Sonntag, 2. Juni 2024

Feine erste Sätze (67)

„Ob die älteste, je in Bayern entdeckte Menschenfigur eine Frau darstellen soll oder einen Penis, das liegt im Auge des Betrachters.“

Jakob Wetzel in seinem Beitrag „Wer jagt, wer sammelt“ über archäologische Funde aus der Steinzeit in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 1./2. Juni 2024.

(Foto: Mauernbilder/Wikipedia)

Freitag, 31. Mai 2024

Bananen-Didi wird Wirt

Als ich hörte, dass Bananen-Didi eine „neue Wirkungsstätte“ im ersten Brauereiausschank von Münchner Kindl bekäme, bin ich erschrocken. Kein Fez mehr an Dieter Schweigers legendärem Obststand an der Ludwig-Maximilians-Universität? Kein Grund mehr für Michael Graeter, dem Viktualienmarkt untreu zu werden und stattdessen in die Ludwigstraße zu kommen, um einen Plausch zu halten? Keinen bairischen Lebensweisheiten mehr auf meinem Weg zur U-Bahn?

Machen es ihm die zahlreichen Knie-Operationen, seine „beschissene“ Gesundheit unmöglich, weiter täglich an seinem Obststand zu stehen?

Keine Sorge, trotz aller Schmerzen bleibt uns Bananen-Didi erhalten. Zumindest vorläufig. Er wird zwar Geschäftsführer des künftigen Lokals in der Tegernseer Landstraße 80 („Wer wie ich 41 Jahre lang einen Obststand betreibt, kann auch das.“), wird aber vorläufig weiter mit seinem sonnigen Gemüt („s'Leben is a Freid“) Obst, Gemüse und jede Menge Sprüche an seinem Standl feilbieten.

Denn so wie es aktuell in der „denkmalgeschützten“ TeLa 80 aussieht, wird es laut Brauereichef Luis Sailer voraussichtlich noch bis Ende nächsten Jahres dauern, bis die Räumlichkeiten renoviert sind und der Brauereiausschank aufmacht.

Update vom 6. Juni 2024: Beim heutigen Pressetermin mit Obststandl-Didi und den Machern der neu gegründeten Münchner Kindl Brauerei, Dietrich, Luis und Leo Sailer, sahen die Räumlichkeiten schon deutlich einladender aus (Fotos unten).

Der Brauereiausschank wird Steyrer Hans heißen, benannt nach dem „bayerischen Herkules“, der Ende des 19. Jahrhunderts mit einem Finger einen 508 Pfund schweren Stein lupfte und gegenüber in der Tegernseer Landstraße eine Wirtschaft besessen haben soll. Porträtbilder von ihm zierten heute das künftige Lokal.

In den Räumlichkeiten befanden sich vor dem Krieg eine Metzgerei und nach dem Wiederaufbau ein Tante-Emma-Laden und später ein Blumengeschäft. Wer erlebt hat, welche Schwierigkeiten andere Wirte hatten, eine Gastronomiekonzession für ehemalige Ladengeschäfte zu erhalten, kann sich nur wundern, wie optimistisch die Sailers sind. Üblicherweise müssen solche neuen Lokalen zu Konzessionsbeginn um 22 Uhr schließen und können froh sein, wenn sie Alkohol ausschenken dürfen.

Die Sailers gehen aber jetzt schon davon aus, bis 1 Uhr nachts oder gar open end in der Wohngegend aufsperren zu dürfen. In Zeiten, in denen in der Tegernseer Landsctraße der Trepperlwirt oder das riffraff schließen mussten, sehen sie ihren Brauereiausschank als „gelebten Milieuschutz“.  

Das bedeutet für sie auch, dass sich jeder das Bier leisten können solle. Ausgeschenkt wird Münchner Kindl Bier vom Holzfass, und wenn es noch nicht frisch angezapft oder bereits leer ist, Flaschenbier. Die Halbe soll unter vier Euro kosten, die Schaumige bzw. der Schnitt weniger, die Stehmaß weniger als zwei Halbe. Alkoholfreies Bier wird es laut Brauereichef Luis Sailer nicht geben. Diesen Trend lehnt man bei Münchner Kindl entschieden ab. Zu essen wird es Bosna-Bratwurst geben.

„Abendzeitung“ vom 7. Juni 2024 dazu.
„Süddeutsche Zeitung“ vom 7. Juni 2024.
„Oberbayerisches Volksblatt“ vom 7. Juni 2024.









Bravo-Bar kommt nach Schwabing

Die Münchner Bravo-Bar ist für ihre Sommerfeste legendär. Das nächste könnte aber in Schwabing statt in der Fraunhoferstraße stattfinden. Nicht etwa, dass Damir Stabek und Marlon Schuler mit ihrem Lokal umziehen. Sie vergrößern sich und eröffnen einen weiteren Laden.

Auf Instagram und Facebook teasen sie seit etwa zehn Tagen ihre Follower*innen mit vagen Ankündigungen: „Coming soon“, „Schwabing“. Aber aufmerksamen Leser*innen reichten die wenigen Schnappschüsse, um die Räumlichkeit zu identifizieren.

Der Ableger, der deutlich größer als das Stammhaus ausfällt und dementsprechend Bravo Grande heißen wird, befindet sich in der Friedrichstraße 27 / Ecke Hohenzollernstraße. 

Wo sich bis Silvester noch eine Filiale der Restaurantkette HeimWerk befand, sind die Handwerker bereits eifrig am Schaffen, um die Räumlichkeiten bravomäßig aufzustylen. Italian Chic statt Schnitzel-Burger-Ambiente! Und in den Sozialen Medien wird mit Stellenanzeigen nach Servicekräften, Barleuten und Köchen gesucht.

