Sonntag, 22. August 2010

Bodycount bei Focus (Update)

Falls ich das Unwort des Jahres zu küren hätte, fiele meine Wahl auf Minder- oder Nichtleister, ein Begriff der mir völlig unbekannt war, bis ich ihn heuer immer öfter vernahm, vor allem da, wo Verlagsleiter und Chefredakteure ihre Köpfe zusammensteckten.
Ich weiß nicht, worüber ich mich mehr aufregen könnte: Die Reduzierung von Mitarbeitern auf individuell wie scheinbar objektiv meßbare Leistung? Die Illusion, journalistische Arbeit überhaupt mit einem Leistungsbegriff messen zu wollen? Oder die Unverschämtheit vieler leitender Manager, in ihren Häuser bis zu einem Drittel und mehr Nichtleister zu wähnen?
Natürlich gibt es fähigere und unfähigere Redakteure. Selbstverständlich gibt es auch immer wieder gute Gründe, sich von jemandem zu trennen. Der dann aber, oh Wunder, durchaus in einer anderen Redaktion plötzlich – ohne jede Hirn- oder Herztransplantation – aufblühen kann. Denn Redaktionen sind ein lebendiger Organismus, bei denen jeder unterschiedlichste Aufgaben erfüllt, und die Leistung im Miteinander entsteht oder eben verhindert wird. Die Chemie muß stimmen.
Machte man ein nur aus Edelfedern bestehendes Magazin auf, flöge einem der Laden noch im ersten Monat um die Ohren. Manche schreiben gut, andere schnell, es gibt Recherchegenies und Leute, die nur unter Druck gut sind – oder eben da nicht. Ich habe Manuskripte renommierter Preisträger gelesen, die sahen aus, als ob sie ein Legastheniker unterwegs in der U-Bahn hingeschmiert hätte. Manche zeichnen sich durch Loyalität aus, andere sorgen fürs richtige Betriebklima. Aber keiner funktioniert wie ein Zahnrädchen und bringt immer volle Leistung. Dazu sind wir einfach zu menschlich – und Blattmacher eben auch auf ihre Art Künstler.
Die natürlich auch finanziert sein wollen, und wer mal das Jubiläumsposter mit den Headshots aller „Focus“-Redakteure in der Arabellastraße gesehen hat und zugleich die immer dünner werdenden Verkaufszahlen und Anzeigenumfänge, der ahnte, daß sich da eine immer größer werdende Schere auftat. Die Redaktion hatte Übergewicht. Das konnte nur so lange gut gehen, wie der „Erste Journalist“ im Haus fürs Gegengewicht sorgte.
Doch auch im Jahr von Helmut Markworts Abschied verzichtete man auf ein überfälliges Kettensägemassaker und offerierte stattdessen 280 von 320 Mitarbeitern ein Abfindungsangebot, um betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden. „Für Mitarbeiter zwischen 40 und 60 Lebensjahren soll es einen Sockelbetrag von 15.000 Euro geben, alle übrigen Mitarbeiter erhalten 7.500 Euro. Die Betriebszugehörigkeit spielt eine Rolle, sowie ein Multiplikator von 0,75 auf ein Monatsgehalt“, berichtete die „SZ“.
Summa summarum wohl bis zu 100.000 – noch zu versteuernde – Euro für jeden, der bis 31. Juli von sich aus unterschrieb, zuzüglich einer „Turbo-Prämie“ von 3,5 Monatsgehältern für alle, die bis zum 30. Juni zuschlugen. Thomas Knüwer ist meines Wissens der einzige Kollege, der das für „großzügig“ hält. „Focus“-Betriebsratsvorsitzende Gisela Haberer-Faye wertete das Angebot gegenüber dem „BJVreport“ zurückhaltender: „Es ist kein goldener Handschlag, aber auch kein Fußtritt. Es ist okay.“
Oder um den „Focus“ zu zitieren: „Da die Summen aber in aller Regel nicht für ein sorgenfreies Leben ohne Arbeit ausreichen, müssen Arbeitnehmer sehr genau kalkulieren, ob die Annahme der Abfindung den Verlust des Arbeitsplatzes aufwiegt. So sind Abfindungen in jedem Fall steuerpflichtig. Zudem drohen Sperren beim Arbeitslosengeld. Wer nicht nahtlos zu einem anderen Arbeitgeber wechseln kann, muss einen Teil seiner Abfindung bereits für den Lebensunterhalt während der Arbeitslosigkeit einplanen.“
Niemanden außerhalb der Geschäfts- und Redaktionsleitung dürfte aber überrascht haben, daß keinesfalls die Underdogs nach diesem Knochen schnappten, sondern gerade Entscheidertypen zuschlugen, eben die Mitarbeiter, die genug Selbstbewußtsein, Energie und Perspektiven besitzen, um das Handgeld mitzunehmen.  
