Nirgendwo wird so konsequent gelogen wie bei Statistiken. Aber Wahlprognosen toppen es locker, wenn auch nicht bei den Zahlen, sondern beim Drumherum. Wenn ich nun drei Wochen lang zu dem Thema geschwiegen habe, bedeutet das keineswegs, daß ich es beiseite gelegt hätte. Schließlich haben wir ein
„Superwahljahr“ (ZDF) – und wenn ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender dieses
„Jahr der Richtungswahlen“ als
„Jahr der Realitäten und der Wahrheiten“ plant, will ich nicht nachstehen.
Die Ausgangssituation: Aus Exit Polls, Wahlnachfragen resultierende Prognosen dürfen in Deutschland nicht vor Schließung der Wahllokale veröffentlicht werden.
Fakt: Aufgrund eines politischen wie journalistischen Gewohnheitsrechts zirkulieren diese Prognosen dennoch bereits Stunden vorher in den Redaktionen und Parteien, oder um
XXXX einen Kollegen zu zitieren:
„Einige Medien (und im Übrigen auch Politiker) bekommen vertraulich aber schon früher die Prognosen, die auf den sogenannten Wahl-Nachfragen vor den Wahllokalen beruhen.“ (Updates: Der zitierte Kollege bat im Nachhinein, seinen Namen zu verschweigen, denn:
„Ein bisschen heikles Thema. Ich gehe deshalb davon aus, dass Sie auch mich bitte nicht öffentlich zitieren.“ Er könne schließlich nicht offiziell für seine Zeitung sprechen.)
Kurios: Die meisten Beteiligten leugnen das hartnäckig.
Nun kannte offenbar bild.de bei der Hessenwahl am 18. Januar nicht nur eine Wahlprognose, sondern veröffentlichte diese unglücklicherweise bereits vor Schließung der Wahllokale. Der hessische Landeswahlleiter sieht aber nicht zwingend eine Ordnungswidrigkeit, da schließlich die validen Exit Polls zu der Zeit gar nicht verfügbar gewesen wären. Die Forschungsgruppe Wahlen gestand dann aber, daß sie den Tag über ihre exklusiv fürs ZDF erarbeiteten Zahlen mit Politikern austauscht und ausgewählten Journalisten vor Schließung der Wahllokale zur Verfügung stellt. Das ZDF will davon nichts gewußt haben. Bei der ARD ist nach ersten Dementis noch ein Gespräch mit dem Wahlexperten Jörg Schönenborn anhängig, die exklusiv für sie tätigen Wahlforscher von infratest dimap haben aber bisher jeden Informationsfluß abgestritten und äußern sich nicht mehr in der Sache (
BILDblog, Tivoli-Blog
1,
2,
3).
Wer weiß wann was – und warum bestreiten dies alle auf erste Nachfrage und knicken erst später ein? Mit diesem Mantra widme ich mich in den kommenden Monaten vergangenen Wahlen und den bevorstehenden Urnengängen am 7. Juni (Europawahl), 30. August (Saarland, Sachsen, Thüringen) und 27. September (Bundestag, Brandenburg).
Zwischenzeitlich hat mir der hessische Landeswahlleiter am 5. Februar bestätigt, daß er unter dem Aktenzeichen II 1 - 3e06.30 prüft,
„ob der Vorgang Veranlassung gibt, ein förmliches Ordnungswidrigkeitsverfahren einzuleiten. (...) Ich weise nochmals darauf hin, dass eine Ordnungswidrigkeit nur dann vorliegt, wenn es sich um die Veröffentlichung von 'Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe' handelt. Meine diesbezügliche Anfrage hat BILD digital bisher nicht beantwortet.“
Updates: „Was macht die Demokratie aus? Daß wir eine mißliebige Regierung ohne Blutvergießen wieder loswerden können, so schrieb vor fast 65 Jahren Karl Popper. Und der Wahlakt, durch den sich die Willensäußerung des demokratischen Souveräns vollzieht, ist folglich ein bis ins letzte Detail reglementiertes Verfahren.“ Oder auch nicht. Die
Wissenswerkstatt greift mein Thema auf.
Mit Schreiben vom 3. März teilt mir der Landeswahlleiter
mit, daß er keine Anhaltspunkte für eine Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen die BILD-Gruppe sähe.
Verdächtige Tweets bei der
Europawahl und im „Spiegel“ werden
Bedenken hinsichtlich herausgetwitterter Exit-Polls bei den kommenden Bundestagswahlen geäußert.
Antonia Beckermann in der
„Welt“ vom 24. August über die Angst der Politnomenklatur vor herausgetwitterten Exit Polls der Bundestagswahl 2009.
Beobachtungen vom 30. August anläßlich der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und dem Saarland sowie der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen (Spiegel Online: „Prognosen-Verrat: Wahlergebnisse sickerten vorab auf Twitter durch“).
(Grafik: ZDF/Forschungsgruppe Wahlen)