Für ein Sommerfest würde man sogar über eine große Freischankfläche verfügen.

Update vom 21. November 2024: Heute Abend um 19 Uhr ist die Eröffnung des Bravo Grande Monaco, das Grand Opening.

Montag, 27. Mai 2024

Felix Müller und die Leser der „Abendzeitung“

Mal rufen Leser*innen in der Redaktion an (bevorzugt abends, wenn es daheim einsam wird), mal schreiben sie. Mal loben sie, mal schimpfen sie. Grade in letzterem Fall schwingen sie sich gelegentlich in kreative Höhen auf, dass ich sie schon fast für den Boulevard verpflichten würde. Felix Müller, Lokalchef der Münchner „Abendzeitung“, sammelt diese Beleidigungen und veröffentlicht gelegentlich die „Lustigen“ in seinem Facebook-Account: 

„Zuerst schuf Gott Idioten. Das war zur Übung. Dann schuf er AZ-Lokalchefs.“ 

„AZ-Lokalchefs und Windeln haben eines gemein: Sie sollten regelmäßig gewechselt werden.“

„Die AZ verfügt über in allen Themengebieten über ausgebildete Volljuristen. Hr. Müller ist mal Verkehrsjurist, dann wieder Experte für Migration, dann renommierter Wissenschaftler für Parkplatzvernichtung und jetzt auch Strafverteidiger. Ich wünschte wir hätten in unserer Firma solche qualifizierten Syndikus Anwälte.“

„Gehen Sie bei diesem schönen Wetter besser spazieren, dann richten Sie wenigstens in den Medien keinen Schaden an.“

„Die wirkliche Gefahr für ein sicheres und friedliches Zusammenleben in München sind aggressive Demagogen und Agitatoren wie die Felix Müllers dieser Stadt.“

Wochenplan (Updates)

Swinging Sixties – Europäische Filmklassiker der 1960er-Jahre: Vittorio de Sicas „Ieri, oggi, domani“ mit Sophia Loren und Marcello Mastroianni / Werkstattkino; Pressekonferenz zum Corso Leopold / Zur Brezn; Vernissagen Bongchull Shin: „Come Rain or Come Shine“ / Tanit und Françoise Nielly, Jesús Curiá, Ger Doornink & Nemo Jantzen: „Expression“ / Hegemann; StuStaCulum / Studentenstadt Freimann; Outdoor Opening ft. Yarákä & Pnema / Import Export; Pressekonferenz zum Jazzsommer / Bayerischer Hof; „Kafkas Klagen. Zur Poetik der Beschwerde“ – Vortrag von Juliane Prade-Weiss / Ludwig-Maximilians-Universität; Klimacamp / Königsplatz; Buchpräsentation von Christian Springers „Der bayerische Mob – wie die Gewalt in die Politik einzog“ mit ihm, Teresa Reichl, Kerstin Schweiger, Karl Stankiewitz, Hans Well u. a. / Lustspielhaus; 30 de ani de misiune în Diaspora – concert jubiliar / Pfarrkirche St. Johann Baptist; Münchener Biennale – Festival für neues Musiktheater / Muffathalle, Fat Cat, HP8 und schwere reiter; Iranisches Dokumentarfilmfestival / Werkstattkino; Peso Portable Store / P1-Parkplatz; Stompin' Riffraffs (Foto) / Schwarzer Hahn; Erstaufführung von Werner Fritschs „Faust Sonnengesang IV“ in Anwesenheit von Werner Fritsch, Bae Suah und Gerd Lohmeyer / Filmmuseum

Montag, 20. Mai 2024

Wochenplan (Updates)

Die Städtischen: „Be (p)art festival“ / Import Export; Pfingstfestival ft. Hallway,  Culk, Nashi 44, Sirens of Lesbos & Verifiziert / Theatron; Funky Tunesday mit DJ Rawnfunkie / Kulturstrand; Vernissagen Lars Deike: „Street Boys“ / Sub, Francesco Giordano: „Queer Artists Munich“ / Rathaus, Stasya Samar: „Bevor die Sonne aufgeht“ / LeZ und Finissage „Techno History“ ft. Qaint / Salon Maudit; Südbahnhofkonzerte: Grimson, Robert Wildfeuer und Finn & Ikaros / Bahnwärter Thiel; Mariybu / Rote Sonne; Presse-Event anläßlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie / Pathologie der Technischen Universität; Swinging Sixties – Europäische Filmklassiker der 1960er-Jahre: Jiří Menzels „Liebe nach Fahrplan“, René Clements „Nur die Sonne war Zeuge“, Konrad Wolfs „Der geteilte Himmel“ und Basilio Martín Patinos „Neun Briefe an Bertha“ / Werkstattkino; Michael Verhoevens Antikriegsfilm „o.k.“ / Filmmuseum; Fetischmesse BoundCon (Foto) / Zenith; 60 Jahre Friedens- und Partnerschaftsfest München-Bordeaux / Bordeauxplatz; Krachparade / Odeonsplatz; Abrissparty / Botanikum; Krims & Krams Flohmarkt / Bahnwärter Thiel; Helmut Dietls Kult-Serie „Münchner Geschichten“ mit Günther Maria Halmer, Therese Giehse und Towje Kleiner / Bayerisches Fernsehen

Sonntag, 19. Mai 2024

Poparazzi (13): Akademie der Bildenden Künste

Bekannt aus Tweets, Blogs und der Medienfachpresse. Also überhaupt nicht. Dennoch erkennen mich immer wieder Fremde. Oder flüchtige Bekannte halten mich für wichtig. Und schießen mich ab. 

