfahren der Azteken in ihren traditionellen Kostümen tanzen, als wären sie eben diesen Wandgemälden entsprungen. Reine Touristenshow? Eher nicht, denn – wie nahezu überall in der Hauptstadt – ausländische Touristen sind rar. Um uns herum lauter Einheimische, die der Folkloregruppe zuschauen, beim Straßenhändler Tortillas aus blauem Mais naschen oder Schlange stehen, um sich von einem Schamanen ihre katholische Seele reinigen zu lassen. Jahrmarktstimmung scheint hier alltäglich zu sein, und wir lassen uns gern von ihr einfangen.
Natürlich ist Mathias, unser Reiseleiter, in Kultur und Geschichte bewandert, aber uns begeistert ebenso, dass er auch Mexikos beste Konditorei kennt. Bis spätabends verkauft die „Pastelería Ideal“ in der Ave. 16 de Septiembre Feingebäck und Kuchen. Die bis zu 90 Kilo schweren, mehrstöckigen Torten sind schon recht unhandlich. Aber ein kleiner Flan mit Früchten ist die perfekte Stärkung, denn wir wollen anschließend im Alameda-Park noch mitfeiern, wenn mehrere Kapellen lautstark um ihr tanzendes Publikum wetteifern.
Zu spät darf es nicht werden, denn am nächsten Morgen geht es in aller Herrgottsfrühe ins Anthropologische Museum, der nationalen Schatzkammer vorkolonialer Kunst. Jade-Mosaiken und Alabasterfiguren, Türkismasken und Perlmuttarbeiten, aus Muscheln geknüpfte Rüstungen und prachtvolle Federkronen, Kalendersteine und Kolossalfiguren zeigen die Vielfalt bekannter indianischer Kulturen wie die der Mixteken, Maya oder Azteken und der bis heute unbekannten wie namenlosen Erbauer der Tempelstadt Teotihuacán. Als wir später 50 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt auf der über 60 Meter hohen Sonnenpyramide von Teotihuacán stehen und die kilometerweite Monumentalanlage mit ihren Stufenbauten, Tempeln und der Zitadelle überblicken, verstehe ich, dass für die Azteken nur Riesen oder Götter als Baumeister in Frage kamen.
Einige Stämme halten ihre jahrtausendealte Tradition bis jetzt am Leben. Mit dem Flugzeug reisen wir 1000 Kilometer in Mexikos südlichsten Bundesstaat Chiapas, ein Zentrum der Maya-Kultur, wo heute noch zwölf Maya-Sprachen in Gebrauch sind und jedes Dorf seine eigene Tracht pflegt. Einer bunten Auswahl von ihnen begegnen wir bereits auf dem Indiomarkt von San Cristóbal de las Casas. In dem Gewirr der Marktstände reißt unsere zwölfköpfige Reisegruppe rasch auseinander. Ich bleibe bei den kitschigen Votivkerzen hängen, während Ditmar auf der Suche nach der regionalen Kaffeespezialität, dem „Tostador“, verloren geht und Tanja nach der schärfsten Salsa picante als Mitbringsel sucht. Außerhalb des Marktes finden wir uns schnell wieder, da das Städtchen mit seinen einstöckigen Kolonialbauten im maurischen Stil recht überschaubar ist. Mittendrin unser Hotel „Diego de Mazariegos“, das mit seinen Kolonnaden, Brunnen und Patios die schönste Kulisse für einen Zorro-Film böte. Doch wahrscheinlich hätte selbst Antonio Banderas Respekt vor der hauseigenen Cocktailbar, in der Tequila mit Maggi, Wodka, Rum, Weißwein und Bier zusammengemixt wird.
Den starken Mokka, den uns Tomasa, Catalina und Maria am nächsten Morgen servieren, kann ich gut gebrauchen. Wir sind zu Gast im Indiodorf San Lorenzo Zinacantán, wo die drei bei sich zu Hause den traditionellen Hüftwebstuhl vorführen und Ponchos, Taschen und Decken verkaufen. Zwischendurch laden sie uns auf ein paar frisch gebackene Tortillas ein, die wir mit Bohnen, Avocado, Salsa, Würstchen oder Käse füllen. Die von ihnen beim Backen benutzte Maismühle gleicht den im Anthropologischen Museum ausgestellten archäologischen Funden. Doch in Glaubensfragen hat die Maya-Kultur sich scheinbar modernisiert. Statt gefiederter Schlangen und Jaguarköpfen hängt am Hausaltar das Marienbild der Jungfrau von Guadalupe.