„Ich frage mich, ob es jetzt für oder nicht doch eher gegen mich spricht, daß ich bleibe“, hört man dann schon im Redaktionsflur. Wer nun tatsächlich das Haus verläßt, wird von den Burda-Schwurblern nicht kommuniziert, und bislang sind auch nur wenige Namen durchgesickert. Also versuche ich mich mal als Kreml-Astrologe.
Wer den morgen erscheinenden „Focus“ 34/10 auf Seite 70 aufschlägt, wird feststellen, daß eine ganze Reihe altbekannter Namen im Impressum fehlen, wie etwa Carolin Rottländer, die für die Markenkommunikation verantwortlich zeichnete. Ich lehne mich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich die aus dem Impressum Getilgten für Abgänger halte.
Unter Berücksichtigung der verschiedenen Quellen verlassen offenbar folgende 24 29 Mitarbeiter die „Focus“-Gruppe, wobei ich für Korrekturen und Ergänzungen dankbar bin. Schließlich sollen es insgesamt 60 sein. Die Liste wird laufend aktualisiert.
  1. Wolfgang Bauer, Reportage/Brennpunkt (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  2. Bettina Bäumlisberger, Deutsche Politik (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  3. Katja Nele Bode-Mylonas, Modernes Leben (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  4. Barbara Esser, Deutschland-Ressort (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  5. Frank Gerbert, Modernes Leben (fehlt im Impressum vom 23. August 2010,  „werben & verkaufen“) )
  6. Ulf Hannemann,  Forschung & Technik/Medizin (update; UlfHannemann.com)
  7. Udo Herzog, Bildtechnik (fehlt im Impressum vom 23. August 2010) 
  8. Michael Hilbig, Redaktionsleiter Focus Bayern (update; Quelle: „werben & verkaufen“)
  9. Kerstin Holzer, Modernes Leben (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  10. Claudia Jacobs, stellvertretende Chefredakteurin „Focus Schule“ – obwohl das Abfindungsangebot laut „Horizont“  gar nicht für „Focus Schule“ galt (Quelle: „text intern“)
  11. Andrea Kaufmann, Dokumentation/Schlußredaktion (fehlt im Impressum vom 23. August 2010) 
  12. Martin Kunz, Ressortleitung Forschung & Technik (update; Quelle: „werben & verkaufen“)
  13. Björn Maier, Titelgrafik (fehlt im Impressum vom 23. August 2010) 
  14. Uli Martin, Leiter Medienressort (Quelle: „Hamburger Abendblatt“)
  15. Caroline Mascher, Auslandsressort (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)  
  16. Stefanie Menzel, Focus-Daten (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  17. Herbert Reinke-Nobbe, Deutschland-Ressort (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  18. Carolin Rottländer, Leiterin Markenkommunikation (fehlt im Impressum vom 23. August 2010) 
  19. Marika Schärtl, Modernes Leben (update; Quelle: „werben & verkaufen“)
  20. Tina Schettler, Grafik (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  21. Rainer Schmitz, Kultur/Wissenschaft (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  22. Eric Schütz, Chef der Grafik und Atelierleiter (update; Quelle: „werben & verkaufen“)
  23. Werner Siefer, Forschung & Technik/Medizin (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  24. Christoph Sieverding, Leiter der Info-Grafik (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  25. Christian Sturm, Deutschland-Ressort (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  26. Cornelia Tiller, Pressesprecherin (laut „Kontakter“ via turi2 und Pressemitteilung)
  27. Claudia Voltz, Marketing Managerin Bildung (Quelle: Kress)
  28. Andreas Wenderoth, Reportage/Brennpunkt (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
  29. Thomas Wiegold, Parlamentsredaktion (Quelle: Indiskretion Ehrensache)
  30. Sandra Zistl, Deutsche Politik (fehlt im Impressum vom 23. August 2010)
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Samstag, 21. August 2010