Früher hat mich Bora noch angequatscht, nachdem er mich heimlich en passant fotografiert hatte. Inzwischen schickt er mir die Bilder nur noch nachträglich per WhatsApp. Sah ich so in die Lektüre versunken aus, dass man mich nicht stören sollte?

Montag, 13. Mai 2024

Wochenplan (Updates)

„Der Schimmelreiter//Hauke Haiens Tod“ / Deutsches Theater Berlin; Letzte Vorstellung im Kino International vor der zweijährigen Sanierung: George Cukors „Die Frauen“ mit Norma Shearer, Joan Crawford, Paulette Goddard, Joan Fontaine, Hedda Hopper u.v.a.; Soho House Berlin; Mündliche Verhandlung in einem Organstreit zur Besetzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums / Bayerischer Verfassungsgerichtshof; Pressekonferenz zum IDaHoBIT (International Day against Homo-, Bi-, Inter- and Transphobia) / Sub; GenAI Wednesday: How Burda Embraces AI in Media / jambit; Day of Hope / Werksviertel; Evening of Hope und Verleihung des Prix International Pour les Enfants mit Eckart von Hirschhausen / Werk 7; munich creative business week: Podiumsdiskussion New Modes IV – „New Relations with Nature“ mit Anna Goldhofer, Martina Maier und Johanna Seelemann / Neue Sammlung; Buchpremiere Sophia Fritz: „Toxische Weiblichkeit“ / Zirka; Spielzeit-Pressekonferenz / Residenztheater; Pressekonferenz, Casting sowie Meet & Greet für Perfect Runway / Genesis Studio; Podiumsgespräch „Kunst, Raub und Rückgabe“ mit Amelia Rosenberg, Miriam Friedmann, Kati Koerner sowie Andreas Bönte und einer Lesung von Eva Menasse / Pinakothek der Moderne; Wahl der Bayerischen Bierkönigin / Löwenbräukeller; Vernissagen euward / Haus der Kunst, Mongi Higgs: „Fier Freunde Fleischesser“ / Konsum 163, „Wie zeigt sich Mensch?“ / Hochschule für Philosophie, Hermann Nitsch & Andreas Breunig / Jahn & Jahn, Orhan Pamuk: „Der Trost der Dinge“ (Foto) / Lenbachhaus, Florian Freund: „Revitalisierung – Die Ästhetik der Ruhestörung“ / Cafébar Mona und Georg Baselitz: „adler barfuß“ / Villa Kast Salzburg; Julia Ducournaus „Titane“ mit Agathe Rouselle und Vincent Lindon / arte; Eröffnung der neuen Vereinsgaststätte des TSV 1860 Bamboleo; „Das literarische Quartett“ mit Salman Rushdie, Julie Zeh, Deniz Yücel und Thea Dorn / ZDF; Open Air Opening / Wannda Circus; Pfingstfestival / Theatron; Ground Control Open Air / Bahnwärter Thiel; Die Städtischen: „Be (p)art festival“ / Import Export; Premiere von „Straight outta Giasing“ / Grünwalder Stadion; „Waltz with Bashir“ / ARD

Donnerstag, 9. Mai 2024

Leni und die alten weißen Männer

Open Scene am Donnerstag – so heißt ein offenes Format des Münchner Filmmuseums, das für aktuelle Veranstaltungen reserviert ist, die in der Regel recht kurzfristig, etwa acht Tage vorher festgelegt werden. Heute vor drei Wochen, am 18. April, wollte „das Kino der Stadt“ (so die Eigenwerbung) Leni Riefenstahls Nuba-Reportagen feiern, ihre zwischen 1962 und 1977 im Sudan entstandenen Film- und Fotoaufnahmen eines entlegen lebenden indigenen Volks.

Die Veranstaltung wurde kurzfristig abgesagt. Und diese Absage und nicht etwa die verwunderliche Terminierung, Ausgestaltung und Bewerbung der Veranstaltung sorgt längst für Verschwörungsgeraune. „Stadt verbietet Filmvorführung“ fabulierte die „Abendzeitung“ am 19. April auf ihrer Titelseite. Ein paar Tage später trifft sich das gehobene Münchner Bürgertum am 30. April im Auktionshaus Neumeister zum Podiumsgespräch „Verdrängen, deponieren, ausstellen, verkaufen? Zum Umgang mit Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus“. In ihren Begrüßungsworten beklagt Gastgeberin Katrin Stoll, dass „klug inszenierte politische Proteste“ zur Absage der Filmvorführung geführt hätten. Die Polarisierung mache ihr Sorgen, denn: „audiatur et altera pars“, man müsse auch die andere Seite hören. 

Eben die tatsächliche andere Seite, die in der Vorstellung des städtischen Filmmuseums offenbar ursprünglich nie gehört werden sollte, die Koalition der betroffenen BlPoC-Community (Black and People of Color), traf sich inzwischen vorletzte Woche mit dem Zweiten Bürgermeister, Dominik Krause.