„Solange sich meine Schäfchen als katholisch empfinden, sind sie katholisch“, freute sich ein Bischof von San Cristóbal. Ihn störte nicht, dass die Indios ihrem Glauben nicht wirklich abschworen, sondern die Verantwortung für Regen, Fruchtbarkeit oder Ernte einfach katholischen Heiligen übertrugen, aber zugleich Bänke, Altäre und Priester aus den Kirchen entfernten und fortan einen heidnisch-katholischen Kult in Eigenregie betrieben. In der weißen Dorfkirche von Zinacantán finden wir sogar noch alte Tiergottheiten wie Hirsch, Jaguar und Ozelot. Leider ist Fotografieren verboten, und auch bei unserer nächsten Station dürfen wir die Kamera nicht benutzen.
Den Bus lassen wir bereits am Dorfrand stehen. Heute ist San Mateo, kein wichtiger Feiertag, aber in San Juan Chamula, wo ein wahnhaft-religiöser Kult das Leben bestimmt, Grund genug für eine mitreißende Kirmes. So weit das Auge reicht, bieten Indios Leckereien und Grundbedarfsmittel an wie Stockfisch, Zuckerrohr, die süße Zitronenfrucht Lima oder den Cremeapfel Cherimoya, während mit langen Holzknüppeln bewaffnete Dorfpolizisten in schwarzen und weißen Wollumhängen patrouillieren. Durch die überfüllte Hauptstraße schiebt sich eine maskierte Prozession, aus der heraus Feuerwerksraketen abgefeuert werden. Auf dem Kirchplatz trinken sich Männer Mut an, bevor sie unter die mit Böllern bestückte Stierattrappe schlüpfen und zu lautem Gekrache herumtänzeln. Das Geballere soll böse Geister vertreiben. Aus einem ähnlichen Grund hat das Land den weltweit größten Cola-Verbrauch. Cola ist in Mexiko heilig. Ein Zaubertrank, mit dem man die globale Macht des Coca-Cola-Konzerns auf sich übertragen und zugleich schlechte Energie wegrülpsen kann. In einigen Regionen hat sich die Pepsi-Reformation durchsetzen können, doch in Chamula gibt Coke den Ton an.
Deshalb sind Cola-Flaschen im Gottesdienst ebenso wichtig wie das Kerzenmeer und die Hühneropfer, wenn Hunderte von gläubigen Chamulas lautstark mit ihrem himmlischen Schutzpatron schachern. Der Erfolg der Fürbitten lässt sich leicht erkennen: Wirkungsvolle Heiligenfiguren glänzen in Festkleidung, die oft gewechselt wird, und sind vielfach mit Spiegeln behängt, um böse Wünsche auf den zurückfallen zu lassen, der sie äußert. Die Erfolglosen stehen dagegen ungeschmückt in der Ecke und können froh sein, wenn ihnen nicht ein Körperglied abgeschlagen wird. Offenbar hat unsere Reisegruppe den richtigen Heiligen angefleht, denn das angekündigte Unwetter setzt erst ein, als wir das Hochland verlassen, um 200 Kilometer weiter ins tropische Palenque zu fahren. Danke, San Mateo!
Ausgerechnet im Regenwald lacht uns die Sonne wieder zu. Wir sind bereits in der archäologischen Zone von Palenque, doch die Maya-Palastanlage entdecken wir erst, als wir unmittelbar davor stehen, so innig werden die Residenzbauten vom Dschungel umarmt. Die Tempel und Gemächer sind spektakulär gut erhalten: Schwitzbäder und ein Ballspielplatz, fließend Wasser und ausgeklügelte Belüftungsbauten, großzügige Zimmerfluchten und ein kleines Observatorium, prächtige Altäre und Grabmäler – würden wir nicht auch so wohnen wollen, wenn wir Herrscher des Jaguarthrons wären? Ein Deutscher hat das schon mal ausprobiert: Der Forschungsreisende und charmante Hochstapler Johann Friedrich Graf von Waldeck, dessen Zeichnungen Palenque berühmt machten, hat jahrelang in diesen Ruinen gelebt. Statt musealer Stille umgibt uns wie damals der Singsang der Brüllaffen, Zikaden und Grillen. Er hallt in unseren Ohren wider, während wir Fürstin San Kuk mit ihrem Sohn Pakal, Drachen, Göttervögel und viele andere Stuckfiguren, Reliefbilder und Schriftzeichen, die das Leben der Maya anschaulich vorführen, bestaunen. Jetzt erwartet uns leider ein Donnervogel der profanen Art: das Flugzeug Richtung Heimat.
(Foto: Martijn Munneke/flickr)
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