Montag, 16. August 2010

Abgestanden wie ein Noagerl: Klaus Lemkes „Schmutziger Süden“

Mitternacht. Die Zeit, zu der die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten gemeinhin Lemkes aktuelleres Filmwerk ausstrahlen. Da versendet sich so einiges gefahrlos. Andere sitzen um diese Stunde gern im Schumann's. Wie SZ-Redakteur Alexander Gorkow. Man kann ihn dann leicht angetrunken erleben und schwer auf seinen Arbeitgeber schimpfend. Das würde erklären, wieso er auf Seite Drei der „Süddeutschen Zeitung“ vom 24. Juli vorbehaltlos Lemke als „genialen und unterschätzten Filmemacher“ preist und sehr detailliert nur dessen Frühwerk wie „Brandstifter“,  „48 Stunden bis Acapulco“ oder „Rocker“ zitiert, den filmmusealen Kanon, der nichts von seiner Kraft verloren hat. Aber eben auch Jahrzehnte alt ist.
Vielleicht kennt Gorkow die neueren Filme überhaupt nicht, die Lemke in diesem Jahrhundert gedreht hat. Laufen ja gegen Mitternacht im Fernsehen – wenn überhaupt. Vielleicht schweigt er auch nur aus Respekt. Mit Sicherheit beneiden Gorkow und Koautor Tobias Kniebe, beides angestellte leitende Redakteure in Sibirisch-Steinhausen, den sympathisch verwahrlosten Regieveteranen: „Klaus Lemke ist der freieste Mensch, den man treffen kann. In Schwabing. In München. Wo auch immer.“ Da bin ich ganz bei ihnen.
Nur macht das höchstens Lemkes Aussteigervita sympathischer, aber seine hingeschluderten Arbeitsmaßnahmen kaum besser. „Schmutziger Süden“ etwa bietet den typischen Mix der letzten zehn Jahre: Unbeholfene Laiendarsteller, wirre Handlungen, ungeschliffene Dialoge, Brutaloschnitte sowie überraschend prüde Altherrenfantasien von vielen Mädchen, die ein und demselben Mann verfallen – wobei Lemke weit weniger Sex zeigt als etwa die Stunden früher ausgestrahlten ZDF-Sommernachtsfantasien, da kann er noch so sehr von Porno fabulieren.
Überhaupt merkt man Lemke die frühe Schwabinger Schule an – er redet viel, man darf ihm wenig glauben. Mal will er Angebote für eine „Tatort“-Regie abgelehnt haben, dann erzählt er wiederum, er würde gern einen drehen, hätte ihn aber noch nicht offeriert bekommen. Festivals interessieren ihn nicht? Wieso reicht er seit Jahren diese Kameraübungen ein und protestiert beim Münchner Filmfest wiederholt mit Mahnwachen dagegen, daß man ihn abgelehnt hätte? „Schmutziger Süden“ liefe auf der Berlinale? Ein Gerücht. Der Bayerische Rundfunk plane eine Serie mit ihm? Wunschdenken. Die Filme kosten fast nichts? Die Musikrechte für Blondie und andere Tracks im „Schmutzigen Süden“ wird er sich kaum mit seinem Standard-Fuffie geleistet haben. Er gewähre nur selten, nicht öfter als zweimal jährlich Interviews? Dann hat er allein schon in den letzten Wochen mit der „SZ“, arte„Welt am Sonntag“, „Abendzeitung, „Tagesspiegel“ oder dem Studentenblatt „Philtrat“ für die nächsten Jahre vorgearbeitet.
Aber so oft wie er sich dort in seinen – auswendig gelernten? – Statements wiederholt, muß man vielleicht nicht jedes Gespräch einzeln zählen. Die Fragesteller trauen sich auch kaum, nachzufragen, nachzuhaken. Mit Ausnahme von Marina Kumchuk und Nicola Wilcke („Philtrat“), die zwar dabei auch nicht zu Lemkes Kern vordringen, aber zumindest amüsant scheitern. Interessiert es denn keinen, wie licht die Haare unter seiner legendären Schiebermütze sind? Ob Lemke tatsächlich im alten Schumann's Hausverbot genoß, weil er volltrunken an den Tresen gepinkelt haben soll? Und wie viel Rente der 69-Jährige erhält?
Einen Rentenanspruch wird er sich doch sicher aufgebaut haben, auf dem Höhepunkt seiner Karriere in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren, als er eben keineswegs als Filmguerilla low-budget arbeitete, sondern noch als gut bestallter Lohnregisseur. Die Cameo-Auftritte Horatius Haeberles und Michael Graeters im „Schmutzigen Süden“ sind eine kleine Reminiszenz an diese Ära.
1987, bei „Zockerexpress“ (bzw. „Zockerexpreß“) war ich auch mal vorübergehend mit im Lemke-Team. Es war wohl der erste seiner wirklich schlechten Filmen, wenn auch noch als großes Kino angelegt. Allein ich erhielt für die PR-Betreuung um die 10.000 Mark, an der Kamera stand Lothar Elias Stickelbrucks und für die Hauptrolle hatte man den holländischen Star Huub Stapel eingekauft. Ihn als männliche Hauptfigur umgarnte – ähnlich wie im „Schmutzigen Süden“ – ein weibliches Dreigestirn, die Türsteherin Sabrina „Sexkoffer“ Diehl, das persische Model Jasmin Zadeh und – als einzige Profischauspielerin – Dolly Dollar (Christine Zierl).
Wie es sich für die achtziger Jahre gehört, habe ich nur noch recht verschwommene Erinnerungen an die Dreharbeiten: Eingeprägt hat sich mir kein Bild vom Regisseur am Set, sondern wie Lemke nachts mit Produzent Hanno Schilf den Boden des Produktionsbüros nach einem verloren gegangenen Piece absucht. Autor Micha Lampert erschien zu den Scriptbesprechungen im Bella Italia immer mit einem Baseballschläger, weil das Multitalent gerade auch in einen Zuhälterkrieg verwickelt war. Jasmin Zadeh vertrug keinen Alkohol, weshalb ich als PR-Mann alter Schule sie ständig begleiten mußte, aber auch nicht verhindern konnte, daß sie bereits nachmittags mit Champagnerflöten um sich schmiß oder nach einer Nacht im P1 die Tür der Wohnung eintrat, die sie für einen auf Ibiza weilenden Barkeeper hütete, weil sie den Schlüssel nicht finden konnte. Der Standfotograf bewarb sich um seinen Job, indem er mir Bilder einer minderjährigen Nackten am Starnberger See vorlegte. Und finanziert hat das ganze Chaos ein Großgrundbesitzer aus dem Münchner Umland, der sonst eher auf Pferde setzte.
Im Grunde sollte Klaus Lemke keine Filme mehr drehen, sondern sein eigenes Leben verfilmen lassen. Stoff genug gäbe es.