Höchste Zeit vielleicht, mal einige Fakten und Merkwürdigkeiten in ihrer Chronologie zusammenzufassen. Aber vorab einige Zwischenbemerkungen. Vor zwei Jahren bekam ich im Rahmen einer Haushaltsauflösung in der Nachbarschaft von Leni Riefenstahls letzter Bleibe ein Konvolut mit Memorabilia in die Hände. Riefenstahl-Bücher mit Widmungen an ihre Nachbarn, Ansichtskarten aus Kenia („Das Wetter ist nicht besonders, aber das Schwimmen in den Wellen macht trotzdem Spaß“ – als wären wir in einer Filmszene aus „Schtonk!“) und den Malediven, eine handschriftliche Notiz ihres Ehemanns Horst Kettner, in der er die Nachbarn in Pöcking von ihrem Tod unterrichtete („nach einem erfolgreichen und erfüllten Leben entschlief …“). Das löste viele Fragen aus: Vernichten? In den Giftschrank damit? Oder verkaufen und die ewiggestrigen Fanboys der Riefenstahl bedienen, damit ihre Flamme der Verehrung weiter lodert?

Als „schwieriges Erbe“ bezeichnet auch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) die Film- und Fotografiebestände, Briefe und Dokumente, die in ihrem Besitz sind, seitdem der vollständige Nachlass Riefenstahls an sie ging. Die ehemalige Sekretärin Leni Riefenstahls und Alleinerbin Gisela Jahn entschied sich für die Stiftung. „Erst sollte alles zur Deutschen Kinemathek gehen“, erzählte Fernsehproduzent Holger Roost-Macias der „Abendzeitung“. „Das wollte Frau Jahn aber nicht, weil der ehemalige Leiter, Rainer Rother, ein ,böses Buch' über Leni Riefenstahl geschrieben hatte.“

Also organisierte der willfährige Roost-Macias die Übergabe des Nachlasses an einen scheinbar politisch genehmeren, weniger bösen Empfänger. Und erhielt selbst mit seiner LaTresor Kreativ-Handelsgesellschaft mbH von Gisela Jahn die kommerziellen Verwertungsrechte für den Nachlass.

Die Deutsche Kinemathek kam dennoch an das Vermächtnis, weil die Stiftung Preußischer Kulturbesitz sie beteiligte. Und als einer der ersten hat Regisseur Andres Veiel („Beuys“, „Black Box BRD“, „Wer, wenn nicht wir?“) den 700 Kisten umfassenden Nachlass auswerten können. Auf den nächste Woche beginnenden Filmfestspielen in Cannes wird Veiel seinen Dokumentarfilm „Riefenstahl“ im Rahmen des Filmmarktes vorstellen: 

„Seit mehr als zwei Jahren beschäftige ich mit dem Nachlass von Riefenstahl. Als ich mit den Recherchen begann, legte ich den Fokus auf unbekannte Dokumente wie Tagebücher, Notizzettel, private Fotos und Filme. Sie machten auf Anhieb neugierig, ermöglichten neue Einsichten jenseits der bekannten Erzählungen. Und doch blieb immer ein Misstrauen: Hat sie bestimmte Materialien gezielt hinterlassen? Rechnete sie damit, dass jemand aus den Dokumenten des Nachlasses einen Film machen würde? Verbaue ich mir mit meiner Skepsis einen unvoreingenommenen Blick? Aber wie kann ich mich einer Protagonistin offen annähern, die sich zeitlebens hinter einem Gestrüpp von Legenden, Halbwahrheiten und Lügen verschanzt hat? 

Je tiefer ich in diese Widersprüche eintauchte, desto klarer wurde mir, dass ich das Material nicht für sich sprechen lassen kann. Anders als in meinen früheren Filmen würde es die Stimme eines Autors brauchen, der das Material einordnet und in Beziehung zu dem setzt, was nicht im Nachlass erhalten ist. In welchen Momenten glaube ich ihr? Welche anderen Materialien aus weiteren Recherchen müssen hinzugezogen werden? Wofür stehen ihre Legenden, wofür braucht sie sie, wofür benutzt sie sie? Und wo weisen sie über sich hinaus? 

Nach dem Krieg steht sie mit der Leugnung jeglicher Mitverantwortung für die NS- Verbrechen stellvertretend für viele im Land. Briefe, mitgeschnittene Telefonanrufe und Notizen von ihr erzählen davon, wie sie ab Mitte der 1970er Jahre eine Projektionsfigur für eine bis dahin schweigende Minderheit wurde, die genug von dem ,Schulddiktat' hatte und forderte, dass nun endlich ein Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit gezogen werden müsste. 

Angesichts solcher Schlüsselszenen von Leugnung und Verdrängung lässt sich ein finales moralisches Urteil über Riefenstahl leicht fällen. Aber die Notwendigkeit, sich mit ihr zu beschäftigen, ist damit nicht erledigt. Zu gegenwärtig sind ihre Bildwelten, in dem mit dem ,Grauen' kokettierenden Pop ebenso wie in der Ikonografie der Neuen Rechten. Und dann in den letzten Monaten auch in den neuen Inszenierungen imperialer Größe, in Moskau, in China und anderswo. 

Heute wie damals geht es in diesen Bildwelten darum zu siegen – über den Zweifel, die Ambivalenz, die vermeintliche Schwäche, das nicht Nicht-Perfekte. Ein Film über Riefenstahl hat für mich damit eine unerwartete Dringlichkeit erfahren.“ 

Und Veiels Produzentin Sandra Maischberger unterstreicht laut dem Branchendienst „Spot“: „Leni Riefenstahls hundertjährige Lebens- und Wirkungsgeschichte ist ein Schlüssel zum Verständnis der Mechanismen von Manipulation, wie sie uns gerade wieder begegnen. Das macht die Reise in die Tiefen ihres Nachlasses nicht nur zu einer wichtigen kulturgeschichtlichen Aufgabe. Ihr Werk zu dechiffrieren heißt, die Ursünde der Filmpropaganda offen zu legen, um sie im Heute wiedererkennen zu können.“

Roost-Macias hat nun seine kommerziellen Verwertungsrechte zu nutzen gewusst. In einer Pop-up-Galerie im Münchner Hofgarten präsentierte er im April eine Verkaufsausstellung mit Leni Riefenstahls Nuba-Bildern. Und zeitlich passend wollte er parallel im Filmmuseum auch seinen Dokumentarfilm „Sehnsucht nach Unschuld“ vorführen, der sich mit Riefenstahls unvollendeten Nuba-Film aus dem Jahr 1963 beschäftigt. (Ein Filmtitel übrigens, der das rassistische Bild des „unschuldigen Wilden“ aufzugreifen scheint.)

Nicht nur eine zeitliche Koinzidenz. In der Pressemitteilung des Filmmuseums („Rathaus-Umschau“ 73/2024 vom 15. April) wird im Rahmen des Veranstaltungshinweises auf den Abend im Filmmuseum zugleich deutlich für die private Verkaufsausstellung geworben: „Eine Fotoausstellung mit ausgewählten Bildern der Nuba von Leni Riefenstahl ist von 10. bis 30. April in der Galeriestraße 6a am Hofgarten in München zu sehen.“ Der Hinweis auf „Ausstellungen oder Buchpublikationen oder andere Veranstaltungen, die in Zusammenhang mit der Filmvorführung stehen“, sei laut dem Filmmuseum „üblich und dient der Transparenz, was den Anlass zur Veranstaltung gegeben hat. Zum Zeitpunkt der Pressemitteilung war dem Filmmuseum nicht bekannt, dass es sich um eine Verkaufsausstellung handelt.“

Roost-Macias' 89-minütiger Dokumentarfilm „Sehnsucht nach Unschuld“ sollte in der Open Scene vom 18. April im Filmmuseum um 19 Uhr gezeigt werden. Danach war eine Podiumsdiskussion terminiert, die laut Roost-Macias bis nach 23 Uhr dauern würde. Nun gibt Riefenstahl sicherlich viel Stoff her, um zweieinhalb Stunden zu streiten. Aber wer saß da auf dem Podium? Schließlich ging es laut der Webseite des Filmmuseums um den „Umgang mit Filmmaterial als zeithistorische Dokumente“, um „die Ästhetik von Leni Riefenstahls Inszenierung der Wirklichkeit“ und ausdrücklich auch um „den kolonialen Blick auf fremde Kulturen“.

Auf der Webseite des Filmmuseums waren bis zuletzt Regisseur Holger Roost-Macias (Jahrgang 1960), der Leiter des Filmmuseums Stefan Drößler (Jahrgang 1961) und der Filmhistoriker Martin Loiperdinger (Jahrgang 1952) angekündigt. Loiperdinger hat 1985 über Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ promoviert.

Keine Frau. Und kein Vertreter der BlPoC-Community, obwohl der „koloniale Blick auf fremde Kulturen“ Gesprächsthema sein sollte und viele Leni Riefenstahls Nuba-Bilder als rassistisch, sexistisch und kolonialistisch empfinden.

Der Aufstand ließ nicht lange auf sich warten, kam aber dennoch spät, weil die betroffenen Münchner Communities überhaupt erst aus einem Vorbericht der „Abendzeitung“ am 10. April von der geplanten Veranstaltung erfuhren. Am 12. April gab es eine gemeinsame Pressemitteilung vom Netzwerk Rassismus- und Diskriminierungsfreies Bayern, dem Migrationsbeirat München, dem Netzwerk der Münchner Migrantenorganisationen MORGEN e.V. und weiteren Vertreter*innen der Schwarzen Community. 

„Diese Bilder verkörpern ein rassistisches, sexistisches und kolonialistisches Weltbild, das von den Nationalsozialisten, wie zu erwarten war, geprägt wurde, und erinnern an die schwer zu ertragenden Völkerschauen, die in Deutschland stattgefunden haben. Dies darf nicht reproduziert werden“, kritisierte man in einer Pressemitteilung primär die Verkaufsausstellung im Hofgarten und rief zu einer Protestkundgebung am 13. April auf.

„Die Repräsentation der Nuba aus dem Sudan (noch dazu durch eine geplante Filmvorführung im Filmmuseum) durch diese voyeuristischen und sexualisierten Darstellungsweisen der dem Nationalsozialismus zugewandten Fotografin und Filmemacherin Leni Riefenstahl zementieren kolonialrassistische Vorstellungen, um so bedenklicher ist die Kommerzialisierung dieser Bilder. Diese Art der NS-Ästhetik geht auf Kosten der Würde von Menschen afrikanischer Herkunft“, so Modupe Laja von der Black Community in München und vom Netzwerk Rassismus- und Diskriminierungsfreies Bayern.

„Diese Form kulturalisierender rassistischer Reproduktion erinnert an vergangene Menschenzoos, sogenannte Völkerschauen, die in Deutschland stattgefunden haben“, sagt Fadumo Korn von der Black Community in München und fährt fort: „Im kolonialen Kontext war es leider gang und gäbe, dass Afrikaner*innen und schwarze Menschen als “exotische und minderwertige Wilde” abgebildet und beschrieben wurden. Noch heute werden weiterhin, aus Kolonialnostalgie, Schwarze Menschen sexualisiert und exotisiert – wie es eben auch in dieser Ausstellung der Fall ist.“ 

 „In einer Zeit, in der wir einen erstarkten Rassismus, Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft bekämpfen müssen, ist es die Pflicht von uns allen, jeder Reproduktion dieser Gesinnung ein Stopschild zu zeigen und einen Beitrag dafür zu leisten, dass solche Phänomene keinen Nährboden bekommen“, so Hamado Dipama vom Vorstand des Netzwerk Rassismus- und Diskriminierungsfreies Bayern. 