Updates:
Mehr von mir zu Huub Stapel und den Dreharbeiten von „Zockerexpress“.
„Film muss noch nicht mal gut sein“ – Lemkes „Hamburger Manifest“.
Lemke und ich auf Radio m94,5 zum Hamburger Manifest.

Sonntag, 15. August 2010

Berliner Boulevard at it's best – die schrägsten Zeitungsschürzen der 90er Jahre

Bei uns in München stand die „BILD“-Zeitung schon immer im Schatten der großen Boulevardschwestern „tz“ und „Abendzeitung“, aber als ich in den achtziger Jahren das erste Mal nach Westberlin zog, war ich doch überrascht, wie viel unbedeutender Deutschlands größte Tageszeitung dort war. Im Grunde nicht mehr als ein Wurmfortsatz im Springer-Konzern, der an der Spree mit der „BZ“ den Boulevard beherrschte. (Die „Bild am Sonntag“ gab's in Berlin bis zum Mauerfall sogar überhaupt nicht, um die Sonntagsausgabe der „Berliner Morgenpost“ zu schützen.)
Nach der Wende setzten dann Aboblätter wie der „Tagesspiegel“ (Giovanni di Lorenzo, Hellmuth Karasek!) oder die „Berliner Zeitung“ (Erich Böhme, Michael Maier, der Traum von der „deutschen Washington Post“) vorübergehend auf eine Qualitätsofffensive, aber die „BILD“ hatte nun neben der altverhaßten „BZ“ auch noch weitere Konkurrenten: den im Ostteil der Stadt übermächtigen „Berliner Kurier“ sowie – wenn auch nur etwas über ein Jahr lang – die von Burda verbrochene „Super!“ („Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen – Ganz Bernau ist froh, daß er tot ist.“).
Nun kläffen kleine Köter gern besonders laut, wie man an den Schlagzeilen sieht, mit denen die „BILD“ in den neunziger Jahren sich vor allem gegen den hauseigenen Konkurrenten profilieren und die Berliner Käufer locken wollte. Manches klingt, als wären die Redakteure beim Titeln mit dem Kopf gegen den Balken geknallt.
Der Fotograf Henrik Jordan, mit dem ich Mitte der neunziger Jahren für den „Tagesspiegel“ unterwegs war, sammelte die schönsten Zeitungsschürzen der „BILD“ und „BZ“ und veröffentlicht sie jetzt nach und nach auf Facebook. Hier eine Auswahl.