„Wir appellieren an dieser Stelle für mehr Zivilcourage, damit Rassismus in unserer weltoffenen Stadt München nicht geduldet wird, denn es gefährdet das friedliche Miteinander und die Demokratie“, so Dimitrina Lang, Vorsitzende des Migrationsbeirat der Stadt München.

Dem Protestaufruf folgten keine 100 Menschen vor den Räumen der Pop-up-Galerie im Hofgarten (zeitgleich gab es in München eine große Pro-Choice-Demo). Roost-Macias (erstes Bild ganz oben) stellte sich der Kundgebung. Und auch wiederum nicht. Denn auf kritische Redebeiträge reagierte er mit der Frage nach der Rasse: Ob die betroffene Person denn selbst Nuba sei? Als ob man im Sinne der Nürnberger Gesetze sich erst rassisch das Recht auf Kritik verdienen müsste.

Während der Veranstaltungshinweis auf der Webseite des Filmmuseums unverändert blieb, enthielt die „Rathaus-Umschau“ vom 15. April eine bemerkenswerte Korrektur: Statt dem Chef des Filmmuseums Drößler sollte nun plötzlich Ray Müller (Jahrgang 1948) an der Podiumsdiskussion teilnehmen, Regisseur der Riefenstahl-Dokumentation „Die Macht der Bilder“. Laut dem Filmmuseum handelt es sich dabei um einen Fehler. Drößler sei weiterhin als Moderator der Diskussionsrunde vorgesehen gewesen, Müller immer schon angefragt, aber nicht bestätigt.

Doch zu der Veranstaltung kam es nicht mehr. Am 17. April reagierte das Filmmuseum auf die Proteste und sagte die für den folgenden Tag geplante Veranstaltung ab: Das Stadtmuseum München samt des dazugehörigen Filmmuseums hätten „großes Interesse daran, ein Forum für die ganze Stadtgesellschaft zu sein und aktuellen gesellschaftlich relevanten Themen und Debatten Raum zu geben.“ Aus diesem Grund lud es nun doch noch die BlPoC-Akteur*innen ein, „um sich in einem persönlichen Gespräch über mögliche Präsentationen und Kontextualisierungen auszutauschen“

„Als Kulturinstitution der Landeshauptstadt München ist dem Münchner Stadtmuseum und dem dazugehörigen Filmmuseum München eine antirassistische und diskriminierungskritische Repräsentationspolitik wichtig.“ Umso „bedauerlicher“ sei es, „dass es uns im Vorfeld des Screenings nicht gelungen ist, Perspektiven der Black Community von Anfang an einzubeziehen“.

Auf meine wiederholte Nachfrage hin schrieb mir das Filmmuseum Ende April, dass „ein persönliches Gespräch zwischen der Leitung des Filmmuseums, des Münchner Stadtmuseums und Vertreter*innen der am Protest beteiligten Gruppen in Planung“ sei. „Dies bedarf einiger Vorbereitungs- und Abstimmungszeit.“ Oder wie eine Beteiligte auf der Gegenseite mir gegenüber meinte: „Die Reaktionszeit der Presse ist da schneller als Prozesse in der Verwaltung.“ 

Für eine Beschleunigung sorgt da vielleicht, dass die Aktivist*innen auf den Zweiten Bürgermeister der Landeshauptstadt, Dominik Krause, zugegangen sind und sich mit ihm getroffen haben. Krause habe laut seinem Büro daraufhin „ein Gespräch zwischen Aktivist*innen und Filmmuseum/ Stadtmuseum unter Federführung der Kulturreferats angeregt“.

Mal sehen, was dabei herauskommt. Das von mir erwähnte Riefenstahl-Konvolut aus ihrer Pöckinger Nachbarschaft enthielt übrigens noch eine Überraschung: ein Führerbild. 

Update vom 23. Juli 2024: Regisseur Andres Veiels neuer Film „Riefensthal“ feiert seine Weltpremiere im Wettbewerb (außer Konkurrenz) der 81. Internationalen Filmfestspiele von Venedig.

Update vom 17. Oktober 2024: Was München selbst über fünf Monate später nicht einmal annähernd hinbekommen hat, steht jetzt in Berlin auf dem Programm: Wie blicken die Nuba heute auf Leni Riefenstahls Fotografien und was bedeutet das für den Umgang in der Zukunft? Diesen Fragen widmet sich das interdisziplinäre Symposium „Deutsch-Sudanesische kollaborative Erschließung und Präsentation des Nuba-Werks von Leni Riefenstahl“ der Stiftung Preußischer Kulturbesitz am 25. und 26. Oktober.

Update vom 27. Oktober 2024: In einem Interview mit der „Abendzeitung“ vom Wochenende zieht Produzentin Sandra Maischberger eine Linie von den Riefenstahl-Fans der 1970er- bis 1990er-Jahre zu rechten Umtrieben und Schwurblern heute:
»Riefenstahl genoss bei ihren Talkshowauftritten großen Rückhalt in der Bevölkerung. Tatsächlich war das für mich einer der schwierigsten Momente. Ich weiß noch, dass ich an diesem Tag leicht benommen aus dem Schneideraum gegangen bin. Die Kollegen haben erst einmal viel von dem hintereinander geschnitten, was sie an Stimmen auf diesen Tonbändern gefunden hatten. Das war mehr als eine halbe Stunde, nur ein Ausschnitt, aber dennoch grauenhaft. 
Angefangen beim SS-Mann, der sagte, sie wären doch alle Idealisten gewesen, über den Panzerbauer, der immer noch stolz über seine „Kinder“ redete. Es haben aber auch junge Menschen angerufen und gesagt, sie wollen zur Kenntnis geben, dass ihre Generation hinter ihr stehe. Zu einem Arbeiter sagte sie, er solle seine Komplimente für sie auch gleich als Leserbrief an die Zeitungen schreiben. 
In Teilen war das hasserfüllt ‒ das, was wir heute „Hate Speech“ nennen: „Ich verachte diesen Scheißstaat“, oder „Lassen Sie sich von diesen Schweinen nicht unterkriegen.“ Das klang damals schon so wie heute Facebook oder X. In dieser Hinsicht war es ein Blick in unsere Gegenwart.«

Update vom 28. Oktober: „Die Feier des Schönen und Starken geht immer mit der Verachtung, des Fremden, Schwachen und Anderen einher, letztlich mit seiner Vernichtung.“ Regisseur Andres Veiel im „Tagesspiegel“ vom 29. Oktober 2024.  

Fotos: Dorin Popa (3) Kontaktbogen aus dem Bestand von Heinrich Hoffmann, Bayerische Staatsbibliothek/ Bildarchiv

Montag, 6. Mai 2024

Wochenplan (Update)

Symposium „Legende und Realität. Max Beckmann in der Zeit des Nationalsozialismus“ / Pinakothek der Moderne; DOKfest: „Catching Fire: The Story of Anita Pallenberg“ / HFF & City, „Norwegian Democrazy“ / NS-Dokumentationszentrum, City & Rio und „A Hip Hop Minute“ / City, HFF & Pasinger Fabrik; Philly Cheesesteak Day / American Burger Bar Sportpark Unterhaching; Inbetriebnahme der restaurierten historischen Brunnen vor der Ludwig-Maximilians-Universität / Geschwister-Scholl- & Professor-Huber-Platz; Eröffnung des Biotop-Projekts Haindling; Feierliche Eröffnung der Bayerischen Landesausstellung „Tassilo, Korbinian und der Bär – Bayern im frühen Mittelalter“ / Diözesan-Museum Freising; Münchner Premiere von „Deine schöne Hölle“ in Anwesenheit von Detlef Bothe & Ariella Hirshfeld / Monopol; John Mulaneys Live-Shows „Everybody's in L.A.“ / Netflix; Media Meets Tourism / MedienNetzwerk Bayern; Pressekonferenz zur Munich Creative Business Week / Steelcase; Presselunch zur Jubiläumsauktion „70 Jahre Ketterer“ / Ketterer; Dialog Pop – Fachkonferenz zur Förderung der Populärmusik / Degginger Regensburg; Verleihung der Bayerischen Staatsmedaille für soziale Verdienste an Maria Furtwängler u. a. / Allerheiligen-Hofkirche; Podiumsgespräch „Rotspanier und die Internationalen Brigadisten: das Wiedersehen in Dachau“ / Instituto Cervantes; Fünfjähriges der Lesereihe Lix – Literatur im HochX mit Joana Osmon, Paula Fürstenberg & Jeff Chi / HochX; Eurovision Song Contest Halbfinale & Finale / One & ARD; „Challenge(d) Bodys“ – Aktionstag Respekt der Münchner Kunsthochschulen / Theaterakademie August Everding; Pressekonferenz zur Bayern-Allianz gegen Desinformation / Bayerisches Digitalministerium; IT-Ausschuss / Rathaus; Podiumsdiskussion „Unter Druck: Wie schützen wir Europas Demokratie?“ mit Wolfgang Bücherl, Charlotte Knobloch, Sergey Lagodinsky, Ursula Münch und Richard Volkmann / Jüdisches Gemeindezentrum; Vernissagen „The Myth of Normal“ / Kunstverein Salzburg und „724. Männer. Macht. Geschichten.“ / Diözesanmuseum Freising; Vatertagsboxen des TSV 1860 München / Festzelt Trudering; Erstes alkoholfreies Weinfest / Schweinfurt; „Mosi – The Bavarian Dream“ / Marstall; München liest aus verbrannten Büchern / Königsplatz; LaBrassBanda / Single-Release-Tour vom Weißen Bräuhaus über Tegernseer, Pschorr, Ayinger am Platzl und Hofbräuhaus bis Augustiner am Platzl;  Buchvorstellung von Walter Rodneys „Wie Europa Afrika unterentwickelte“ mit Bafta Sarbo / Bellevue di Monaco; Sharon / Glockenbachwerkstatt; Burning Issues meets Theatertreffen / Sophiensäle, Haus der Festspiele & Deutsches Theater Berlin; „Warum der rote Boden?“ / Gorki; Record-Release-Party von Larys „Stereo Noir“ (Foto) / Julia Stoschek Foundation; Theatertreffen Berlin: „Bucket List“ / Schaubühne und Verleihung des Theaterpreises Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung an Nele Hertling / Haus der Festspiele

(Foto: larypoppins/Instagram)

Samstag, 4. Mai 2024

A scheene Leich

Der Ausdruck a scheene Leich bezieht sich ja gemeinhin weniger auf die Körper der zu Grabe zu tragenden Toten, denn auf das Drumrum, die Trauerfeier, zu der sich alle aufgebrezelt haben. Und so ist es auch für mich der einzige, wenn aber auch sich zunehmend häufende Anlass, ausnahmsweise Anzug oder zumindest Sakko und Schlips zu tragen.