Samstag, 14. August 2010

Wochenplan

Die Antwoord / Crux, Pressevorführungen „Expendables“, „Banksy – Exit Through The Gift Shop“, „Das Ende ist mein Anfang“, „Buried“ und Sofia Coppolas „Somewhere“, „Popstars – Girls forever“ / Pro Sieben, Pressekonferenz „Die drei Musketiere“ / Bayerischer Hof

(Foto: Vark1/flickr)

Freitag, 13. August 2010

Chipkarte für Kinder: Mehr Schein als Sein?

Bei der Diskussion um die Einführung einer Chipkarte für die Kinder von Hartz-IV-Beziehern wird derzeit in vielen Medien (heute, „Süddeutsche Zeitung“, update: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“) die Familienkarte der Stadt Stuttgart hochgejubelt.
Natürlich ist es generös, allen Familien mit einem Jahreseinkommen unter 60.000 Euro (!) per Chipkarte ein Guthaben von 60 Euro pro Kind (früher 90 Euro) zu schenken, das in Schwimmbädern, Sportvereinen, Musikschulen, dem Zoo und Planetarium eingesetzt werden kann.
Andererseits: was sind schon 60 Euro? Und wäre es nicht gerechter und vom Verwaltungsaufwand auch viel effizienter, die Subvention für Besserverdienende mit Monatsgehältern von 3.000, 4.000 Euro bei so einem Projekt einzusparen und stattdessen einfach allen Hartz-IV-Empfängern, Aufstockern und Niedrigverdienern beispielsweise grundsätzlich freien Eintritt zu gewähren – wie es etwa bei Schwerbehinderten auch möglich ist?
Nur ein paar Kostenbeispiele: Eine Alleinerziehende, die mit ihrem Kind den Tierpark Wilhelmina besucht, muß dafür 18 Euro bezahlen. Mit der Familienkarte darf sie sich so ein Vergnügen also genau fünfmal jährlich erlauben. Ein Nachmittag im Schwimmbad käme die beiden auf 5,70 Euro – das sind also für Mutter und Kind zehn Besuche im Jahr. Und die vielzitierten Waldheime und Musikschulen gewähren Karteninhabern zwar zusätzlich noch einen Rabatt von zwanzig Prozent. Ein Jahr Musikunterricht inklusive Anmeldegebühr käme damit aber immer noch auf mindestens 110 Euro und ein 1-wöchiger Aufenthalt im Waldheim auf 51,20 Euro.Und bei alldem heißt es für die Hartz-IV-Familie auswählen: Beispielsweise entweder Waldheim oder Schwimmbad, denn beides läßt sich von der Chipkarte nicht finanzieren.
Angesichts solcher Rechenbeispiele liegt es nahe, daß die Familienkarte, die bei mehr als drei Kindern gänzlich auf eine Vermögensgrenze verzichtet, weniger Kinder und Eltern in armen Verhältnissen fördern soll, denn ein Zuckerl für Familien im Allgemeinen sein soll und sich vor allem an den Mittelstand richtet. Was auch schön ist, aber die Bedürfnisse der Ärmsten in Deutschland letztendlich ignoriert.

Sightwalk: Streetview mit ungepixelter Dorin-View

Während wir alle – die einen freudig, die anderen empört – dem Deutschlandstart von Google Streetview entgegensehen, ist Mitbewerber Sightwalk längst online.
Und wie es der Zufall so will, finde ich bei einer spontanen Suche nach dem Barer 61, auch bekannt als Popas Büro, prompt mich selbst abgeschossen. Mal schön verpixelt, mal aber auch nicht gepixelt.