Ich fühle mich darin eher nicht wohl, aber bei den anderen scheint es gut anzukommen. Ein Selfie, das mich vorgestern in der U6 auf dem Weg zum Waldfriedhof zeigt, brachte in den Sozialen Medien mehr Klicks und Komplimente als jedes andere meiner Selfies.

Der modische Aufwand hält sich in Grenzen: Den Anzug von Cinque habe ich Anfang der 1990er-Jahre in Berlin gekauft, als ich oder vielmehr meine Freundin zu einer Hochzeit eingeladen war. Die Krawatte stammt vom Rotkreuz-Flohmarkt auf der Theresienwiese. Das Hemd von C&A, wo es nicht nur preiswerter ist, sondern noch geschulte Verkäufer einen Garderoben-Verweigerer wie mich fachmännisch und geduldig beraten. Ich würde ja schon an der Größenangabe scheitern, wenn es nicht in L oder XL formuliert ist.

Nicht im Bild die schwarze 501 und die schwarzen Chucks.

Filmpreis 2024 – Lolas Absturz in den Partykeller

Eine der schönsten Nachrichten letztes Jahr war, dass Samira El Ouassil mit dem Michael-Althen-Preis ausgezeichnet wurde. Um so mehr hatte ich mich auf den Deutschen Filmpreis 2024 gefreut, als bekannt gegeben wurde, dass sie gemeinsam mit Lars Jessen die künstlerische Leitung des Abends übernähme. Nun, die Ernüchterung kam gestern Abend. Selbst Samira El Ouassil gelingt nicht alles.
Ein langatmiger Abend mit einem halben Dutzend verloren wirkenden Moderator*innen rund um einen Tresen – bei mir löste das Erinnerungen an triste Obermenzinger Partykeller in den 1970er-Jahren aus. Mittendrin Jürgen Vogel als „Hausmeister“, der zu Beginn viel versprach: „Spürt ihr das, was für eine Energie. Die Kraft des Schaffens, des Scheiterns, der Liebe“, bevor er sich hinter den Tresen verzog, um fernzusehen. Was blieb, war nur das Scheitern.
Wenn, ja wenn nicht trotz all der schlecht geskripteten Show das Politische, Ayşe Polat, Margot Friedländer und eine phänomenale Hanna Schygulla gewesen wären. Ayşe Polat, deren deutsch-kurdisches Drama „Im toten Winkel“ für das beste Drehbuch und die beste Regie ausgezeichnet wurde sowie die bronzene Lola für den besten Spielfilm erhielt, packte schon in ihre erste Dankesrede eine Forderung, die man sich auch für die Veranstaltung gewünscht hätte: „Neue Erzählformen sind wichtig, weil sie neue Denk- und Fühlräume schaffen.“ Stattdessen war die Preisverleihung ein kraftloser, fader Fernsehabend. Abbild eines Deutschlands, das einem Darsteller von „Im toten Winkel“, Ahmet Varli, die Teilnahme an der Lola-Show versagte, weil man ihm das Einreisevisum verwehrte, wie Polat auf der Bühne beklagte.
Der Deutsche Filmpreis als Veranstaltung nur für Deutsche?
„Es gibt kein christliches oder arabisches Blut“, mahnte Margot Friedländer in einem Gastauftritt, „es gibt nur menschliches Blut“. Sie erinnerte daran, dass unter den Nazis nicht nur Juden verfolgt wurden, sondern auch politisch Andersdenkende, Homosexuelle, Sinti, Roma, kranke Kinder, alte Menschen und viele weitere ermordet wurden. Und wandte sich an den Saal: „In diesem Raum sitzen ganz viele Geschichtenerzähler. Ihr habt die Kraft, mit Filmen Geschichten zu erzählen, damit so etwas nie wieder passiert.“ 
Die mit dem Ehrenpreis gefeierte Hanna Schygulla (Foto) zeigte sich auch sehr „beunruhigt, was sich auf deutschem Boden tut und nachwächst". Etwa, dass sehr viele junge Erstwähler sich für die AfD entscheiden. Jemand, der das alles erklären könnte, wäre Alexander Kluge, dem Schygulla einige Worte widmete: „Er ist nicht einer der Aufgeschlossensten, aber er hat viel zu sagen. Bloß wann, wo?“, wunderte sie sich. Früher hätte er sogar seinen eigenen Sender gegründet, doch jetzt höre man von ihm nichts mehr.
Sie selbst kokettierte damit, sich keine Texte mehr merken zu können, um kurz darauf beiläufig anzumerken, dass sie im Oscar-prämierten „Poor Things“ mitgespielt hätte. Und die Auszeichnung quittierte sie mit einem: „So viel Ehre. Früher konnte ich das Wort überhaupt nicht leiden. Aber heute fühle ich, dass es mir auch guttut.“ Es war ein zwischen Slapstick und Melancholie oszillierender Auftritt, halb Diva, halb Derwisch im destruktiven Ringen mit dem Mikrofon. 
„Aber das Glück ist auch nicht immer lustig“, zitierte Schygulla schließlich Rainer Werner Fassbinder. Was man auch über diesen Lola-Abend sagen kann. Nur ohne dass ihn Fassbinders Genialität gestreift hätte.

(Foto: Eventpress/Deutsche Filmakademie)