Updates:

Turi2

„6 vor 9“ im Bildblog

Mittwoch, 11. August 2010

Allerleihrauh – L.A. Crash

Einsamkeit, Armut, Krankheit, Heimatlosigkeit: wie der Schmerz in all seinen Facetten bis ins 21. Jahrhundert überlebt hat, sich – kaum stillbar – allen Fortschritten und jeder Betäubung verweigert, hat Paul Haggis in seinem Drehbuch zu Clint Eastwoods „Million Dollar Baby“ als lange Reise durch die Nacht erzählt.
Für sein sagenhaft kühnes Regiedebüt „L.A. Crash“ wechselt er nun vom stillen Passionsweg aufs grelle Autobahnkreuz. Los Angeles County, wie man es zu kennen glaubt: Drive-by-shootings und Hollywood-Galas, Chinatown und LAPD, Luxusvillen und Raubüberfälle, Rathausintrigen und Rassenkonflikte, eine von Zelluloidstreifen und Fernsehrauschen seit Jahrzehnten genährte Märchenkulisse, der Haggis ein neues Kleid aus schimmerndem Rauhreif überzieht.
Dort, wo sonst scheinbar stets die Sonne strahlt, wird es schneien, so wie zuletzt am 8. Februar 1989. Doch bevor sich El Pueblo de Nuestra Señora la Reina de los Angeles del Río de Porciúncula in Schneeweißchen verwandelt, zeigt uns ein mitreißendes Darstellerensemble (Matt Dillon, Sandra Bullock, Ryan Philippe, Jennifer Esposito, Don Cheadle, Brendan Fraser u.v.a.) 36 Stunden in Los Angeles, das hier keine Stadt, sondern ein Zustand aus Vorurteilen, Aggression und Sprachlosigkeit ist. (Wobei Haggis' große Kunst darin besteht, diese Hoffnungslosigkeit beschwingt, beherzt und mit so viel Humor zu erzählen, daß er den Fallen der political correctness entgeht.)
„Der Tastsinn ist ausschlaggebend. In jeder anderen Stadt wird man beim Gehen angerempelt und streift automatisch andere Passanten. In L.A. berührt dich niemand. Man befindet sich dauernd hinter Stahl und Glasbarrieren. Ich denke, die Leute vermissen die Berührungen so sehr, daß sie Kollisionen verursachen, nur um etwas zu spüren.“ Bereits in den Eröffnungssätzen des Films liegt der erste Geniestreich, denn mit der Schimäre der kalifornischen Autostadt werden wir eingelullt und wähnen uns als Unbeteiligte auf Sightseeing-Tour.
Amerika scheint weit weg mit seinen Highways und dem babylonischen Gewirr aus Amerikanisch, Spanisch, Persisch, Mandarin, Koreanisch und sehr vielen Vorurteilen. Bis die Front plötzlich nicht mehr nur zwischen Schwarz und Weiß, Alteingesessenen und Einwanderern, sondern auch zwischen Mutter und Sohn, Vater und Tochter, zwischen Brüdern, Kollegen, Liebenden verläuft. Haggis hält uns allen einen Spiegel vor. Den fremdelnden, nur auf ihr Wohl bedachten Menschen, die sich selbst den Vorurteilen ausliefern und in ihrer egoistischen Wut zusehends erstarren, bis sie sich nicht mehr untereinander verständigen können, selbst wenn sie eine Sprache teilen.
Natürlich steht Haggis mit diesem filigranen Meisterwerk in der Tradition von Robert Altmans „Short Cuts“ und Paul Thomas Andersons „Magnolia“, aber noch viel mehr in der Linie der großen Märchen und Sagen, denn seine Geschichte vom Leben und Sterben in Los Angeles ist nicht nur ziemlich konstruiert, sondern ein im positiven Sinne dreistes wie sorgfältiges Geflecht, das alle Beteiligten nicht nur miteinander verknüpft, sondern ohne Rücksicht auf Zufall und Wahrscheinlichkeit die Guten zum Bösen verführt und die Bösen zum Guten bekehrt. Aber von Rotkäppchen, Scheherazade und Däumelinchen haben wir uns ja auch hemmungslos verzaubern lassen, ohne besserwisserisch nach Plausibilität zu fragen.

Dieser Text erschien zuerst im „In München“ 2005

(Foto: ARD)